Gottfried Keller
Der grüne Heinrich
Gottfried Keller

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16

Der Tisch Gottes

Etwa ein Jahr später besorgte ich die Kanzlei eines kleinen Oberamtes, welches an dasjenige grenzte, worin das alte Heimatdorf lag. Hier konnte ich bei bescheidener und doch mannigfacher Wirksamkeit in der Stille leben und befand mich in einer Mittelschicht zwischen dem Gemeindewesen und der Staatsverwaltung, so daß ich den Einblick nach unten und oben gewann und lernte, wohin die Dinge gingen und woher sie kamen. Allein sie vermochten die Schatten nicht aufzuhellen, die meine ausgeplünderte Seele erfüllten, und weil alles, was ich wahrnahm, durch die Düsternis gefärbt wurde, so erschienen mir auch die Menschlichkeiten, denen ich auf dem neuen Gebiete begegnete, dunkler, als sie an sich waren. Wenn ich sah, daß auch hier die Neigung zum Nachlassen und zur Pflichtvergessenheit zum Vorschein kam, oder jeder die Wässerlein auf seine Mühle zu leiten suchte; daß Neid und Eifersucht auch in den kleinsten Amtsverhältnissen störend sich einnisteten, so war ich geneigt, das Übel dem Charakter des ganzen Volkes und Gemeinwesens zuzuschreiben, das in der Erinnerung und aus der Entfernung mich so täuschend angelockt habe. Wenn ich aber meines belasteten Bewußtseins gedachte, so schwieg ich, anstatt bei guter Gelegenheit meine Meinung offen herauszusagen. Ich begnügte mich, meine Obliegenheiten so regelmäßig und geräuschlos als möglich zu erfüllen, um die Zeit zu verbringen, ohne Unruhe, aber auch ohne Hoffnung eines frischeren Lebens. Das hielten nun die Leute für das Muster einer ordentlichen Amtsführung, und da sie besser und wohlwollender waren, als ich dachte, so machten sie mich nach ein paar weiteren Jahren, ohne mein Zutun und gegen meinen Wunsch, zum Vorsteher des Amtskreises. In dieser Stellung konnte ich nicht umhin, mehr unter die Leute zu gehen und an Zusammenkünften verschiedener Art teilzunehmen, immer als der ziemlich melancholische und einsilbige Amtsmann, der ich war. Jetzt lernte ich, da ich die politische Bewegung im großen und mehr in der Nähe sah, ein Übel kennen, das mir wirklich neu, obgleich es zum Glücke nicht gerade herrschend war. Ich sah, wie es in meiner geliebten Republik Menschen gab, die dieses Wort zu einer hohlen Phrase machten und damit umherzogen, wie die Dirnen, die zum Jahrmarkt gehen, etwa ein leeres Körbchen am Arme tragen. Andere betrachteten die Begriffe Republik, Freiheit und Vaterland als drei Ziegen, die sie unablässig melkten, um aus der Milch allerhand kleine Ziegenkäslein zu machen, während sie scheinheilig die Worte gebrauchten, genau wie die Pharisäer und Tartüffe. Andere wiederum, als Knechte ihrer eigenen Leidenschaften, witterten überall nichts als Knechtschaft und Verrat, gleich einem armen Hunde, dem man die Nase mit Quarkkäse verstrichen hat und der deshalb die ganze Welt für einen solchen hält. Auch dies Knechtschaftswittern hatte einen gewissen kleinen Verkehrswert, doch stand das patriotische Eigenlob immerhin noch höher. Alles zusammen war ein schädlicher Schimmel, der ein Gemeinwesen zerstören kann, wenn er zu dicht wuchert; doch befand sich die Hauptschar in gesundem Zustande, und sobald sie sich ernstlich rührte, stäubte der Schimmel von selbst hinweg. Ich dagegen sah in meiner kranken Stimmung den Schaden des Unechten zehnmal größer, als er war, und schwieg dennoch, anstatt den falschen Schwätzern auf die Füße zu treten; damit verschwieg ich auch manches, was ich mit wirklichem Nutzen hätte sagen können.

Ich fühlte, daß das kein Leben hieß und so nicht fortgehen könne, und begann, darüber zu brüten, wie aus dieser neuen Gefangenschaft des Geistes herauszukommen sei. Zuweilen regte sich, und immer vernehmlicher, der Wunsch, gar nicht mehr da zu sein.

Eines Tages hatte ich mehrere Stunden auf den Straßen meines Verwaltungsbezirkes zugebracht, um in Begleitung des Baumeisters den Zustand derselben zu untersuchen. Nach verrichtetem Geschäfte trennte ich mich von dem Manne, da ich das Verlangen spürte, noch einen Gang in Einsamkeit zu machen. So gelangte ich in ein enges abgeschiedenes Tal zwischen zwei grünen Berglehnen, wo es so still war, daß man die Luft in entfernten Baumwipfeln konnte säuseln hören. Auf einmal erkannte ich das Tal als zu der Heimatgegend gehörig, obgleich es so schlicht von Gestaltung war, daß es nirgends eine eigentümliche Form darbot, und kein menschliches Gebäude zeigte sich dem Auge.

Ungefähr in der Mitte des Weges, der das Tälchen durchschnitt, warf ich mich an eine kleine begrünte Erdwelle und überließ mich der schmerzlichen Erinnerung an alles, was ich schon gehofft und verloren, geirrt und verfehlt hatte. Auch zog ich Dorotheens grünen Zettel einmal wieder hervor, der noch immer zwischen einer Falte meiner Schreibtafel steckte. »Hoffnung zeigt sich immerdar treugesinnten Herzen gütig!« las ich und wunderte mich, daß ich das falsche Wechselchen noch bei mir trug. Da eben ein schwacher Luftzug dicht über der sommerwarmen Erde hinwallte, ließ ich es fahren, und es flatterte gemächlich über Gras und Heideblumen weg, ohne daß ich ihm weiter nachblickte.

Am besten wäre es, dachte ich, du lägest unter dieser sanften Erdbrust und wüßtest von nichts! Still und lieblich wäre es hier zu ruhen!

Nach diesem mir nicht mehr neuen Seufzer ließ ich die Augen von ungefähr an der gegenüberliegenden Berghalde schweifen, an deren halber Höhe ein Felsband von grauer Nagelfluhe zutage trat. Ebenso von ungefähr sah ich eine leichte Gestalt von der gleichen grauen Farbe längs dem Felsbande hingleiten oder schweben, und da die Halde von der Abendsonne beleuchtet war, so sah man gleichzeitig auch den Schatten der Gestalt an der Wand mitgleiten. Ich wußte, daß ein schmaler Pfad dort das Felsgesimse entlang lief, und verfolgte mit den Augen die Erscheinung, die sich mit einem sichtlichen Rhythmus bewegte, der mich an ein irgendwo schon Gesehenes erinnerte. Als die Gestalt, die unverkennbar eine weibliche war, das Ende der Felswand erreicht hatte, wandte sie sich und kehrte denselben Weg wieder zurück; es sah aus, als ob der Geist des Berges aus dem Gestein herausgetreten wäre, um im Abendschein auf und ab zu wandeln.

Froh, meine schweren Gedanken ein wenig zu verscheuchen, erhob ich mich, ging über den Weg und drang, durch das Gehölz empor, das den Fuß der jenseitigen Berglehne bekleidete bis unterhalb der Nagelfluhe, an welcher der Pfad hinführte. In wenigen Minuten hatte ich diesen erreicht. Man blickte dort aus dem Tale hinaus und sah in der Ferne einerseits die Ortschaft im Abendlichte schimmern, wo mein Amtssitz lag. Dieser Aussicht zugewendet, sah ich die Gestalt an jenem Ende des Felsbandes stehen und hinüberschauen. Dann kehrte sie sich abermals und kam den Weg zurück, gerade mir entgegen. Kaum war sie mir etwas näher, so erkannte ich die Judith, von der ich seit zehn Jahren nicht ein Wort vernommen, trotz der fremdartigen Tracht, in die sie gekleidet war. Statt der halbländlichen Tracht, in der ich sie zuletzt gesehen, trug sie jetzt ein Damenkleid von leichtem, grauem Stoffe und einen grauen Schleier um Hut und Hals gewickelt, alles aber so ungezwungen, ja bequem, daß man sah, ihre ungebrochenen Bewegungen hatten sich in einem reichlicheren und breiteren Faltenwurfe von selbst Raum verschafft, ohne daß sie im mindesten schlotterig oder auch eckig ausgesehen hätte. In jenem Augenblicke stellte ich natürlich derartige Beobachtungen nicht an; sie erklären nur den Eindruck, welchen die unverhoffte Erscheinung auf mich hervorbrachte.

An dem Gesichte hatten die zehn Jahre keine andere Veränderung bewirkt, als daß es selbstbewußter geworden und durch einen sibyllenhaften Anhauch eher veredelt als entstellt war. Erfahrung und Menschenkenntnis lagerten um Stirn und Lippen, und doch leuchtete aus den Augen noch immer die Treuherzigkeit eines Naturkindes.

So sah ich sie, die Augen erstaunt auf sie gerichtet, mir nahe kommen und die Schritte verlangsamen, als sie meiner ansichtig wurde. Mein Anblick mußte sich mehr verändert haben als der ihre; denn sie schien unschlüssig, ging jetzt etwas rascher und hielt doch wieder an sich, im Begriff, an mir vorüberzugehen. Dadurch wäre ich beinah auch unsicher geworden, und erst als ich ganz dicht vor ihr stand auf dem schmalen Pfade, konnte ich nicht mehr irren und rief: »Judith!«

Aber gleichzeitig überflog eine unvorstellbare und doch unbeschreiblich milde Freude ihr schönes Gesicht; meine Hand lag in ihrer warmen festen Hand und nach alter Volkesweise öffnete sie dieselbe nicht so bald.

»Sind Sie es?« sagte sie, ohne meinen Namen zu nennen, und ich wagte auch nicht, den ihrigen zu wiederholen, da ich noch weniger wußte, wie ich sie eigentlich nennen sollte; denn es war durchaus nicht wahrscheinlich, daß eine solche Person allein geblieben sei. Ich fragte daher unbeholfen nur, wo sie herkomme.

»Aus Amerika!« erwiderte sie, »seit vierzehn Tagen bin ich hier!«

»Wo hier? In unserm Dorf?«

»Wo anders denn? Ich wohne im Wirtshaus, da ich sonst niemanden mehr habe!«

»Sind Sie allein da?«

»Gewiß; wer soll bei mir sein?«

Ohne daß ich irgendwie weiter dachte, machte mich diese Antwort glücklich; Jugendglück, Heimat, Zufriedenheit, alles schien mir seltsamerweise mit Judith zurückgekehrt, oder vielmehr aus dem Berge herausgewachsen zu sein. Indessen waren wir ohne Plan auf dem Pfade weitergegangen, bald dicht aneinander gedrängt, bald eins hinter dem andern, wie es der Raum erlaubte.

»Wissen Sie, wo ich Sie das letztemal gesehen habe?« sagte sie jetzt, indem sie sich nach mir zurückwandte, »als ich auf einem Wagen aus dem Lande fuhr und Sie als Soldat auf dem Felde standen in einer kleinen Reihe von Leuten. Da drehtet ihr euch alle wie an einer Schnur gezogen plötzlich um, und ich dachte: Den bekommst du nie mehr zu sehen!«

Ein Weilchen gingen wir schweigend; dann fragte ich, wo sie denn hingehen wolle und ob ich sie eine Strecke begleiten dürfe.

»Ich habe nur einen Spaziergang gemacht«, sagte sie, »und denke, ich muß jetzt wieder nach Haus. Würde es Ihnen zu weit sein, mit mir bis ins Dorf zu gehen?«

»Ich komme gern mit Ihnen und will in Ihrem Wirtshause zu Nacht essen«, antwortete ich, »nachher lasse ich mich in des Wirts kleinem Fuhrwerk heimführen; denn von dort sind es drei gute Wegstunden.«

»O das ist schön von Ihnen! Ich hatte doch heute früh schon eine Ahnung, daß mir etwas Gutes geschehen würde, und nun ist der Heinrich Lee bei mir, der Herr Vetter und Oberamtmann!«

Wir fanden bald einen breiteren Weg und wanderten in traulichem Geplauder nach dem Dorfe; aber noch eh wir dasselbe erreichten, hatten wir uns unbewußt zu duzen angefangen, was wir als Blutsverwandte auch füglich tun durften. Das erste Haus, an dem wir vorübergingen, war das meines verstorbenen Oheimes; aber es waren fremde Leute darin, seine Kinder waren zerstoben. Kleine fremde Kinder liefen uns nach und riefen: »Die Amerikanerin!« Einige boten ihr ehrfürchtig die Hand, und sie schenkte ihnen kleine Münzen. Als wir bei ihrem Hause vorbeikamen, standen wir einen Augenblick still. Der jetzige Besitzer hatte es umgebaut, aber der schöne Baumgarten, wo sie einst Äpfel pflückte, stand unverändert. Sie warf nur einen halben Blick auf mich, schlug ihn dann nieder und errötete sanft, indem sie eilig weiterschritt. Da sah ich, daß dieses Weib, das die Meere durchschifft, sich in einer neuen werdenden Welt herumgetrieben und zehn Jahre älter geworden, zarter und besser war als in der Jugend und in der stillen Heimat.

Das nennt man Rasse, würden rohe Sportsleute sagen! dachte ich bei dem lieblichen Anblick.

Im Wirtshause angekommen, wunderte ich mich, mit welcher Umsicht und geräuschlosen Sorgfalt, mit wenig Worten, sie eine gute Bewirtung anzuordnen wußte und so aufmerksam für mich sorgte, wie ein Hausmütterchen. Das ließ mich vermuten, daß sie in Amerika ihre Zeit in Städten und guten Häusern zugebracht habe; allein die Erzählungen und Schilderungen ihres Schicksals, die sie während des Nachtessens mit anmutiger Laune mir sowohl als den mit zuhorchenden Wirtsleuten zum besten gab, deuteten im Gegenteil darauf hin, daß sie im Kampfe mit der Not der Menschen, und indem sie ihre Auswanderungsgenossen geradezu erziehen und zusammenhalten mußte, sich selbst notgedrungen veredelt und höher gehoben hatte.

Als sie nämlich mit ihren Landsleuten an Ort und Stelle der Ansiedlung gelangt und andere dazu gestoßen waren, zeigte sich fast die ganze Gesellschaft als nicht ausdauernd und ungeschickt bei Widerwärtigkeiten, sowie sich auch die übrigen Eigenschaften, welche die Auswanderung veranlaßt, nicht sogleich verloren. Judith, als die meisten Mittel besitzend, hatte den größten Teil des Bodens angekauft; sie ließ jedoch ihr Land von den andern benutzen und begnügte sich, eine Art Handelskontor für die verschiedenen Bedürfnisse der kleinen Kolonie zu führen. Wie sie aber sah, daß die Genossen sie am Schaden ließen und sie verarmen würde, änderte sie das Verfahren. Sie zog ihr Land wieder an sich, ließ es um den Tagelohn von denen bearbeiten, die für eigene Rechnung zu träg dazu gewesen, und so brachte sie alle miteinander dazu, sich zu rühren. Sie setzte den Weibern die Köpfe zurecht, pflegte die kranken Kinder und erzog die gesunden, kurz, der Selbsterhaltungstrieb war mit einer großen Opferfähigkeit so glücklich in ihr gemischt, daß sie die Leute und mit ihnen sich selbst so lange über Wasser hielt, bis ein bedeutender Verbindungsweg in die Nähe der Ansiedlung kam und mit demselben eine wachsende Zahl von kräftigeren Elementen, die schon geschult waren, so daß zusehends die Wendung zum Bessern für alle eintrat. Während der ganzen Zeit aber hatte sie die Bewerbungen um ihre Person abzuwehren, was sie mehr im Scherze andeutete, als ernsthaft erwähnte; zeitweise, wenn gefährliche Abenteurer sich herbeimachten und die Sicherheit bedrohten, hielt sie sich sogar Waffen und verließ sich nur auf sich selber.


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