Gottfried Keller
Der grüne Heinrich
Gottfried Keller

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»Aber närrischer Kauz«, sagte er, indem er jenem die Hand auf die Schulter legte, »wer wird denn seinen Kameraden die Bräute wegschnappen?«

Lys schnellte sich herum und sprang auf. Zur Rechten sah er die Frau, zur Linken den Nordländer stehen, die sich zulächelten.

»Da!« sagte er mit Lippen, die nicht nur von Reue und Verlegenheit, sondern auch ein wenig von Herzenstrauer verbittert schienen, »da hab ich's nun! das ist die Folge, sobald man sich einmal selbst hingibt. Nun erfahr ich, wie es tut, wenn einer in die Verbannung geht. Ich wünsch euch übrigens Glück!« Damit wandte er sich rasch und ging fort!

Als es später zur Tafel ging, welche zu einem mehr traulichen als prunkenden Mahle gerüstet war, und Lys nicht wieder erschien, fiel mir abermals die Sorge für die gute Agnes anheim. Sie hatte lautlos neben mir stehend dem Spiele zugeschaut, dann während der langen Pause meinen Arm ergriffen und war mit mir herumgegangen, ohne ein Wort zu sagen. Ich hatte noch in keiner Weise mit ihr über ihre Sache und ihren Zustand zu reden gewagt und fühlte auch kein Bedürfnis oder Geschick dazu; aber ich spürte wohl, wie es in ihrem Busen fortwährend arbeitete, zornige und wehmütige Seufzer sich bekämpften und miteinander zerdrückt und hinuntergepreßt wurden.

Ich begleitete sie an den Tisch und kam an ihre Seite zu sitzen. Als jetzt Erikson eine kurze Rede hielt, das Ereignis der Verlobung verkündigte und die Bitte beifügte, die fröhliche Gesellschaft möchte sein Glück bei dieser guten Gelegenheit mit feiern helfen, hörte ich, wie Agnes mitten im Geräusch der allgemeinen Überraschung, des Gläserklingens und Hochrufens tief aufatmete. Wie von einer Last befreit, saß sie einige Minuten in sich gekehrt; doch da Lys nicht wieder zum Vorschein kam, half ihr ja alles nichts; sein Abfall trat durch den Vorgang, den sie ahnte, nur um so heller ins Licht, und ihre einfache Seele war nicht geartet, auf sein Mißgeschick neue Pläne zu gründen. Doch bezwang sie ihren Kummer und hielt tapfer aus, ohne nach Hause zu begehren. Sie folgte mir sogar, als ich sie zum Anschlusse einlud, da sich alle von ihren Plätzen erhoben, um an der bräutlichen Wirtin glückwünschend und grüßend vorüberzuziehen.

Rosalie war zunächst von ihren Verwandten umgeben, welche von der unerwarteten Verlobung nicht sonderlich erfreut schienen und ziemlich ernsthafte Gesichter machten; denn die kluge Frau hatte den Tag benutzt, sie in die Falle zu locken und sie zu zwingen, ihrem Verlobungsfeste in ehrbarer Weise beizuwohnen, ohne daß sie, schon der Menge der Gäste wegen, den geringsten Widerstand zu leisten vermochten mit unwillkommenen Warnungen oder Ratschlägen. Um so lieblich heiterer nahm sich die Zufriedene unter den verdrossenen Vettern und Basen aus.

Nun war es aber ein ergreifender Anblick, wie in der bunten Reihe der vielgestaltigen Gäste auch die Agnes herantrat und das verlassene Weib dem siegreichen seinen Gruß darbrachte. Sie beugte sich nieder und küßte der Braut die Hand, wie das demütige Unglück dem Glücke. Rosalie sah sie betrogen an und drückte ihr dann teilnehmend die Hand. Sie hatte das Mädchen ganz vergessen, wie sie in diesem Augenblick auch den schlimmen Lys schon vergessen, und man konnte bemerken, daß sie sich irgend etwas vornahm; allein die nächste Sekunde entführte ihr das weitereilende Trauerwesen und gab sie selbst ihrer glückseligen Zerstreuung zurück.

Nachdem alle Gäste ihre Plätze wieder eingenommen und eine gleichmäßige, schließlich auch von den doch lebelustigen Vettern geteilte Heiterkeit sich eingestellt, gab es bald eine neue Unterbrechung. Die Kunde von dein Glückswechsel eines Genossen war rasch in das große Lustlager im Walde gedrungen, wo die unverwüstliche Jugend noch immer hauste. So marschierte denn jetzt mit Trommel und Pfeife und fliegender Fahne ein Zug Landsknechte zur einen Türe herein, während in der andern eine Schar lustiger Zunft- und Handwerksgesellen mit ihrer Musik erschien. Beide Parteien zogen um die Tafel herum, mit Hüteschwingen und lautem Zuruf, und führten sich auf biedere Art zu einem Ehrentrunk ein. Die bisherige Ordnung ward dadurch aufgehoben und Erikson hatte samt den Hausbedienten genug zu tun, den Zuwachs unterzubringen, der so ziemlich alle Räume füllte. Doch ging alles mit froher und guter Laune vonstatten, die Denkwürdigkeit des Tages steigerte sich zusehends.

Ich fragte Agnes, was sie vornehmen wolle, ob sie nach Hause zu kehren oder noch zu bleiben wünsche. Mir wäre das erstere nicht unwillkommen gewesen; denn so lieblich und ehrenvoll mich die fortgesetzte Obhut eines so unschuldig reizenden Geschöpfes dünkte, empfand ich doch nach Art junger Deutschgesellen den Wunsch, das bisher Versäumte nachzuholen und die letzten Stunden doch noch unter meinesgleichen, ein Freier unter Freien, zu verbringen.

Agnes zögerte mit ihrem Entschlusse; sie schauderte heimlich vor dem Alleinsein in ihrem Hause, wo sie keines rechten Trostes gewärtig war, und mochte sich auch sträuben, die Stelle zu verlassen, wo in jüngster Zeit noch der Geliebte geweilt und sie in neuer Hoffnung gelebt hatte. So führte ich sie einstweilen in den verschiedenen Gemächern, zwischen den malerischen Zechergruppen herum, überall wo es etwas Merkwürdiges zu sehen gab, wie der unermüdliche Einfall einzelner oder vieler es stets neu gebar.

Auf unserer Wanderung hörten wir einen wohltönenden vierstimmigen Gesang und gingen ihm nach. Am Ende eines schwach erleuchteten Flures fanden wir einen erkerartigen Ausbau, der wegen seiner Fenster zu einer kleinen Orangerie diente; denn er war mit etwa einem Dutzend Orangen-, Granat- und Myrtenbäumen besetzt, zwischen welche der Gottesmacher und seine Leute ein Tischchen gestellt und sich niedergelassen hatten. Über dem Eingange hing ein altes eisernes Schenkezeichen in Gestalt eines Pentagramms oder Drudenfußes, das von ihnen in irgendeinem Winkel aufgefunden und herbeigebracht worden. Da saßen sie nun, der rheinische Winzer, der Bergkönig und die zwei glasmalenden Meistersinger, und zeigten, daß sie im vierstimmigen Zusammensingen nicht minder geübt waren als im Saitenspiel. Als wir vor ihrer Herberge standen und zuhörten, nötigten sie uns sofort, bei ihnen Platz zu nehmen, indem sie zusammenrückten und Stühle herbeiholten. Zu meiner Verwunderung ließ Agnes sich das gern gefallen; der Gesang schien ihr Herz anzulocken, zu beschäftigen und still zu machen. Um jene Zeit waren einige alte deutsche Volkslieder zuerst wieder hervorgezogen und von lebenden Komponisten sangbar gemacht worden. Ebenso wurde, was von Eichendorff, Uhland, Kerner, Heine, Wilhelm Müller im Tone jener Lieder vorhanden, von den Sangmeistern in mehr oder minder schwermütige Noten gesetzt und eben als das Neueste von der geschulten Männerjugend gesungen, ehe es, teils zum zweiten Male, ins Volk überging. Noch nie hatte Agnes dergleichen gehört. Soeben war das Lied »Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum« zu Ende, und es kam »Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht«. Alte Scheidelieder, Todeskundschaften, Klagen um entschwundenes Glück, Lenzverheißungen, die Lieder vom Mühlrad und vom Tannenbaum, Uhlands »Nun, armes Herz, vergiß der Qual, nun muß sich alles, alles wenden«, eins nach dem andern kam zum reinen und ausdrucksvollen Vortrag, wobei der Gottesmacher mit seinem hellen Tenor die Oberstimme führte, der Bergkönig den Baß sang und die Glasmaler andächtig dazwischen mitliefen, zuverlässig auf Ton und Takt haltend.

Agnes lauschte unverwandt, und alles, was sie hörte, schien wie für sie gemacht und aus ihrer eigenen Brust zu kommen. Indem sie nach jedem Liede erleichternde Atemzüge tat, wurde sie zusehends ruhiger und freier. Ein sonniger Frohsinn ging um unsere kleine, halb verborgene Tafelrunde; es war, wie wenn alle stillschweigend fühlten, daß ein bedrängtes Herz sich entlastete, obgleich eigentlich außer mir keiner etwas wußte. Jetzt trat noch der herumstreifende Erikson herzu, entdeckte unsere Niederlassung und eilte, als er die Art derselben erkannte, von dannen, um einige Flaschen französischen Schaumweines herbeizuschaffen, worauf er seinen vorsorglichen Rundgang im Dienste der Gebieterin des Hauses fortsetzte.

Agnes und die meisten von uns hatten noch niemals Champagner gesehen, noch weniger getrunken, und schon die nach damaliger Mode noch ganz hohen Gläser, in welchen die Perlen unaufhörlich stiegen, erhöhten unsere Stimmung bis zur Feierlichkeit. Nun kam Rosalie selbst und brachte der Agnes einen Teller süßes Backwerk und Früchte und empfahl uns, mit der feinen Diana ja recht fröhlich und galant zu sein.

Das waren wir denn auch in der besten und ziemlichsten Weise. Vor allen bezeigte sich der Gottesmacher aufmerksam und höflich gegen sie; aber auch die andern wurden ebenso aufgeräumt, als sie in heiterer Ehrerbietung verharrten, stolz darauf, daß eine so poetisch schöne Erscheinung, wie sie's nannten, ihre kleine Kompanie zierte. Als alle auf ihr Wohl mit ihr anstießen, trank sie den schlanken Kelch bis auf den Grund leer, oder vielmehr floß ihr die perlende Süße wie ein Schlänglein in den Mund, ohne daß sie es wußte; wenigstens behauptete der Gottesmacher nachher, er habe an ihrer weißen Kehle gesehen, wie es durchgeschlüpft sei. Nun fing sie an zu zwitschern und meinte, hier wäre es gut, es sei ihr zumute, wie wenn sie aus winterlichem Schlackerwetter in ein warmes Stübchen gekommen wäre; aber sie wisse schon, was das sei, immer machten einige gute Menschen zusammen ein warmes Stübchen aus, auch ohne Ofen, Dach und Fenster!

»Alle guten Leute sollen leben!« rief sie und trank, als die Gläser zusammenklangen, das ihrige abermals auf einen Zug leer und setzte hinzu: »Ei, wie lieb ist dieser Wein! der ist auch ein guter Geist!«

Das gefiel uns ausnehmend wohl; die vier Sänger huben ohne Verabredung alsogleich mit voller Kraft an: »Am Rhein, am Rhein, da wachsen unsre Reben«. Kaum war das ehrliche Trinklied verklungen, so sangen sie, auf eine ernst gehaltene Weise übergehend, obgleich nicht im schleppenden Tempo, das andere schöne Lied von Claudius:

Der Mensch lebt und bestehet
Nur eine kleine Zeit,
Und alle Welt vergehet
Mit ihrer Herrlichkeit.

Als dann die Motette mit dem schwungvollen Halleluja Amen schloß und bei uns eine plötzliche Stille eintrat, hörte man aus den übrigen Räumen her, wie aus der Ferne, das Geräusch der summenden Stimmen, durcheinander tönender Lieder und einer Tanzmusik, welche dunkel fortrollende Tonmasse übrigens in jeder Pause hörbar wurde, die wir machten. In diesem Augenblicke aber machte uns die Sache durch den Kontrast einen feierlichen Eindruck; es war, wie wenn wir den Lärm der Welt rauschen hörten, während wir in traulicher Beschaulichkeit in unserem Myrten- und Orangenwäldchen saßen. Wir horchten eine Weile mit Behagen auf das wunderliche Tosen und gerieten dann in ein unterhaltliches Gespräch, in welchem wir die Köpfe über dem Tische zusammensteckten und jeder eine heitere oder traurige Geschichte oder Erinnerung zum Vorschein brachte, besonders aber der Gottesmacher eine Menge anmutiger Schwänke von der Mutter Gottes zu erzählen wußte, wie sie einmal einen Kongreß ihrer Vertreterinnen an den berühmtesten Wallfahrtsorten der Welt veranstaltet habe und wie es da zugegangen und ein großer Zwist entstanden sei, wie nicht anders möglich, wo so viele Frauenzimmer zusammenkämen; was sie alles auf der Hin- und Rückreise erlebt und verrichtet hätten; wie die eine als große Fürstin mit verschwenderischer Pracht, die andere aber wie ein schäbiger Filz gereist sei und in den Herbergen, wo sie übernachtet, ihre Engel in den Hühnerstall gesperrt und am Morgen auch wie Hühner abgezählt habe, ob keiner fehle. So seien auch zwei andere große Frauen, die zum Kongreß reisten, die Mutter Gottes von Czenstochau in Polen und die Maria zu den Einsiedeln, mit ihrem Gefolge bei einem Wirtshause zusammengetroffen und hätten im Garten das Mittagessen eingenommen. Als nun eine Schüssel mit Leipziger Lerchen, worauf eine gebratene Schnepfe gelegen, aufgetragen worden, habe die Polackin die Schüssel sofort an sich genommen und gesprochen: Soviel sie wisse, sei sie die vornehmste Person am Tische und gebühre ihr hiemit das Störchlein, das da obenauf liege! Denn wegen des langen Schnabels habe sie die Schnepfe für einen jungen Storch gehalten, dieselbe auch mit der Gabel angestochen und auf ihren Teller getan. Die Schweizerin hingegen, über solche Anmaßung entrüstet, habe nur: »Swips!« gemacht, und die gebratene Schnepfe sei lebendig und gefiedert vom Teller auf und davon geflogen. Inzwischen habe die Maria von Einsiedeln die Schüssel an sich genommen und sämtliche Lerchen auf ihren und der Ihrigen Teller gestreift, die Frau von Czenstochau aber »Tirili« gepfiffen, und die Lerchen seien ebenso wie vorhin die Schnepfe aufgeflattert und singend in der Höhe verschwunden, und somit hätten sich die Herrschaften gegenseitig aus Eifersucht das Mittagessen verdorben und sich nachher mit einer dicken Milch begnügen müssen, wozu die schwarzbraunen Gesichter beider Damen sich possierlich verzogen haben.

Agnes saß wie ein Kamerad zwischen uns, einen Arm auf dem Tisch und die Wange auf die Hand gestützt. Sie konnte aber nicht recht klug daraus werden, wie alle die heiligen Marienfrauen, die doch nur ein und dasselbe seien, als so viele unterschiedene Personen herumreisen, sich versammeln und sogar bekriegen können, und sie gab ihrem Zweifel unverhohlenen Ausdruck.

Der Winzer legte den Finger an die Nase und sagte nachdenklich: »Das ist eben das Mysterium, das Geheimnis, das wir mit unserm Verstande nicht zu erklären vermögen.«

Allein der Bergkönig, der in fremdartigen Dingen um so beredter war, je weniger er mit seiner Kreuztragungsgruppe von Raffaels berühmtem Bilde wegkommen konnte, ergriff das Wort und sagte: »Die Sache bedeutet nach meiner Ansicht die ungeheure Allgemeinheit, Allgegenwart, Teilbarkeit und Wandlungsfähigkeit der Himmelskönigin; sie ist alles in allem, wie die Natur selbst, und steht dieser schon als Frau am nächsten, auch in Hinsicht der unaufhörlichen Veränderlichkeit, wie sie denn auch außerdem in allen möglichen Gestalten aufzutreten liebt und sogar als streitbarer Soldat gesehen worden ist. Hierin gerade mag sie einen Zug ihres Geschlechtes bewähren, wenigstens der vorzüglicheren Mitglieder desselben, nämlich einen gewissen Hang, Mannskleider anzuziehen.«


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