Gottfried Keller
Der grüne Heinrich
Gottfried Keller

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Lys schlug so unbefangen ein Blatt nach dem andern um, als ob er ein Schmetterlingsbuch vorwiese, und nannte nur zuweilen den Namen einer der Schönen: das ist die Theresa, das ist die Marietta, das war in Frascati, das in Florenz, das in Venedig!

Wir schauten ebenso erstaunt als sprachlos dem Umwenden der Blätter zu, auf welchen soviel Schönheit und Talent vorüberschwirrte, und nur Erikson legte zuweilen die Hand auf ein Blatt, um dasselbe einen Augenblick festzuhalten. »Ich muß gestehen«, sagte er endlich, »es ist mir nicht ganz begreiflich, wie man soviel Genie unterdrücken oder höchstens zu geheimen Allotria verwenden kann! Wieviel Vergnügen vermöchten Sie zu verbreiten, wenn Sie all dies Können einem ernsten Zwecke zugute kommen ließen!«

Lys zuckte die Achseln: »Genie? Wo ist es? Das ist eben die Frage! Auch das wildeste Wesen dieses Geschlechtes muß fromm sein und einfältig wie ein Kind, wenn es allein ist und arbeitet. Mir fehlt vielleicht die Frommheit oder Frommkeit; ich bin nie allein, sondern alle Hunde sind bei mir, mit denen ich gehetzt bin!«

Wir verstanden diese Worte, die zudem im Widerspruche mit der früheren Äußerung standen, daß man alles könne, nicht sonderlich wohl, und ich selber wußte vollends nicht, was ich von der ganzen Sache halten sollte. Ich fühlte mich zu dem hübschen, ruhigen, ja ernsten Manne hingezogen, während der Inhalt des Buches auf eine gewisse Art von Ruchlosigkeit deutete, die mancher wohl sich selber verzeihen mag, aber nicht an einem ernsthaften Freunde liebt. Es war etwas von jenem schrecklichen Prinzipe, das die beiden Geschlechter als zwei sich feindlich entgegenstehende Naturgewalten betrachtet, wo es heißt, Hammer oder Amboß sein, vernichten oder vernichtet werden, oder einfacher gesagt, wer sich nicht wehrt, den fressen die Wölfe.

Inzwischen waren wir beim letzten der gezeichneten Blätter angelangt, auf welches noch einige leere folgten, und Lys wollte das Album rasch zuschlagen. Erikson hielt ihn jedoch auf und verlangte das letzte Bild genauer zu sehen; denn alle bisher aufgetretenen Personen waren italienischen Ursprungs, jene aber offenbar von deutscher Art. Der Kopf war nicht, wie bei den andern, zuerst als Studie besonders gezeichnet, sondern es erschien gleich, als ob das Haupt nicht wohl abzusondern wäre, die ganze stehende Figur des schlanksten jungen Mädchens, dessen in großen Zöpfen aufgewundenes Haar so reich, daß das Haupt beinahe zu schwanken schien wie eine Nelke auf ihrem Stengel, obgleich der fein gerundete Hals und Nacken nur aus natürlicher Anmut sich leise neigte. Außer zwei unschuldigen großen Sternenaugen war fast kein Inhalt in dem Gesicht, dessen zarte Züge kaum mit dem Silberstifte leicht genug anzudeuten waren, den der Zeichner dazu gewählt hatte. Desto sicherer und fester, immer zwar mit zarter Hand, wuchs die herb jungfräuliche Erscheinung durch die strengen Gewänderfalten ins Licht, an denen kein Strich zu viel und keiner zu wenig war.

»Ei der Tausend!« rief Erikson, »wo steht diese Blume?«

»Die steht hier in der Stadt!« versetzte Lys, »ihr könnt sie gelegentlich sehen, wenn ihr brav seid!«

Ich jedoch, gerührt von der elementarischen Unschuld des Gebildes, rief unbedacht und flehentlich: »Der tun Sie aber kein Leid an, nicht wahr?«

»Oho«, sagte Lys lachend, indem er mir auf die Schulter klopfte, »was sollt ich ihr denn zuleid tun?«

Auch Erikson lachte, und somit brachen wir auf, unseren Abendgang in Begleitung des Niederländers anzutreten. Im Vorübergehen sahen wir die drei schönen Bilder wieder aufleuchten, ich für meine Person zum letzten Male; denn ich bekam sie später nur in einer grauen Morgendämmerung nochmals zu Gesicht, als ich kaum darauf achten konnte. Wo sie seither geblieben sind, weiß ich nicht; sie sind niemals an die Öffentlichkeit gelangt, und Lys selber hat sich in der Folge durch ein Schwanken seines Wesens von der Kunst abgewendet. Wenn es Sterne gibt, wie gesagt wird, welche man einen Augenblick lang deutlich hat schwanken sehen, warum sollte ein schwacher Mensch nicht von seiner Bahn abweichen?

Wir gingen nun zu dritt vom nördlichen Teile der Stadt an den Westrand hinüber, um da allmählich am Ufer des südwärts herkommenden Flusses eine behagliche Ruhestatt aufzusuchen. Unterwegs kamen wir an dem Hause vorbei, darin ich wohnte. »Halt!« sagte Erikson, als wir andere vorübergehen wollten, »wir wollen bei diesem auch noch schnell nachsehen, was er schafft! Die untergehende Sonne, die ihm grad in sein unpraktisches Fenster schaut, wird ihm zu Hilfe kommen, daß wir wenigstens etwas Farbe vor Augen haben!« Zögernd und doch nicht ungern ging ich voran, das Zimmer zu öffnen, und sah allerdings meine ungeheuerlichen Schildereien im Abendrote stehen gleich einer brennenden Stadt, so daß wir alle drei hoch auflachten. Da waren zwei große Kartons, eine altdeutsche Auerochsenjagd in einem von Formen angefüllten gewaltigen Bergtale, und ein germanischer Eichenwald mit Steinmälern, Heldengräbern und Opferaltären. Ich hatte die beiden Sachen mit großer Schilffeder auf die mächtigen Papierflächen gezeichnet und markig schraffiert, auch breite Schattenmassen mit grauer Wasserfarbe angelegt, darauf die Kartons mit Leimwasser überzogen und auf diesem Grund sodann mit Ölfarben lustig herumgewirtschaftet in der Weise, daß in den helldunkeln durchsichtigen Teilen überall die Schilffederzeichnung durchblickte. Nicht eine einzige Naturstudie hatte ich dazu benutzt, sondern in meinem ungezügelten Schaffensdrang den ersten und letzten Strich frei erfunden, und da diese Art von Arbeit ebenso leicht als fröhlich vor sich ging, so sahen die zwei farbigen Kartons nach etwas aus, ohne daß viel davon zu sagen war. Denn ob ich auch imstande gewesen wäre, solche Bilder wirklich auszuführen, konnte man zunächst nicht wissen. Die acht Zoll großen Figuren hatte ich mir durch einen jungen Landsmann hineinzeichnen lassen, der als Schüler auf die Akademie ging und schon keck zu skizzieren verstand. Sie waren aber noch ungefärbt und trieben sich einstweilen als weiße Gespenster in den Wäldern herum.

Hinter diesen Fahnen, von welchen die eine kulissenartig halb hinter der andern verborgen stand, ragte an der Wand eine dritte über sie hinaus, in gleicher Weise angelegt, aber noch ohne Farben. Eine von gewaltigen breiten Linden umgebene kleine Stadt baute sich zwischen den Stämmen und aus den Wipfeln heraus an einer Berglehne hinan, dicht gedrängt mit zahlreichen Türmen, Giebelhäusern, Wimpergen, Zinnen und Erkern. Man sah in die engen, krummen und mit Treppen verbundenen Gassen hinein, auf kleine Plätze, wo Brunnen standen, und durch die Glockenstuben des Münsters hindurch, hinter welchen die hellen Sommerwolken zogen, wie auch hinter den offenen Trinklauben, die sich in die Luft hinaus profilierten und Gesellschaften kleiner Männlein meiner eigenen Arbeit beherbergten. Ich hatte die merkwürdige Stadt mit Hilfe eines architektonischen Sammelwerkes zusammengebaut und die Formen der romanischen und gotischen Baustile in bunter Gruppierung und Übertreibung so gehäuft, wie kaum jemals vorkam, und dabei die Entstehungsweise chronologisch angedeutet, indem die Burg und die untern Teile der Kirche das höchste Alter in der Bauart zeigten. Der hochgerückte Horizont zog sich noch über die Linden weg und schloß ein weites Gelände ab, das Meierhöfe, Mühlen, Gehölze und in einem düstern Schattenwinkel das Hochgericht umzirkte. Vorn sollte aus dem offenen Tore eine mittelalterliche Hochzeit über die Fallbrücke kommen und sich mit einem einziehenden Fähnlein bewaffneter Stadtknechte kreuzen. Dies Figurengewimmel fügte ich mit erklärenden Worten hinzu, da einstweilen bloß der Platz dazu offen war.

»Vortrefflich!« sagte Lys, »eine gedachte Staffage, das ist das Leichteste und Duftigste, was es gibt! Übrigens glüht Ihre Stadt in der verfluchten Himbeerbrühe dieses Abendrotes wie das brennende Troja! Doch fällt mir ein: Sie müssen alles aufgetürmte Mauerwerk aus rotem Sandstein bestehen lassen, das wird den kolossalen Bäumen gegenüber und in Verbindung mit den weißglänzenden Wolken einen eigentümlichen Effekt machen! Doch was haben wir hier wieder?«

Er meinte einen gegen die Wand lehnenden kleineren Karton, der sich grau in grau als eine Darstellung meiner Heimatgegend zur Zeit der Völkerwanderung auswies. Über die bekannten Landformen zogen sich Urwälder neben- und übereinander hin, zwischen deren Furchen ein ferner Heerbann sich bewegte; auf einer Berghöhe rauchte ein römischer Wachtturm. Doch schon hatte Lys einen zweiten Entwurf umgedreht, eine sozusagen geologische Landschaft. Durch neuere Gebirgsarten, die sich schulgerecht unterscheiden lassen, ist ein kronenartiges Urgebirge gebrochen, welches mit jenem zusammen doch eine malerische Linie zu bilden sucht. Kein Baum oder Strauch belebt die harte öde Wildnis; nur das Tageslicht bringt einiges Leben, das mit dem dunkeln Schatten einer über dem höchsten Gipfel ruhenden Wetternacht ringt. Im Gestein aber beschäftigt sich Moses auf den Befehl Gottes mit der Herrichtung der Tafeln für die zehn Gebote, die zum zweitenmal aufgeschrieben werden sollen, nachdem die ersten Tafeln zerbrochen worden.

Hinter dem riesigen Manne, der in tiefem Ernste über den Tafeln kniet, steht auf einem Granitstück, ohne daß er es ahnt, das prästabilierte Jesuskind, unbekleidet, und schaut, die Händchen auf dem Rücken, dem gewaltigen Steinmetzen ebenso ernsthaft zu. Ich hatte, weil es sich nur um einen ersten Entwurf handelte, die Figuren selbst erschaffen, so gut ich es vermocht, was sie der Epoche der Erdrevolutionen noch näher rückte. Da der Moses mit den Strahlenhörnern und das Kind mit der Glorie versehen waren, so erkannte Lys zu meiner Genugtuung sofort den Gegenstand, rief aber gleich darauf: »Da ist der Schlüssel! Wir haben also einen Spiritualisten vor uns, einen, der die Welt aus dem Nichts hervorbringt! Sie glauben wahrscheinlich heftig an Gott?«

»Allerdings«, sagte ich, neugierig zu wissen, wo er hinaus wolle; Erikson aber unterbrach uns, indem er zu Lys gewendet sagte: »Lieber Freund! Plagen Sie sich doch nicht immer mit der Ausreutung des lieben Gottes! Sie machen es sich wahrhaftig saurer als der ärgste Fanatiker mit der Einpflanzung desselben!«

»Ruhig, Indifferentist!« versetzte Lys und fuhr fort: »Da haben wir es also! Sie wollen sich nicht auf die Natur, sondern allein auf den Geist verlassen, weil der Geist Wunder tut und nicht arbeitet! Der Spiritualismus ist diejenige Arbeitsscheu, welche aus Mangel an Einsicht und Gleichgewicht der Erfahrung hervorgeht und den Fleiß des wirklichen Lebens durch Wundertätigkeit ersetzen, aus Steinen Brot machen will, anstatt zu ackern, zu säen, das Wachstum der Ähren abzuwarten, zu schneiden, zu dreschen, mahlen und backen. Das Herausspinnen einer fingierten, künstlichen, allegorischen Welt aus der Erfindungskraft, mit Umgehung der guten Natur, ist eben nichts anderes, als jene Arbeitsscheu; und wenn Romantiker und Allegoristen aller Art den ganzen Tag schreiben, dichten, malen und operieren, so ist dies alles nur Trägheit gegenüber derjenigen Tätigkeit, welche nichts anderes ist als das notwendige und gesetzliche Wachstum der Dinge. Alles Schaffen aus dem Notwendigen heraus ist Leben und Mühe, die sich selbst verzehren, wie im Blühen das Vergehen schon herannaht; dies Erblühen ist die wahre Arbeit und der wahre Fleiß; sogar eine simple Rose muß vom Morgen bis zum Abend tapfer dabei sein mit ihrem ganzen Korpus und hat zum Lohne das Welken. Dafür ist sie aber eine wahrhaftige Rose gewesen!«

Da ich ihn nur halb verstand, indem ich doch glaubte gearbeitet zu haben, so sagte ich ihm dies.

»Das geht so zu«, antwortete er, »die geognostische Landschaft, die Sie darstellen wollen, haben Sie nie gesehen und werden Sie, ich will wetten, auch niemals sehen. Dahinein setzen Sie zwei Figuren, mit denen Sie teils die Schöpfungsgeschichte und den Schöpfer feiern, teils aber ironisieren; das ist ein gutes Epigramm, aber keine Malerei; und endlich könnten Sie, wie man wohl sieht, die Figuren, wenigstens jetzt, gar nicht selbst ausführen, ihnen folglich nicht diejenige Bedeutung geben, die Sie sich geistreich denken; folglich stehen Sie mit dem ganzen Handel in der Luft; es ist ein Spiel und keine Arbeit! Nun aber genug hievon, und lassen Sie sich sagen, daß ich meine Predigt nicht gegen Sie, sondern gegen die ganze Gattung richte; denn an sich betrachtet, machen mir Ihre Sachen schon deswegen Vergnügen, weil sie einen Kontrast zu den meinigen bilden. Wir sind allzumal dualistische Tröpfe, wir mögen es anfangen, wie wir wollen. Was haben Sie hier für einen Schädel, der war nie präpariert, kommt also aus der Erde?«

Er deutete auf den Schädel des Albertus Zwiehan, der in einer Ecke am Boden lag.

»Der gehörte auch einem Dualisten an in gewissem Sinne«, erwiderte ich und erzählte, indem wir fortgingen, mit einigen Worten die Geschichte von den zwei Weibern, zwischen denen jener hin und her gezogen worden. »Ich sag es ja!« lachte Lys, »nehmen wir uns in acht, daß wir nicht zwischen zwei Stühle fallen!«

Wir blieben bis tief in die Nacht alle drei beieinander und verabredeten, uns öfter zu treffen; was denn auch geschah, so daß wir bald gute Freunde und überall zusammen gesehen wurden.


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