Gottfried Keller
Der grüne Heinrich
Gottfried Keller

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Fremde Liebeshändel

Die räumliche Entfernung unserer Heimatlande untereinander, indem sie im äußersten Norden, Westen und Süden des ehemaligen Reichsrandes liegen, verband uns mehr, als daß sie uns trennte. Alle drei von einem gleichen inneren Zuge der gemeinsamen Abstammung beseelt und an den großen Binnenherd der Völkerfamilie gekommen, befanden wir uns in der Lage weitläufiger Vettern, die im Gedränge eines gastfreien Hauses unbeachtet die Köpfe zusammenstecken und sich Lob oder Tadel dessen, was ihnen gefiel oder mißfiel, gegenseitig anvertrauen. Wir hatten freilich schon ein und anderes Vorurteil mitgebracht, ohne unsere Schuld. Es war jene Zeit, da Deutschland von seinen dreißig oder vierzig Inhabern so engsinnig und ungeschickt verwaltet wurde, daß Scharen von Vertriebenen jenseits der Grenzen umherzogen und die Fremden im Schmähen und Schelten gegen ihr Vaterland förmlich unterrichteten. Sie setzten Spottworte in Umlauf, welche den Nachbarn bisher unbekannt gewesen waren und nur aus dem Innern des gescholtenen Landes kommen konnten, und da die Gaben der Selbstironie, deren Übertreibung das Phänomen am Ende war, außerhalb Deutschlands nur spärlich verstanden und geschätzt werden, so nahm der Fremde das Unwesen zuletzt für bare Münze und lernte es selbständig gebrauchen oder mißbrauchen, zumal man sich mit solchem Tun förmlich einschmeicheln konnte bei den Unglücklichen, die in ihrer Weltunkenntnis hievon Hilfe und Beistand erwarteten. Jeder von uns hatte dergleichen gehört und in sich aufgenommen. Mit der Zeit aber führte uns das vertraute Gespräch zu der Verständigung, daß die Ausgewanderten und die Daheimgebliebenen jederzeit verschiedene Leute seien, und daß, um den Charakter eines Volkes recht zu kennen, man dasselbe bei sich und an seinem Herde aufsuchen müsse. Es sei geduldiger und darum auch besser, als die Ausgeschiedenen, und stehe daher nicht unter, sondern über ihnen, trotz des gegenteiligen Anscheines, den es schließlich immer zu vernichten wisse.

Waren wir nun hierüber beruhigt, so plagte uns wieder ein anderes Übel, nämlich der Gegensatz zwischen den Südlichen und Nördlichen. Bei Völkerfamilien und Sprachgenossenschaften, welche zusammen ein Ganzes bilden sollen, ist es ein wahres Glück, wenn sie einander etwas aufzurücken und zu sticheln haben; denn wie durch alle Welt und Natur bindet auch da die Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit, und das Ungleiche und doch Verwandte hält besser zusammen. Das aber, was wir die Nord- und Südländer sich vorwerfen hörten, war gröblich beleidigend und lieblos, indem diese jenen Herz und Gemüt, jene diesen Geist und Verstand absprachen, und so unbegründet die Tradition war, gab es nur wenige tüchtige Personen beider Hälften, welche nicht daran glaubten. Oder jedenfalls zeigten nur wenige den Mut, die schlendrianischen Reden solcher Art zu unterbrechen, wenn sie unter den Ihrigen waren. Um für unser Bedürfnis den vermißten idealen Zustand herzustellen, gaben wir uns das Wort, jedesmal wenn der Fall eintrat, als Unparteiische aufzutreten, ob wir einzeln oder in Kompanie zugegen seien, und für den, wie wir glaubten, mißhandelten Teil einzustehen. Zuweilen gelang es uns, einige Verblüffung zu erregen oder gar eine wohlwollende Wendung hervorzurufen; andere Male dagegen wurden wir selbst da- oder dorthin klassifiziert und je nach unserer Herkunft als einfältige Biederleute und Gemütsduseler oder als überkritische, geistreiche Hungerschlucker bezeichnet. Weil das aber uns keineswegs unglücklich machte, vielmehr unsere Heiterkeit wachrief, so wurde wenigstens der schneidende Ton der Unterhaltung gemildert und ein leidlicher Ausgleich zustande gebracht.

Unser Mittleramt wurde aber eines Tages überflüssig und zugleich schönstens belohnt, als die ganze reich geartete Künstlerschaft die kommende Faschingszeit zu feiern, sich zusammentat, um in einem großen Schau- und Festzuge ein Bild untergegangener Herrlichkeit zu schaffen, nicht mit Leinwand, Pinsel und Meißel, sondern mit Einsetzung der lebendigen Person. Es sollte das alte Nürnberg wieder auferweckt werden, wie es in beweglichen Menschengestalten sich darstellen konnte und wie es zu der Zeit war, als der letzte Ritter, Kaiser Maximilian I., in ihm Festtage feierte und seinen Sohn Albrecht Dürer mit Ehren und Wappen bekleidete. In einem einzelnen Kopfe entstanden, wurde die Idee sogleich von achthundert Männern und Jünglingen, Kunstbeflissenen aller Grade, aufgenommen und als tüchtiger Handwerksstoff ausgearbeitet und ausgefeilt, als ob es gälte, ein Werk für die Nachwelt zu schaffen, und es erwuchs in der sachgerechten und allseitigen Vorbereitung eine Lust und Geselligkeit, welche wohl an Macht von der Freude des Festtages überboten wurde, in der Erinnerung jedoch ein lieblich heller Teil des Ganzen blieb.

Der Festzug zerfiel in drei Hauptzüge, von denen der erste die Nürnbergische Bürger-, Kunst- und Gewerbswelt, der zweite den Kaiser mit den Fürsten, Reichsrittern und Kriegsmännern und der dritte einen alten Mummenschanz umfaßte, wie er von der bedeutenden Reichsstadt dem gekrönten Gast vorgeführt wurde. In diesem letzten Teile, welcher recht eigentlich ein Traum im Traume genannt werden konnte, hatten wir dreie unsern Standort gewählt, um als verdoppelte Phantasiegebilde im Schattenbilde der Vergangenheit mitzuziehen.

Der Ernst und die feierliche Pracht, womit die Unternehmung von vornherein angelegt war, hatten die Teilnahme des weiblichen Geschlechtes nicht ausgeschlossen; Frauen, Töchter, Bräute der Künstler und deren Freundinnen aus den andern Ständen bereiteten demnach ihre festliche Umkleidung vor, und es gehörte nicht zu den geringsten Vorfreuden der Männer, an der Hand der alten Trachtenbücher das wichtige Geschäft zu leiten und darüber zu wachen, daß die Sammet- und Goldstoffe, die schweren Brokate und die duftigen Flore für die schlanken Gestalten richtig zugeschnitten und zusammengesetzt, die Haare in gehöriger Weise geflochten oder ausgebreitet wurden, die Federhüte, die Barette, Hauben und Häubchen aller Art Form und Stil bekamen und gut saßen. Zu diesen Beglückten zählten sich auch meine Freunde Erikson und Lys, von denen jeder in seiner Weise auf einem Liebeswege ging.

In die jährliche Verlosung, welche mit der Gemäldeausstellung verbunden war, hatte Erikson eines seiner kleinen Bilder verkauft, und dasselbe war von der Witwe eines großen Bierbrauers gewonnen worden, die nicht gerade im Rufe einer Kunstfreundin stand, sondern mehr in Erfüllung einer Anstandspflicht reicher Leute sich an diesen Dingen beteiligte. Da es öfters vorkam, daß so gewonnene Gegenstände an zudringliche Händler verschleudert wurden, so suchten die Künstler ihr Werk in solchem Falle wieder zu erwerben, um den Gewinn selbst zu machen. Auch Erikson hatte bei gedachter Gelegenheit den Versuch gewagt und gehofft, das Bild um ermäßigten Preis an sich zu bringen, um es abermals zu verkaufen und der Mühsal der Erfindung und Ausführung eines neuen Werkleins für einmal enthoben zu sein. Denn er war bescheiden und hielt nicht dafür, daß das Bestehen der Welt von der Unerschöpflichkeit seines Fleißes abhänge. Er suchte also die Wohnung der Gewinnerin unverweilt auf und stand bald auf dem Vorsaale des Witwensitzes, dessen Stattlichkeit das Gerücht von dem Reichtum des verstorbenen Brauers zu bestätigen schien. Eine alte Dienerin, welcher er sein Anliegen mitteilen mußte, brachte ihm ohne Zögern den Bericht, daß die Herrin das Bild mit Vergnügen abtrete, daß er aber ein andermal wieder vorsprechen möge. Weit entfernt, über solche Willfährigkeit und Geringschätzung empfindlich zu sein, ging Erikson ein zweites und drittes Mal hin, und erst jetzt wurde er etwas betroffen und erbost, als die Dienerin endlich kundtat, die bequeme Dame verkaufe das Bild um ein Viertel des angegebenen Wertes und bestimme das Geld für die Armen; der Herr Maler möge, um nicht fernere Mühe zu haben, es am anderen Tage bestimmt abholen und das Geld mitbringen. Er tröstete sich indessen mit der Aussicht, nun jedenfalls ein Vierteljahr nicht malen zu müssen, und das Wetter ausspähend, ob es gute Jagdtage verspreche, machte er sich zum vierten Male auf den Weg.

Die unvermeidliche Alte führte ihn in ihr kleines Dienstgemach und ließ ihn da stehen, um das Kunstwerkchen herbeizuholen. Dieses war aber nirgends zu finden; immer mehr Bedienstete, Köchin, Kammermädchen, Hausknecht und Kutscher rannten umher und suchten in Küche, Keller, Kammern und Remisen. Endlich rief das Geräusch die Witwe herbei, und als sie, die, nach dem kleinen Bildchen urteilend, gewähnt hatte, einen ebenso kleinen und dürftigen Urheber zu finden, nun den mächtigen Erikson dastehen sah, dessen Goldhaar glänzend auf die breiten Schultern fiel, geriet sie in die größte Verlegenheit, zumal er, aus einem ruhigen Lächeln erwachend, sie mit festem offenem Blicke betrachtete wie eine Erscheinung. Sie war aber auch des längsten Anschauens wert; von der Rosenfarbe der Gesundheit und Lebensfrische überhaucht, kaum vierundzwanzig Sommer alt, vom reinsten Ebenmaß an Gestalt und Gliedern, mit braunem Seidenhaar und braunen lachenden Augen, konnte ihr Wesen kurz und gut als ein aphroditisches im besten Sinne bezeichnet werden, ein solches nämlich, das der Eignerin wohl bewußt war und von ihr selbst darum mit edler Sitte gehütet wurde.

Um die gegenseitige Verwunderung und Verlegenheit zu endigen, lud die Errötende mit zurückgekehrter Geistesgegenwart den Maler ein, in das Zimmer zu treten, und wie sie dort waren, entdeckte er die kleine Gemäldekiste, welche als Fußschemel unter dem Arbeitstischchen der Witwe stand, von dieser nicht beachtet oder vergessen.

»Hier ist's ja!« sagte Erikson und zog das Kistchen hervor. Es war noch nicht einmal geöffnet worden; denn der Deckel haftete noch leicht aufgeschraubt an demselben. Erikson machte ihn mit wenig Mühe los, und das kleine Bild glänzte nun in seinem Rahmen, der nach einem alten reichen Muster gearbeitet war, mit aller Frische im Tageslichte. Inzwischen hatte die junge Frau die Lage der Dinge schnell zu erfassen gesucht und wünschte vor allem der Beschämung zu entgehen, die ihr die nachlässige Art, eine Kunstsache zu behandeln, zuziehen konnte. Von neuem errötend, sagte sie, sie habe in der Tat nicht gewußt, um was es sich handle; nun aber, obgleich sie keine Kennerin sei, scheine ihr doch das Bildchen von vorzüglichem Werte und sie glaube, den Schöpfer desselben zu beleidigen, wenn sie nicht mindestens die Hälfte des Ankaufspreises verlange. Besorgt, sie möchte ihre Forderung abermals erhöhen, beeilte sich Erikson, die Börse zu ziehen und die Goldstücke hinzulegen, indes die Dame das einfache Landschäftlein immer aufmerksamer betrachtete und die schönen Augen in dem sonnigen Gefildchen spazieren gehen ließ, wie wenn sie Land und Meer des Golfes von Neapel vor sich hätte. Dann blickte sie wie verschüchtert zu dem Recken empor und begann wieder: je mehr sie das Bild ansehe, desto besser gefalle es ihr, und sie müsse nun die volle Summe dafür fordern!

Seufzend bot er ihr drei Vierteile, um wenigstens etwas zu retten. Allein sie scheute sich keineswegs, auf ihrer Wortbrüchigkeit zu beharren, und erklärte, das Bild lieber behalten, als es unter dem Werte hingeben zu wollen. »In diesem Falle wäre es lieblos von mir«, versetzte Erikson, »mein kleines Werk einer so guten Stelle zu berauben; auch habe ich keine weitere Ursache mehr, auf einem Handel zu bestehen, der mir keinen Gewinn bringt!«

Er strich hiemit sein Geld wieder ein und machte Anstalt, sich zu entfernen. Doch die Schöne, den Blick auf das Bildchen gerichtet, bat ihn mit einiger Verlegenheit, noch einen Augenblick zu verziehen. Erst jetzt bot sie ihm einen Stuhl an, um Zeit zu gewinnen, ihre Genugtuung für den solchem Manne angetanen Affront vollständig zu machen. Endlich besann sie sich auf den schicklichsten Ausweg und fragte Erikson mit höflichen Worten, ob sie ein Gegenstück zu dem Bilde bei ihm bestellen dürfe, das ebenso freundlich und friedlich auf das Auge wirke, so daß sie sozusagen für jedes Auge einen solchen Ruhepunkt hätte, wenn sie an ihrem Schreibtisch säße, über welchem sie die Bildchen aufzuhängen gedenke. Dieser optische Unsinn erweckte eine vergnügliche innere Heiterkeit des Malers, und obgleich er hergekommen war, um eine Verminderung statt Vermehrung der Arbeit zu erzielen, bejahte er natürlich die Frage in verbindlicher Weise, worauf aber die Witwe plötzlich die Unterhaltung abbrach und den Maler mit zerstreutem Wesen entließ.

Diesen bisherigen Verlauf hatte uns Erikson am Abend des gleichen Tages als hübsches Abenteuer selbst erzählt; in der folgenden Zeit aber kam er nicht mehr darauf zurück, sondern beobachtete über den Gegenstand ein sorgfältiges Schweigen. Wir errieten trotzdem an einem Zeichen, wie es stand, als er eines Tages, von dem fertig gewordenen zweiten Bildchen sprechend, nicht vermeiden konnte, der Bestellerin zu erwähnen, und sie dabei unvorsichtig bei ihrem Taufnamen Rosalie nannte. Wir andere sahen uns schweigend an; denn wir mochten ihn als aufrichtige Freunde, die ihm verdientermaßen zugetan waren, auf seinen Wegen nicht stören.


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