Gottfried Keller
Der grüne Heinrich
Gottfried Keller

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Sonst besaß ich, was man gute Bekanntschaften nennt, in der Künstlerwelt nicht mehr, weil ich fast ausschließlich mit Studierenden und angehenden Gelehrten umging und als ein geselliger Hospitant ihre Spruch- und Lebensarten teilte. In demselben Maße büßte ich erst den äußeren, dann auch halbwegs den inneren Habitus eines Kunstjüngers ein. Während Wahl und Pflicht mich an das körperliche Schaffen banden, gewöhnte sich der Geist an das Leben in seiner eigenen Bewegung; das langsame, kaum mehr von Hoffnung beseelte Hervorbringen eines einzigen Gedankens durch die Hände schien voll unnützer Mühsal zu sein, wenn in der gleichen Zeit tausend Vorstellungen auf den Flügeln des unsichtbaren Wortes vorüberzogen. Diese verkehrte Empfindung beschlich mich um so unbewachter, als meine Teilnahme an wissenschaftlichen Dingen sich auf Hören und Lesen, auf bloßes Empfangen und Genießen beschränkte und ich die Arbeit wissenschaftlichen Hervorbringens nicht aus Erfahrung kannte. So drehte ich mich gleich einem Schatten umher, der durch zwei verschiedene Lichtquellen doppelte Umrisse und einen verfließenden Kern erhält.

Mit dieser Beschaffenheit trat ich nun abermals in den unfreien Zustand des Borgens über, als der letzte Taler wirklich ausgegeben war. Der Anfang fiel mir diesmal, als eine untröstliche Wiederholung, schwerer, der Fortgang aber machte sich wie in dumpfem Traume von selbst, bis die Zeit wieder erfüllt war und das Erwachen folgte mit der Not des Bezahlens und des Weiterlebens.

Erst jetzt entschloß ich mich, die Zuflucht nochmals zur Mutter zu nehmen, wie es ja ein Kennzeichen des Menschengeschlechtes ist, daß das Junge, solange es immer angeht, zum Alten zurückkehrt. Jugend, welche sich reiner Absichten und eines guten Willens bewußt ist, weist mit ihrem allgemeinen Weltvertrauen auf ihre lange Zukunft hin, freilich vergessend, daß sie dieselbe leichtlich, ja wahrscheinlich allein erlebt und schließlich die Bitterkeit des Volkswortes nach rückwärts und vorwärts kosten muß, daß eine Mutter eher sieben Kinder erhält, als sieben Kinder die Mutter.

Die neuen Ersparnisse, die sie ohne Zweifel gemacht hatte, konnten nicht so viel betragen, als ich jetzt bedurfte; ich wollte daher gründlich zu Werke gehen und schlug ihr in einem Briefe, worin ich mich noch leichter stellte, als mir zumut war, die Erhebung eines Anleihens auf das Haus vor. Das sei, meinte ich, eine unverfängliche ruhige Sache, welche nach gefundenem Glücksanfang durch meinen Fleiß ebenso ruhig wieder ausgeglichen werde und höchstens einige Zinsen koste. Die Mutter erschrak heftig über diesen Brief, an dessen Statt sie mich selber jeden Tag sehnlich erwartete, wenn auch nicht mit rühmlichem Glücke, so doch in zufriedenem Zustande. Sie sah alles wieder in unbekannte Ferne gerückt. Ersparnisse besaß sie diesmal nur wenige, da sie an unsern Mietern Verluste erlitten; denn der gute Eichmeister war seinen beruflichen Trinkproben erlegen und mit Hinterlassung von Schulden gestorben, und der unzufriedene Beamte hatte in einem Anfalle von Entrüstung über fortwährendes Hintansetzen eine kleine Sportelnkasse geleert und war nach Amerika gegangen, um dort gerechtere Vorgesetzte zu suchen. Dabei hatte er auch meine Mutter mit einem Jahreszinse im Stiche gelassen, so daß mein Unheil sich mit diesen Unglücksfällen in unheimlicher Weise vermengte. Dazu kam die Vereinsamung durch den Tod der Nahestehenden; nach dem Oheim war auch Annas Vater, der Schulmeister, sowie der und jener gute alte Freund gestorben, und noch andere waren aus der Welt gegangen, wie denn zuweilen, wenn die Jahre vorrücken, viele auf einmal gehen, die ihre Zeit erreicht haben. Sie hätte zwar alle diese Toten nicht befragt, was zu tun sei; allein die Einsamkeit vergrößerte ihren Schrecken, und um nur wieder in Bewegung zu kommen und das Lebendige zu spüren, erfüllte sie mein Begehren. Sie suchte einen Geschäftsmann auf, der die verlangte Summe mit allen möglichen Umständen und Formen beschaffte, wobei sie als schüchterne Gesuchstellerin dazustehen hatte. Dann besorgte sie auf erhaltenen Rat mit sauren Gängen noch eine Handelsanweisung, die sie an mich abzusenden endlich froh war. In ihrem Briefe beschränkte sie sich auf eine Beschreibung dieser Mühen, anstatt sich in Ermahnungen und Klagen zu ergehen.

Nun hatte ich, als ich meinen Brief geschrieben, im letzten Augenblick und in der Furcht, zu viel zu verlangen, die Höhe der berechneten Summe fast auf die Hälfte heruntergesetzt und gedacht, es müsse auch so gehen. Der Betrag des Wechsels reichte daher kaum zur Bezahlung der Schulden aus, und auch so war ich genötigt, wenn ich nur auf kurze Frist etwas übrig behalten wollte, für freundschaftlich Geliehenes da oder dort, wo kein Bedürfnis drängte, um Stundung zu bitten. An dem zögernden Gewähren merkte ich, daß die Bitte unerwartet kam, und so zwang mich die Beschämung, sie zurückzuziehen. Nur einer, der mein Erröten sah, wies das Geld zurück, obschon er in Bälde abzureisen willens war. Ich solle es ihm wiedergeben, wenn es mir leichter falle, er könne es jetzt entbehren und werde schon gelegentlich von sich hören lassen.

Durch diese Nachsicht sah ich mich auf eine Reihe von Wochen noch geborgen. Aber der ganze Vorgang erweckte mir ein ernsteres Nachdenken über meine Lage und über mich selbst nach der inneren Seite hin. Plötzlich kaufte ich einige Bücher Schreibpapier und begann, um mir mein Werden und Wesen einmal recht anschaulich zu machen, eine Darstellung meines bisherigen Lebens und Erfahrens. Kaum war ich aber recht an der Arbeit, so vergaß ich vollkommen meinen kritischen Zweck und überließ mich der bloß beschaulichen Erinnerung an alles, was mir ehedem Lust oder Unlust erweckt hatte; jede Sorge der Gegenwart entschlief, während ich schrieb vom Morgen bis zum Abend und einen Tag wie den andern, aber nicht wie ein Sorgenschreiber, sondern wie einer, der während schöner Frühlingswochen in seinem Gartensaale sitzt, ein Glas alten Landweines zur Rechten und einen Strauß junger Feldblumen zur Linken. Ich hatte in der trüben Dämmerung, die mich schon geraume Zeit umgab, das Gefühl bekommen, als ob ich eigentlich keine Jugend erlebt hätte; und nun entwickelte sich unter meiner Hand eine Bewegung jungen Lebens, die trotz aller Bescheidenheit der Zustände und Verhältnisse mich gefangen nahm, beschäftigte und bald mit glückseligen, bald mit reumütigen Empfindungen erfüllte.

So gelangte ich bis zu der Stunde, da ich als Rekrut auf dem Felde stand und die schöne Judith auswandern sah, ohne mich regen zu dürfen. Hier legte ich die Feder weg, weil das seither Erlebte mir noch gegenwärtig war. Die vielen beschriebenen Blätter brachte ich unverweilt zu einem Buchbinder, um sie mittels grüner Leinwand in meine Leibfarbe kleiden zu lassen und das Buch in die Lade zu legen. Nach einigen Tagen ging ich vor Tisch hin, es zu holen. Da hatte der Handwerker mich mißverstanden und den Einband so fein und zierlich gemacht, wie es mir nicht eingefallen war, ihn zu bestellen. Statt Leinwand hatte er Seidenstoff genommen, den Schnitt vergoldet und metallene Spangen zum Verschließen angebracht. Ich trug die Barschaft, die ich noch besaß, bei mir; sie hätte noch für mehrere Tage ausreichen sollen, jetzt mußte ich sie bis auf den letzten Pfennig hinlegen, um den Buchbinder zu bezahlen, was ich ohne weitere Besinnung tat, und anstatt zum Mittagessen zu gehen, konnte ich mich, mit dem unnützesten Werke der Welt in der Hand, nach Hause verfügen. Zum erstenmal in meinem Leben saß ich nicht zu Tisch, wohl fühlend, daß es mit dem Borgen und Bezahlen vorbei sei. In einigen Tagen wäre das merkwürdige Ereignis allerdings doch eingetreten; dennoch überraschte es mich jetzt mit sehr stiller, aber unerbittlicher Gewalt. Ich verbrachte die zweite Hälfte des Tages auf meinem Zimmer und legte mich abends, früher als gewöhnlich, ungegessen zu Bett. Dort erinnerte ich mich plötzlich der weisen Tischreden der Mutter, wenn ich als kleiner Junge das Essen getadelt hatte und sie mir dann vorhielt, wie ich einst vielleicht froh sein würde, nur solches Essen zu haben. Die nächste Empfindung war ein Gefühl der Achtung vor der ordentlichen Folgerichtigkeit der Dinge, wie alles so schön eintreffe; und in der Tat ist nichts so geeignet, den notwendigen Weltlauf gründlich einzuprägen, als wenn der Mensch hungert, weil er nichts gegessen hat, und nichts zu essen hat, weil er nichts besitzt, und dies, weil er nichts erworben hat. An diesen einfachen und unscheinbaren Gedankengang reihen sich von selbst alle weiteren Folgen und Untersuchungen, und indem ich nun völlige Muße hatte und von keiner irdischen Nahrung beschwert war, überdachte ich von neuem mein Leben, trotz des grünseidenen Buches, das auf dem Tische lag, und gedachte meiner Sünden, welche jedoch, da der Hunger mich unmittelbar zum Mitleid mit mir selber stimmte, sich ziemlich glimpflich darstellten.

Hierüber schlief ich friedfertig ein. Zu gewöhnlicher Zeit erwachte ich, auch zum erstenmal ohne zu wissen, was ich am heutigen Tage essen würde. Ich hatte seit einiger Zeit das Frühstück abgeschafft, da ich es überflüssig gefunden; nun wäre ich froh gewesen, es noch zu bekommen, allein die Wirtsleute durften nicht erfahren, daß ich hungerte, sowie es mir jetzt klar wurde, daß das erste Erfordernis meiner neuen Lage die strengste Geheimhaltung sei. Weil ich als ein Überbleibsel schon abgezogener Jugendvölker lebte, besaß ich in diesem Augenblicke nicht einen einzigen Vertrauten, dem man eine so auffällige Tatsache eröffnen konnte. Denn wer, ohne ein Bettler zu sein, eines Tages mitten in der Gesellschaft faktisch nicht mehr essen kann, macht ein Aufsehen wie ein Hund, dem man den Suppenlöffel an den Schwanz gebunden hat. Statt mich hinter meinen gemalten Wäldern still verborgen halten zu können, war ich daher gezwungen, um die Mittagszeit auszugehen. Es lag die hellste Frühlingssonne auf den Straßen; alles eilte vergnüglich durcheinander, jeder nach seinem Tischorte. Ich ging gefaßt hindurch, ohne mir etwas ansehen zu lassen, und bemerkte hiebei, daß die Begierde zunächst nicht sowohl nach einer guten Mahlzeit als nach einem der frischen bräunlichen Brote ging, die ich vor den Bäckerläden liegen sah, so schnell richtete sich der Wunsch des Bedürfnisses nur auf dieses einfachste und allgemeinste Nahrungsmittel, das uralte Wort vom täglichen Brote zu Ehren bringend.

Aber nun galt es wieder, im Vorübergehen das gierige Auge nicht eine Sekunde daran haften zu lassen, damit die Herrschaft des geistigen Menschen aufrecht erhalten blieb, und so ging ich auch, anstatt unentschlossen zu schlendern, raschen Schrittes in eine öffentliche Gemäldesammlung, um dort die Zeit anständig mit Betrachtung der Meisterwerke zu verbringen, deren Urheber in ihren Lebtagen auch dies und jenes hatten erfahren müssen. Es gelang mir, die nagenden Naturkräfte während einiger Stunden zu bändigen und den zwischen ihnen und mir schwebenden Streithandel zu vergessen. Als die Säle geschlossen wurden, ging ich sogleich aus der Stadt und lagerte mich am Flusse in einem frischbelaubten Gehölze, wo ich in leidlicher Ruhe verborgen blieb, bis es dunkel war. Seit zwei langen Tagen an den unheimlichen Zustand schon etwas gewöhnt, beschlich mich eine traurige Geduld, welcher derselbe allenfalls erträglich schien, wenn es nur nicht ärger käme. Ich hörte, wie alle Vögel allmählich ihr Zwitschern einstellten und die Nachtruhe der Kreatur eintrat, während das Geräusch der fröhlichen Stadt herübersummte. Als aber in der Nähe plötzlich das Geschrei eines Vogels ertönte, der von einem Marder oder Wiesel erwürgt wurde, raffte ich mich auf und ging nach Hause.

Ähnlich verlief der dritte Tag, nur daß ich jetzt in allen Gliedern müde wurde, langsamer dahinschlenderte und auch in meinen zerstreuten Gedanken zusehends herunterkam. Eine fast gleichgültige Neugierde, wie es eigentlich werden solle, behielt die Oberhand, bis am vorgerückten Nachmittage, als ich ziemlich weit von Hause in einem offenen Garten saß, der Hunger so heftig und peinlich sich erneuerte, daß ich vollständig das Gefühl hatte, wie wenn ich in menschenleerer Wüste von einem Tiger oder Löwen angefallen wäre. Eine Art Todesgefahr war jetzt augenscheinlich; aber sie bezwang gerade in dieser höchsten Not meinen neu bestärkten Vorsatz nicht, keine Hilfe anzusprechen. Ich marschierte so ordentlich, als es gehen wollte, nach meiner Wohnung und legte mich zum dritten Male ungegessen zu Bette; glücklicherweise mit dem Gedanken, daß das kein schmählicheres Abenteuer sei, als wenn ich mich etwa im Gebirge verirrt hätte und dort drei Tage ohne Nahrung zubringen müßte. Ohne diesen Trost würde ich eine sehr schlimme Nacht verlebt haben, während ich wenigstens gegen Morgen in einen schlafähnlichen Zustand geriet, aus welchem ich erst erwachte, als die Sonne schon hoch am Himmel stand. Freilich fühlte ich mich jetzt ernstlich schwach und unwohl und wußte nicht, was zu tun sei.

Erst jetzt wurde ich recht ärgerlich und etwas weinerlich und gedachte der Mutter, nicht viel anders als ein verlaufenes Kind. Wie ich aber dieser Geberin meines Lebens gedachte, fiel mir auch ihr höchster Schutzpatron und Oberproviantmeister, der liebe Gott, wieder ein, der mir zwar immer gegenwärtig war, jedoch nicht als Kleinverwalter. Und da in der Christenheit das objektlose Gebet damals noch nicht eingeführt war, so hatte ich mich auf der glatten See des Lebens aller solchen Anrufungen längst entwöhnt. Diejenige, nach welcher sich unmittelbar der unkluge Römer eingefunden, war meines Erinnerns die letzte gewesen.


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