Gottfried Keller
Der grüne Heinrich
Gottfried Keller

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Das eiserne Bild

Obgleich noch nicht Weihnacht war, schien gegen die Ordnung der Natur in der Tat der Lenz kommen zu wollen. Während die Worte und die Melodie von Dorotheas Frühlingslied mir in den Ohren klangen, hörte ich die ganze Nacht den Südwind wehen, den schmelzenden dünnen Schnee von den Dächern tropfen, und am Morgen lag eine unnatürlich warme Sonne auf den getrockneten Gefilden, während die Bäche voller dahinrauschten und murmelten. Nur die Blumen, die Maßliebchen und die Schneeglöckchen fehlten. Dennoch tönte es noch fortwährend in mir: Der Mai ist vor der Tür, du bleibest ewig tot, blühst du nicht jetzt und hier!

Noch gestern hatte ich geglaubt, mit meiner verschwiegenen Verliebtheit hoch über allem zu stehen, was ich je über Liebe gedacht und empfunden, und nun mußte ich erfahren, daß ich keine Ahnung gehabt von der Veränderung, die in dieser falschen Frühlingsnacht vorging.

Das Gattungsmäßige im Menschen erwachte mit aller Gewalt seines Wesens in mir; das Gefühl der Schönheit und Vergänglichkeit des Lebens verdoppelte sich, und zugleich schien mir alles Heil der Welt nur auf diesen zwei schönen Augen zu stehen; während ich sie aber aus Dankbarkeit schon für ihr bloßes Dasein liebte und ehrte, verschmähte ich, sie auch nur in Gedanken mit meiner Person zu behelligen aus lauter Demut und Furcht, und doch war Demut wie Furcht wieder eine Lüge, wenn sie zwanzigmal mit unbestimmten Hoffnungen, mit Vorstellungen von Glück und Freude wechselten, statt zum Entschlusse weiser Flucht zu führen.

Mit Ruhe und Arbeit war es nun vorbei; denn sowie ich etwas in die Hand nehmen wollte, verirrten sich meine Augen in das Weite, und alle Gedanken flohen dem Bilde der Geliebten nach, welches, ohne einen einzigen Augenblick zu weichen, überall um mich her schwebte, während es zu derselben Zeit schwer wie aus Eisen gegossen in meinem Herzen lag, schön, aber unerbittlich hart und schwer. Von diesem eisernen Drucke, der mir sehr neu und grausam vorkam, war ich nur in Dortchens Gegenwart frei; kaum sah oder hörte ich sie nicht mehr, so stellte er sich wieder ein, und ich konnte ihn füglich ebensowohl als ein körperliches wie als ein moralisches Übel betrachten. Die Heftigkeit des Zustandes wurde keineswegs durch das beschämende Bewußtsein gemildert, daß ich an dem eben verbannten Peter Gilgus einen drolligen Genossen besaß; wie ich überhaupt nicht viel von der Meinung halte, physische oder geistige Leiden seien leichter zu tragen, wenn sie mit andern geteilt werden. War Gilgus auch in seiner Art von mir verschieden, so standen wir uns doch darin gleich, daß beide als arme Zuflüchtige in das Haus gekommen und mit dem Begehren nach der Tochter endeten.

Der unzeitige Frühling hielt wochenlang an; in den Gehölzen blühte schon der Seidelbast, so daß ich am Weihnachtsabend, da ich nichts anderes hatte, eine Handvoll der roten duftenden Zweige auf den Bescherungstisch legen konnte. Es wurde übrigens nur den Angestellten und Dienstleuten beschert und ohne weitere Festlichkeit; denn der Graf sagte, es zieme sich nicht, mit den Kirchlichen nur die Lustbarkeiten, nicht aber die Peinlichkeiten und die Andachten zu teilen. Als der Tisch geleert und das Volk abgezogen war, lag mein Strauß noch da. Dorothea ergriff ihn und sagte: »Wem gehört denn eigentlich die schöne Daphne? Gewiß mir, ich seh's ihr an!«

»Wenn Ihnen die Jahreszeit nicht allzu verdächtig ist«, sagte ich, »so erbarmen Sie sich dieser zu früh gekommenen Sendboten!«

»Ei was, man muß das Gute nehmen, wie's kommt. Haben Sie Dank; wir wollen die Zweige gleich ins Wasser stellen, sie sollen uns das ganze Haus durchduften!«

Dorothea war nicht nur an diesem Abend, sondern über die ganze Festzeit aufgeräumt und von lieblichster Laune, besonders am Neujahrstage, wo zum ersten Male, seit ich im Hause war, sich eine größere Gesellschaft zu einem Festmahle einfand. Nicht nur der Kaplan, sondern auch der Pfarrherr, der Arzt, ein Oberamtmann und einige Edelleute, Jugendgenossen des Grafen, welche trotz seiner verpönten Gesinnungen ihm zugetan blieben, waren da. Selbst ein paar aufgeweckte ältere Damen kamen angefahren und verbreiteten sogleich den guten freien oder den freien guten Ton, der in gewissen Zeiten oft nur noch in der Gewalt der alten Frauen steht, die andere Tage gesehen haben und für sich nichts mehr fürchten noch hoffen. Es wurde nichts gesagt, was der einzelne nicht hören durfte, und doch auch nichts verschwiegen, was irgend mit wohlwollender Heiterkeit anzubringen war. Jeder fand seine Gelegenheit, ein Wort mitzusprechen, und keiner mißbrauchte sie, weil das Treffendere und deshalb scheinbar Neuere schon gesagt war, sofern einer darauf ausging, dergleichen zu leisten. Selbst der Kaplan übte seine Künste mit höflicher Mäßigkeit, und der Pfarrherr, ein rechtgläubiger, aber nicht bösartiger Katholik, zog von vornherein eine so generöse Linie des allenfalls zu Duldenden um seine behagliche Person, daß die Überschreitung der Grenzwehr niemandem einfiel und sogar nicht einmal eine merkliche Annäherung versucht wurde.

Ungeachtet dieses heiteren Daseins nahm ich meine Zeit wahr, um mich für einmal zurückzuziehen, da ich durch mein Dableiben weder aufzufallen noch zu stören wünschte. Für den Augenblick etwas ruhiger geworden, begab ich mich in die alte Hauskapelle und machte mir dort einiges mit meinen Bildern zu schaffen, die halb eingetrocknet dastanden.

Wie ich mich so in der Stille befand, kam mir plötzlich die Mutter in den Sinn, welche in der fernen Heimat saß und nicht wußte, wo ich war, indessen es mir hier wohl erging. Längst hätte ich ihr nun Nachricht geben können und sollen, da sich die Umstände ja für einmal tröstlich verändert hatten; daß ich es dennoch immer verschob, geschah aus unklar ineinander fließenden Ursachen. Erstlich hielt ich allerdings meine Angelegenheiten nicht mehr für so wichtig und besprechenswert, seit ich aus der Not erlöst war; dann dachte ich wieder, durch die Freude meiner unvermuteten Ankunft alles gut zu machen, bis wohin die kurze Spanne Zeit, gegenüber den verflossenen Jahren, nicht mehr in Betracht käme; endlich aber scheute ich mich unbewußt, bei dem jetzigen inneren Zustande irgendeinen Laut von mir zu geben, zumal die geheime Selbstliebe trotz aller gegenteiligen Gedankengänge und Vorsätze sich doch nicht eingestehen wollte, daß jede Entscheidung undenkbar sei. Als ich nun in einiger Ruhe dies Wirrsal beschaute, faßte ich doch den Entschluß, die stille Stunde zu benutzen und der Mutter zu schreiben, wo ich sei, wie es mir gehe und daß ich bald heimkehren werde. Zu diesem Zwecke ging ich nach dem Gartenhause hinüber, wo ich etwas Bücher und Schreibzeug liegen hatte. Auf dem Wege dahin bemerkte ich, daß die Gesellschaft sich in dem wie im Frühlingslichte ruhenden Park erging; das konnte mir als merkwürdiges Bild eines Neujahrstages und meines Aufenthaltes gleich zum Eingange des Briefes dienen. Kaum war ich aber in meinem Zimmer oder Schlafsälchen angelangt, so klopfte es, und Röschen, die Gärtnerin, erschien in der Sonntagstracht der Landesgegend vom zierlichsten Schnitte; die wollene, pelzverbrämte Jacke trug sie der warmen Luft wegen nur am Arme, so daß die Brustbekleidung von grüner Seide mit ihren silbernen Häkchen und Knöpfchen den Wuchs des hübschen Mädchens um so feiner zeichnete. Ein kleines Gehäube, von schwarzem Sammet und Spitzen zusammengesetzt, bekleidete den Ausgang der starken goldenen Zöpfe, von denen der eine wie aus Übermut über die Schultern nach vorn gezogen war und mit der Jacke auf dem Arme lag.

Sie war von seite des Fräuleins an mich abgesandt mit der Aufforderung, sogleich nebst der Botin zu ihr zu kommen und den Frauenzimmern den Ort zu zeigen, wo ich den blühenden Seidelbast gefunden habe. Das Mädchen lächelte artig und schalkhaft bei seiner Verrichtung, seines vorteilhaften Aussehens wohl bewußt; der schöne Anblick saß mir auch fest im Auge, doch nahm ich denselben lediglich zugunsten der Herrin, deren Schönheit ich ihm zurechnete. Ohne Zögern ließ ich liegen, was ich vorgehabt, und eilte mit dem Mädchen durch Bäume und Herrschaften nach dem Kirchhofe, wo Dorothea wartete.

»Wo stecken Sie denn?« rief sie mir entgegen, »wir wollen noch mehr von dem blühenden Zeiland suchen, das kann man nicht alle Neujahrstage. Überdies sind wir die einzigen jungen Leute hier und dürfen uns auf unsere Weise auch ein bißchen des Lebens freuen!«

Sie ergriff somit meinen Arm, und wir gingen, von Röschen begleitet, nach dem Buchenwald, den wir in acht oder zehn Minuten erreichten. Der Waldboden war trocken wie im Sommer, und sobald wir ihn betraten, fing Dortchen an zu singen, und zwar ein wirkliches Volkslied und im Tone, wie das Volk selber singt, treuherzig und selbst mit den kleinen Schnörkeln verziert, die jenes anzuhängen pflegt. Röschen fiel alsbald mit der zweiten Stimme ein, etwas tief und derb, so daß es klang, wie wenn zwei gesunde Landmädchen durch den sonntäglichen Wald gingen. Natürlich waren es von den wehmütigen Liebesgeschichten, die sie eine nach der andern anstimmten und andächtig zu Ende führten, ohne daß Dortchen meinen Arm fahren ließ, bis ein rötlicher Glanz uns anzeigte, daß einige Sträucher der gesuchten Pflanze in der Nähe waren; denn die sinkende Sonne streifte durch die Buchenstämme und traf die blühenden Zweige der Daphneen, wie Dortchen sie mit dem botanischen Titel nannte, der mir unbekannt gewesen. Sie jauchzte fröhlich auf und beide Mädchen liefen sogleich hin, von den narkotisch duftenden Zweigen die schönsten zu brechen, während ich mich auf den Stamm eines gefällten Baumes setzte und ihnen zuschaute, mit Wohlgefallen jeder ihrer Bewegungen mit den Augen folgend.

Als sie ihre Ernte gehalten, ging Röschen weiter, noch mehr Sträucher aufsuchend, und das Mädchen verlor sich allmählich hinter den Bäumen. Dorothea hingegen kam und ließ sich bei mir nieder, indem sie mir ihren Blütenstrauß unter die Nase hielt.

»Ist es nun nicht hübsch hier«, sagte sie, »und sind Sie nicht froh, daß wir Sie aus Ihrem Schlupfwinkel geholt haben?«

»Ich wollte an meine Mutter schreiben«, antwortete ich.

»Haben Sie ihr denn nicht schon früher auf den heutigen Tag einen Neujahrsbrief geschickt?«

»Ich habe ihr noch nicht geschrieben, seit ich hier bin; sie weiß gar nicht, wo ich lebe!«

»Sie weiß es gar nicht? Wie können Sie so was tun?«

Ich blickte seitwärts und kratzte mit den Fingern ein kleines Moosgärtlein weg, das auf der silbergrauen Rinde des Stammes saß. Dann sagte ich, daß ich einen so langen Aufenthalt nicht vorgesehen und endlich gedacht hätte, die Mutter um so froher zu überraschen, wenn ich schließlich selber käme.

»Das muß ich sagen«, rief sie, »morgen müssen Sie aber schreiben, ich leid es nicht länger! Wer ein solches Mütterchen hat, sollte seinem Schöpfer danken! Wissen Sie, daß Ihr Buch aussieht wie ein Herbarium? Überall, wo mir etwas Freude machte, oder wo ich Ihnen gern die Leviten gelesen hätte, legte ich ein grünes Blatt oder Gras hinein. Es liegt in meinem Sekretär eingeschlossen. Mehr als einmal, wenn ich von Ihrer Mutter las, dachte ich, könntest du doch bei einem solchen Mütterchen mit unterkriechen, die du keines gekannt hast! Aber morgen wird geschrieben! Sie müssen auf meinem Zimmer schreiben, und ich geh Ihnen nicht von der Seite, bis der Brief fertig und zugemacht ist, und wenn Sie folgsam sind, so schreib ich selbst noch einen Gruß mit hinein!«

»Das wird doch nicht wohl angehen!« sagte ich.

»Warum denn nicht? O gefrorner Christ! Warum denn nicht? Darf ich Ihre Mutter nicht grüßen? Und wollen Sie nicht schreiben?«

Statt zu antworten, arbeitete ich fleißig weiter an der Ausreutung des Moosfleckes; denn das eiserne Abbild Dortchens drehte sich in meinem Herzen um, während ich neben dem Urbilde saß, was es sonst nie tat, und es war, als ob es mit furchtbarem Druck der schweren Eisenhände sich gegen die Wände seiner dunklen Behausung stemmte. Indessen ergriff sie meine Hand und wiederholte mit leiserer Stimme: »Warum wollen Sie nicht? Oder soll ich für Sie schreiben, gleichsam in Ihrem Auftrage? Nein, das geht auch nicht! Aber diktieren will ich Ihnen, was ich denke, daß es der Mutter Vergnügen macht, und Sie brauchen bloß nachzuschreiben! Nun?«

Eh ich aber antworten konnte, war Röschen mit einer ganzen Schürze voll Märzglöckchen herbeigesprungen, die sie gefunden, und es war Zeit, zum Schlosse zurückzugehen. Dortchen ließ das Gespräch fallen. Sie nahm auf dem Rückwege meinen Arm nicht wieder, ging aber dicht neben mir her. Plötzlich sagte sie: »Röschen, leih mir deine Jacke, wenn du sie nicht brauchst! Es fängt doch an, mich zu frösteln!«

Röschen reichte ihr das Kleidungsstück; es fand sich aber, daß es für den höheren Wuchs der Dorothea zu klein und eng war, so daß sie es nicht anziehen konnte.

»Wollen Sie sich nicht meines Rockes bedienen?« sagte ich mit unbeholfenem Scherze, und sie antwortete: »Nein, in Ihrer Haut mag ich nicht stecken, Sie kalter Fisch!«

Ins Schloß zurückgekehrt, hatte sie dem Tee vorzustehen, der noch eingenommen wurde, und nachher der Verabschiedung der einzelnen Gäste beizuwohnen. Als ich mit dem Grafen und dem Kaplane noch bei einem Glase Punsch zusammensetzen mußte, kam sie, gute Nacht zu wünschen. Sie legte dem erstern den Arm um die Schultern und sagte scherzhaft weinerlich: »So eine Adoptivtochter führt doch ein elendes Leben! Nicht einmal ihrem Vater darf sie einen Kuß geben, wenn sie zu Bett geht!«

»Was fällt dir ein, du Närrchen?« sagte der Graf lachend, »das geht allerdings nicht und würde sich nicht schicken!«

Hier wendete sich das Eisen wieder in meinem Herzen und drückte mich jämmerlich die ganze Nacht. Dazu fing es an mir den Hals zuzuschnüren, und ich konnte nicht anders Luft bekommen als durch den Ausbruch einer Tränenflut und erbärmlichen Schluchzens, zum erstenmal in meinem Leben wegen Liebessachen. Der Unwillen über diese Schwachheit vermehrte das Übel sowie auch die unliebsam Entdeckung, daß durch die wahre Leidenschaft, als welche ich die Geschichte ansah, die Freiheit der Person und jede vernünftige Selbstbestimmung verloren gehe, mich elend machte.


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