Gottfried Keller
Der grüne Heinrich
Gottfried Keller

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Annas Tod und Begräbnis

Zu diesen so ganz entgegengesetzten Aufregungen der Tage und Nächte kamen im Sommer noch verschiedene Auftritte im ländlichen Familienleben, welche bei aller Einfachheit doch den gewaltigen Wechsel des Lebens und sein unaufhaltsames Vorübergehen ins Licht stellten. Der Haushalt des jungen Müllers ließ seine Heirat nicht länger aufschieben, und es wurde also eine dreitägige Hochzeit gefeiert, bei welcher die spärlichen Überreste städtischen Gebrauches, so die Braut aus ihrem Hause mitbrachte, gar jämmerlich dem ländlichen Pomp unterliegen mußten. Die Geigen schwiegen nicht während der drei Tage; ich ging mehrmals hin und fand Judith festlich geschmückt unter dem Gedränge der Gäste; ein und das andere Mal tanzte ich bescheiden und wie ein Fremder mit ihr, und auch sie hielt sich zurück, obgleich wir während der geräuschvollen Nächte Gelegenheit genug hatten, uns unbemerkt nahe zu sein.

Kaum war die Hochzeit vorüber, so erkrankte die Muhme, welche kaum fünfzig Jahre alt war, und starb in Zeit von drei Wochen. Sie war eine starke Frau, daher ihre Todeskrankheit um so gewaltsamer, und sie starb sehr ungern. Sie litt heftig und unruhig und ergab sich erst in den letzten zwei Tagen; und an dem Schrecken, der sich im Hause verbreitete, konnte man erst sehen, was sie allen gewesen. Aber wie nach dem Hinsinken eines guten Soldaten auf dem Felde der Ehre die Lücke schnell wieder ausgefüllt wird und der Kampf rüstig fortgeht, so erwies sich die Art des Lebens und des Todes dieser tapfern Frau auch auf das schönste dadurch, daß die Reihen ohne Lamentieren rasch sich schlossen; die Kinder teilten sich in Arbeit und Sorge und versparten den beschaulichen Schmerz bis auf die Tage der Ruhe, wo man die Marksteine des Lebens deutlicher ragen sieht. Nur der Oheim äußerte erst einige tiefere Klagen, faßte diese aber bald in das Wort »meine selige Frau« zusammen, das er nun bei jeder Gelegenheit anbrachte. An dem Leichenbegängnisse sah ich Judith unter den fremden Frauen. Sie trug ein städtisches schwarzes Kleid bis unter das Kinn zugeknöpft, sah demütig auf den Boden und ging doch hoch einher.

So war in kurzer Zeit die Gestalt des oheimlichen Hauses verändert und durch die verschiedenen Vorgänge alles älter und ernster geworden. Von der traurigen Schaubühne ihres Krankenbettes sah die arme Anna diese Veränderungen, aber schon mehr als äußerlich getrennt von den Ereignissen. Sie hatte eine geraume Zeit im gleichen Zustande verharrt, und alle hofften, daß sie am Ende wieder aufleben würde. Aber da man es am wenigsten dachte, erschien eines Morgens im Herbste der Schulmeister schwarz gekleidet bei dem Oheim, welcher selbst noch schwarz ging, und verkündete ihren Tod.

In einem Augenblicke war nicht nur das Haus von Klage erfüllt, sondern auch die benachbarte Mühle, und die Vorübergehenden verbreiteten das Leid im ganzen Dorfe. Seit bald einem Jahre war der Gedanke an Annas Tod großgezogen worden, und die Leute schienen sich ein rechtes Fest der Klage und des Bedauerns aufgespart zu haben; denn für eine allgemeine Totentrauer war dieser anmutige, schuldlose und geehrte Gegenstand geeigneter als die eigenen Verluste.

Ich hielt mich ganz still im Hintergrunde; wenn ich auch bei freudigen Anlässen laut wurde und unwillkürlich eine anmaßende Rolle spielte, so wußte ich dagegen, wo es traurig herging, mich gar nicht vorzudrängen und geriet immer in die Verlegenheit, für teilnahmlos und verhärtet angesehen zu werden, und dies um so mehr, als mir von jeher nur die aus Schuld oder Unrecht entstandenen Mißstimmungen, die innere Berührung der Menschen, nie aber das unmittelbare Unglück oder der Tod Tränen zu entlocken vermochten.

Jetzt aber war ich erstaunt über den frühen Tod und noch mehr darüber, daß dies arme tote Mädchen meine Geliebte war. Ich versank in tiefes Nachdenken darüber, ohne Schrecken oder heftigen Schmerz zu empfinden, obgleich ich das Ereignis mit meinen Gedanken nach allen Seiten durchfühlte. Nicht einmal die Erinnerung an Judith verursachte mir Unruhe. Nachdem der Schulmeister seine Anordnungen getroffen, wurde ich endlich aus meiner Verborgenheit hervorgezogen, indem er mich aufforderte, nunmehr mit ihm zurückzugehen und einige Zeit bei ihm zu wohnen. Wir machten uns auf den Weg, indessen die übrigen Verwandten, besonders die noch im Hause lebenden Töchter, versprachen, sogleich nachzukommen.

Auf dem Wege faßte der Schulmeister sein Leid zusammen und gab ihm durch die nochmalige Schilderung der letzten Nacht und des Sterbens, das gegen Morgen eintraf, Worte. Ich hörte alles aufmerksam und schweigend an; die Nacht war beängstigend und leidenvoll gewesen, der Tod selbst aber fast unmerklich und sanft.

Meine Mutter und die alte Katherine hatten die Leiche schon geschmückt und in Annas Kämmerchen gelegt. Da lag sie, nach des Schulmeisters Willen, auf dem schönen Blumenteppich, den sie einst für ihren Vater gestickt und den man jetzt über ihr schmales Bettchen gebreitet hatte; denn nach solchem Dienste gedachte der gute Mann diese Decke immer zunächst um sich zu haben, solange er noch lebte. Über ihr an der Wand hatte Katherine, deren Haar nun schon ganz ergraut war und die aufs heftigste und zärtlichste lamentierte, das Bild hingehängt, das ich einst von Anna gemacht, und gegenüber sah man immer noch die Landschaft mit der Heidenstube, welche ich vor Jahren auf die weiße Mauer gemalt. Die beiden Flügeltüren von Annas Schrank standen geöffnet und ihr unschuldiges Eigentum trat zutage und verlieh der stillen Totenkammer einen wohltuenden Schein von Leben. Auch gesellte sich der Schulmeister zu den beiden Frauen, die vor dem Schranke sich aufhielten, und half ihnen, die zierlichsten und erinnerungsreichsten Sächelchen, deren die Selige von früher Kindheit an gesammelt, hervorziehen und beschauen. Dies gewährte ihm eine lindernde Zerstreuung, welche ihn doch nicht von dem Gegenstande seines Schmerzes abzog. Manches holte er sogar aus seinem eigenen Verwahrsam herbei, wie zum Beispiel ein Bündelchen Briefe, welche das Kind aus Welschland an ihn geschrieben; diese legte er, nebst den Antworten, die er nun im Schranke vorfand, auf Annas kleinen Tisch und ebenso noch andere Sachen, ihre Lieblingsbücher, angefangene und vollendete Arbeiten, einige Kleinode, jene silberne Brautkrone. Einiges wurde sogar ihr zur Seite auf den Teppich gelegt, so daß hier unbewußt und gegen den sonstigen Gebrauch von diesen einfachen Leuten eine Sitte alter Völker geübt wurde. Dabei sprachen sie immer so miteinander, als ob die Tote es noch hören könnte, und keines mochte sich gern aus der Kammer entfernen.

Indessen verweilte ich ruhig bei der Leiche und beschaute sie mit unverwandten Blicken; aber ich ward durch das unmittelbare Anschauen des Todes nicht klüger aus dem Geheimnis desselben, oder vielmehr nicht aufgeregter als vorhin. Anna lag da, nicht viel anders, als ich sie zuletzt gesehen, nur daß die Augen geschlossen waren und das blütenweiße Gesicht beständig zu einem leisen Erröten bereit schien. Ihr Haar glänzte frisch und golden, und ihre weißen Händchen lagen gefaltet auf dem weißen Kleide mit einer weißen Rose. Ich sah alles wohl und empfand beinahe eine Art glücklichen Stolzes, in einer so traurigen Lage zu sein und eine so poetisch schöne tote Jugendgeliebte vor mir zu sehen.

Meine Mutter und der Schulmeister schienen stillschweigend mir ein nahes Recht auf die Verstorbene zuzugestehen, als man verabredete, daß fortwährend jemand bei der Toten weilen und ich die erste Wache halten sollte, damit die übrigen sich in ihrer Erschöpfung einstweilen zurückziehen und etwas erholen konnten.

Ich blieb aber nicht lange allein mit der Anna, da bald die Basen aus dem Dorfe kamen und nach ihnen manche andere Mädchen und Frauen, denen ein so rührendes Ereignis und eine so berühmte Leiche wichtig genug waren, die drängendste Arbeit liegen zu lassen und dem ehrfurchtsvollen Dienste des Menschengeschickes nachzugehen. Die Kammer füllte sich mit Frauensleuten, welche erst einer feierlich flüsternden Unterhaltung pflogen, dann aber in ein ziemliches Geplauder gerieten. Sie standen dicht gedrängt um die stille Anna herum, die jungen mit ehrbar aufeinandergelegten Händen, die älteren mit untergeschlagenen Armen. Die Kammertür stand geöffnet für die Ab- und Zugehenden, und ich nahm die Gelegenheit wahr, mich hinauszumachen und im Freien umherzuschlendern, wo die nach dem Dorfe führenden Wege ungewöhnlich belebt waren.

Erst nach Mitternacht traf mich die Reihe wieder, die Totenwache zu versehen, welche wir seltsamerweise nun einmal eingerichtet. Ich blieb nun bis zum Morgen in der Kammer; aber so schnell mir die Stunden vorübergingen wie ein Augenblick, so wenig wüßte ich eigentlich zu sagen, was ich gedacht und empfunden. Es war so still, daß ich durch die Stille hindurch glaubte das Rauschen der Ewigkeit zu hören; das tote weiße Mädchen lag unbeweglich fort und fort, die farbigen Blumen des Teppichs aber schienen zu wachsen in dem schwachen Lichte. Nun ging der Morgenstern auf und spiegelte sich im See; ich löschte die Lampe ihm zu Ehren, damit er allein Annas Totenlicht sei, saß nun im Dunkeln in meiner Ecke und sah nach und nach die Kammer sich erhellen. Mit der Dämmerung, welche in das reinste goldene Morgenrot überging, schien es zu leben und zu weben um die stille Gestalt, bis sie deutlich im hellen Tage dalag. Ich hatte mich erhoben und vor das Bett gestellt, und indem ihre Gesichtszüge klar wurden, nannte ich ihren Namen, aber nur hauchend und tonlos; es blieb totenstill, und als ich zugleich zaghaft ihre Hand berührte, zog ich die meinige entsetzt zurück, als ob ich an glühendes Eisen gekommen wäre; denn die Hand war kalt wie ein Häuflein kühler Ton.

Wie dies abstoßende kalte Gefühl meinen ganzen Körper durchrieselte, ließ es mir nun auch plötzlich das Gesicht der Leiche so seelenlos und abwesend erscheinen, daß mir beinahe der erschreckte Ausruf entfuhr: »Was hab ich mit dir zu schaffen?« als aus dem Saale her die Orgel in milden und doch kräftigen Tönen erklang, welche nur manchmal in leidvollem Zittern schwankten, dann aber wieder zu harmonischer Kraft sich ermannten. Es war der Schulmeister, welcher in dieser Morgenfrühe seinen Schmerz und seine Klagen durch die Melodie eines alten Liedes zum Lob der Unsterblichkeit zu lindern suchte. Ich lauschte der Melodie; sie bezwang meine körperlichen Schrecken, ihre geheimnisvollen Töne öffneten die unsterbliche Geisterwelt, und ich glaubte derselben durch ein neues Gelöbnis mit der Entschlafenen um so sicherer anzugehören. Das schien mir wiederum ein bedeutungsvoller und feierlicher Vorgang zu sein.


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