Gottfried Keller
Der grüne Heinrich
Gottfried Keller

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Dennoch hatte das Bild der in die Ferne schauenden Mutter ein starkes Gefühl von Heimweh wachgerufen, das mich bisher nur im Schlafe besuchte. Seit ich nämlich die Phantasie und ihr angewöhntes Gestaltungsvermögen nicht mehr am Tage beschäftigte, regten sich ihre Werkleute während des Schlafes mit selbständigem Gebaren und schufen mit anscheinender Vernunft und Folgerichtigkeit ein Traumgetümmel in den glühendsten Farben und buntesten Formen. Ganz wie es wiederum jener irrsinnige Meister und erfahrene Lehrer mir vorausgesagt, sah ich nun im Traume bald die Vaterstadt, bald das Dorf auf wunderbare Weise verklärt und verändert, ohne je hineingelangen zu können, oder wenn ich endlich dort war, mit einem plötzlichen freudelosen Erwachen. Ich durchreiste die schönsten Gegenden des Vaterlandes, die ich in Wirklichkeit nie gesehen, schaute Gebirge, Täler und Ströme mit unerhörten und doch wohlbekannten Namen, die wie Musik klangen und doch etwas Lächerliches an sich hatten.

Über den Mitteilungen des Landsmannes waren mir das Mädchen Hulda von gestern abend und die heutigen Morgenpläne aus dem Gedächtnisse geschwunden; ermüdet eilte ich den Schlaf zu suchen und verfiel auch gleich wieder dem geschäftigen Traumleben. Ich näherte mich der Stadt, worin das Vaterhaus lag, auf merkwürdigen Wegen, am Rande breiter Ströme, auf denen jede Welle einen schwimmenden Rosenstock trug, so daß das Wasser kaum durch den ziehenden Rosenwald funkelte. Am Ufer pflügte ein Landmann mit milchweißen Ochsen und goldenem Pfluge, unter deren Tritten große Kornblumen sproßten. Die Furche füllte sich mit goldenen Körnern, welche der Bauer, indem er mit der einen Hand den Pflug lenkte, mit der anderen aufschöpfte und weithin in die Luft warf, worauf sie als ein goldener Regen auf mich niederfielen. Ich fing ihrer mit dem Hute auf, soviel ich konnte, und sah mit Vergnügen, daß sie sich in lauter goldene Schaumünzen verwandelten, auf welchen ein alter Schweizer mit langem Barte und zweihändigem Schwerte geprägt war. Ich zählte sie eifrig und konnte sie doch nicht auszählen, füllte aber alle Taschen damit; die ich nicht mehr hineinbrachte, warf ich wieder in die Luft. Da verwandelte sich der Goldregen in einen prächtigen Goldfuchs, der wiehernd an der Erde scharrte, aus welcher dann der schönste Hafer hervorquoll, den das Pferd mutwillig verschmähte. Jedes Haferkorn war ein süßer Mandelkern, eine Rosine und ein neuer Pfennig, die zusammen in rote Seide gewickelt und mit einem Endchen Schweinsborste eingebunden waren, welches das Pferd angenehm kitzelte, als es sich darin wälzte, so daß es rief: »Der Hafer sticht mich!«

Ich jagte aber den Goldfuchs auf, bestieg ihn, da er schön gesattelt war, ritt beschaulich am Ufer hin und sah, wie der Bauersmann in die schwimmenden Rosen hineinpflügte und mit seinem Gespann darin versank. Die Rosen nahmen ein Ende, zogen sich zu dichten Scharen zusammen und schwammen in die Ferne, am Horizonte eine Röte ausbreitend; der Fluß aber erschien jetzt als ein unermeßliches Band fließenden blauen Stahles. Der Pflug des Landmannes hatte sich inzwischen in ein Schiff verwandelt; darin fuhr derselbe, steuerte mit der goldenen Pflugschar und sang: »Das Alpenglühen rückt aus und geht um das Vaterland herum!« Hierauf bohrte er ein Loch in den Schiffsboden; darein steckte er das Mundstück einer Posaune, sog kräftig daran, worauf es mächtig erklang gleich einem Harsthorn und einen glänzenden Wasserstrahl ausstieß, der den herrlichsten Springbrunnen in dem fahrenden Schifflein bildete. Der Bauer nahm den Strahl, setzte sich auf den Rand des Schiffes und schmiedete auf seinen Knien und mit der rechten Faust ein mächtiges Schwert daraus, daß die Funken stoben. Als das Schwert fertig war, prüfte er dessen Schärfe an einem ausgerissenen Barthaare und überreichte es höflich sich selbst, indem er sich plötzlich in den Wilhelm Tell verwandelte, welchen jener beleibte Wirt im Tellenspiel vorgestellt hatte, zur Zeit meiner früheren Jugend. Dieser nahm das Schwert, schwang es und sang mächtig:

Heio, heio! bin auch noch do
Und immer meines Schießens froh!
Heio, heio! die Zeit ist weit,
Der Pfeil des Tellen fliegt noch heut!

Wo guckt er hin? Seht ihr ihn nicht?
Dort oben tanzt er hoch im Licht!
Man weiß nicht, wo er stecken bleibt,
Heio, 's ist immer, wie man's treibt!

Dann hieb der dicke Tell mit dem Schwerte von der Schiffswand, die nun eine Speckseite war, einen tüchtigen Span herunter und trat mit demselben feierlich in die Kajüte, einen Imbiß zu halten.

Indessen ritt ich auf dem Goldfuchs weiter und befand mich unversehens mitten in dem Dorfe, darin der Oheim gewohnt. Ich erkannte es kaum wieder, da fast alle Häuser neu gebaut waren. Die Bewohner saßen alle hinter den hellen Fenstern um die Tische herum und aßen, und niemand blickte auf die menschenleere Straße. Dessen war ich aber höchlich froh; denn erst jetzt entdeckte ich, daß ich auf meinem glänzenden Pferde in alten anbrüchigen Kleidern saß. Ich bestrebte mich daher, ferner ungesehen hinter das Haus des Oheims zu gelangen, das ich fast nicht finden konnte. Zuletzt erkannte ich es, wie es über und über mit Efeu bewachsen und außerdem von den alten Nußbäumen überhangen, so daß weder Stein noch Ziegel zu sehen war und nur hie und da ein handgroßes Stückchen Fensterscheibe durch das Grüne blinkte. Ich sah, daß sich etwas dahinter bewegte, konnte aber nichts Deutliches wahrnehmen. Der Garten war von einer Wildnis wuchernder Feldblumen bedeckt, aus denen die aufgeschossenen Gartengewächse baumhoch emporragten, Rosmarin und Fenchelstauden, Sonnenblumen, Kürbisse und Johannisbeeren. Schwärme wildgewordener Bienen brausten auf der Blumenwildnis umher; im Bienenhause aber lag der alte Liebesbrief, den der Wind einst dahin getragen, verwittert und offen, ohne daß ihn die Jahre her jemand gefunden. Ich nahm ihn und wollte ihn einstecken, da wurde er mir aus der Hand gerissen, und als ich mich umsah, huschte Judith damit lachend hinter das Bienenhaus und küßte mich dabei durch die Luft, daß ich es auf meinem Munde fühlte. Der Kuß war aber eigentlich ein Stück Apfelkuchen, welches ich begierig aß. Da es jedoch den Hunger, den ich im Schlafe empfand, nicht stillte, überlegte ich, daß ich wahrscheinlich träume, und daß der Kuchen wohl von den Äpfeln herrühre, die ich einst küssend mit der Judith zusammen gegessen. Ich fand es also um so geratener, in das Haus zu gehen, wo gewiß eine Mahlzeit bereit sein würde. Ich packte einen schweren Mantelsack aus, der sich plötzlich auf dem Pferde zeigte, als ich es an den zerfallenen Gartenzaun band. Aus dem Mantelsack rollten die schönsten Kleider hervor und ein feines neues Hemde, dessen Brust mit einer Stickerei von Weinträubchen und Maiglöckchen verziert war. Wie ich aber dies Staatshemd auseinanderfaltete, wurden zweie daraus, aus den zweien vier, aus den vieren acht, kurz eine Menge der schönsten Leibwäsche breitete sich aus, welche wieder in den Mantelsack zu schieben ich mich vergeblich abmühte. Immer wurden es mehr Hemden und Kleidungsstücke und bedeckten den Boden umher; ich empfand die größte Angst, von meinen Verwandten bei dem sonderbaren Geschäft überrascht zu werden. In der Verzweiflung ergriff ich endlich eines von den Hemden, um es anzuziehen, und stellte mich schamhaft hinter einen Nußbaum; allein man konnte aus dem Hause an diese Stelle sehen und ich schlüpfte beschämt hinter einen andern, und so immer fort von einem Baume zum andern, bis ich dicht an das Haus und in den Efeu hineingedrückt in Verwirrung und Eile den Anzug wechselte, die schönen Kleider anzog und doch fast nicht fertig werden konnte, und als ich es endlich war, befand ich mich wieder in größter Not, wo ich das traurige Bündel der alten Kleider bergen solle. Wohin ich es auch trug, immer fiel ein zerlumptes Stück auf die Erde; zuletzt gelang es mit saurer Mühe, das Zeug in den Bach zu werfen, wo es aber durchaus nicht weiterschwimmen wollte, sondern sich auf der gleichen Stelle gemächlich herumdrehte. Ich erwischte eine vermorschte Bohnenstange und quälte mich, die dämonischen Fetzen in die Strömung zu stoßen; aber die Stange brach und brach immer wieder bis auf das letzte Stümpfchen.

Da berührte ein Hauch meine Wangen, und Anna stand vor mir und führte mich in das Haus. Ich stieg Hand in Hand mit ihr die Treppe hinauf und trat in die Stube, wo der Oheim, die Tante, die Basen und Vettern sämtlich versammelt waren. Aufatmend sah ich mich um; die alte Stube war sonntäglich geputzt und so sonnenhell, daß ich nicht begriff, wo all das Licht durch den dichten Efeu hindurch herkomme. Oheim und Tante waren in ihren besten Jahren, die Bäschen und Vettern blühender als je, der Schulmeister ebenfalls ein schöner Mann und aufgeräumt wie ein Jüngling, und Anna sah ich als Mädchen von vierzehn Jahren im rotgeblümten Kleide mit der lieblichen Halskrause.

Was aber sehr sonderbar war, alle, Anna nicht ausgenommen, trugen lange irdene Pfeifen in den Händen und rauchten einen wohlriechenden Tabak, und ich desgleichen. Dabei standen sie, die Verstorbenen und die Lebendigen, keinen Augenblick still, sondern gingen mit freundlich frohen Mienen unablässig die Stube auf und nieder, hin und her, und dazwischen niedrig am Boden hin die Jagdhunde, das Reh, der zahme Marder, Falken und Tauben in friedlicher Eintracht, nur daß die Tiere den entgegengesetzten Strich der Menschen verfolgten und so ein wunderbares Gewebe durcheinander lief.

Der schwere Nußbaumtisch auf seinen gewundenen Füßen war mit einem weißen Damasttuche gedeckt und mit einem aufgerüsteten duftenden Hochzeitsessen besetzt. Mir wässerte der Mund, und ich sagte zum alten Oheim: »Ei, ihr scheint euch da recht wohl sein zu lassen!« »Versteht sich!« erwiderte er, und alle wiederholten: »Versteht sich!« mit angenehm klingenden Stimmen. Plötzlich befahl der Oheim, daß man zu Tische sitze; alle stellten die Pfeifen pyramidenweise zusammen auf den Boden, je drei und drei, wie Soldaten ihre Gewehre. Darauf schienen sie schon wieder zu vergessen, daß sie essen gewollt; denn sie gingen zu meinem Verdrusse nach wie vor umher und fingen allmählich an zu singen:

Wir träumen, wir träumen,
Wir träumen und wir säumen,
Wir eilen und wir weilen,
Wir weilen und wir eilen,
Sind da und sind doch dort,
Wir gehen bleibend fort,
Wem konveniert es nicht?
Wie schön ist dies Gedicht!
Hallo, Hallo!
Es lebe, was auf Erden stolziert in grüner Tracht,
Die Wälder und die Felder, die Jäger und die Jagd!

Weiber und Männer sangen mit rührender Harmonie und Lust, und das Hallo stimmte der Oheim mit gewaltiger Stimme an, daß die ganze Schar mit verstärktem Gesange darein tönte und rauschte und zugleich blaß und blässer werdend sich in einen wirren Nebel auflöste, während ich bitterlich weinte und schluchzte. Ich erwachte in Tränen gebadet, und auch das Kopfkissen war davon benetzt. Als ich mich mit Mühe gesammelt, war das erste, dessen ich mich erinnerte, der wohlgedeckte Tisch; denn ich hatte nach den Eröffnungen des Landsmannes am Abend nichts mehr essen können und war erst im Schlafe wieder hungrig geworden. Wie ich nun die Gier bedachte, mit welcher ich trotz des Schmuckes der unbeherrschten Phantasie gezwungen war, schließlich immer nur von Geld und Gut, Kleidern und Essen zu träumen, brach ich über diese Erniedrigung neuerdings in Tränen aus, bis ich abermals einschlief.


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