Gottfried Keller
Der grüne Heinrich
Gottfried Keller

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8

Der wandernde Schädel

So ging es in den Nächten zu. Wie ich die Tage damals verbracht, weiß ich mir kaum mehr vorzustellen; es war die verwunderlichste Übung der Geduld mit dem Schicksal, das will sagen mit sich selbst. Und wie ich vorahnend gedacht, löste sich der Ausgang auf diese Weise am leichtesten von den Dingen. Es dauerte nicht viele Tage, so zeigte es sich, daß mein verwitweter Hauswirt ohne seine Frau nicht bestehen konnte und sich genötigt sah, die Haushaltung aufzulösen, die Kinder einstweilen den Eltern der Verstorbenen zuzuschicken und die Wohnung zu räumen. Schon waren die Kleinen fort, als der Mann mir mürrisch und gleichgültig anzeigte, ich habe eine andere Unterkunft zu suchen, da er selbst am nächsten Tage ausziehe.

Ich hatte nun all die Jahre her in dem Hause gewohnt, und da ein übles Geschick meine fahrende kleine Habe auseinandergeblasen, so beschloß ich auf der Stelle, nach der Heimat zu gehen, statt einen bettelhaften Einzug in eine neue Wohnung zu halten. Ich änderte auch den Entschluß nicht, als mir nach Abtrag dessen, was ich dem Manne und andern noch etwa schuldig war, von dem bei Herrn Josef Schmalhöfer erworbenen Reichtum nicht so viel übrig blieb, womit ich hätte fahren können. Es reichte vielmehr zur Not für eine Fußwanderung hin, wenn ich das Geld genau einteilte, Tag und Nacht im Freien blieb und nur wenig Nahrung genoß.

Um nun aber in den abgetragenen Kleidern nicht völlig einem Landfahrer ähnlich zu sehen, griff ich zum letzten Hilfsmittel, nämlich zu den Bildchen, die ich bei dem jüdischen Kunstschneider hängen hatte. Ohne Zeit zu verlieren, ging ich zu ihm, nahm auch jenes etwas größere, auf der Ausstellung verunglückte Stück mit und frug ihn, ob er mich für die drei Malereien neu und gut kleiden, und was er noch an barem Gelde herauszahlen wolle.

Zu letzterem war er natürlich nicht zu bewegen; dafür fiel der Anzug leidlich gut aus, den zu liefern er nach seiner Geschäftsmaxime gleich bereit war; er ließ sich sogar zur Leistung eines festen stattlichen Hutes herbei, dessen Rand den Hals gegen den Regen zu schützen versprach. Ich fand mich bei alledem wohl bedient und beraten und schied zufrieden von dem Nothelfer, nachdem ich in einer Hinterstube die Kleider gewechselt und ihm den abgelegten Habit als Zeichen meiner Erkenntlichkeit für menschenfreundliche Behandlung überlassen.

Auf dem Rückwege schwankte ich, ob ich nicht den alten Schmalhöfer noch aufsuchen und von ihm Abschied nehmen solle. Ich besorgte jedoch, er könnte mich von neuem zu einem nichts entscheidenden und geisttötenden Arbeitsgewinne verlocken; also vermied ich sein Haus, holte bei der Behörde noch meine Ausweispapiere und eilte, da der Abend nahte, nach Hause; denn ich wollte mit angebrochener Nacht unverweilt die Wanderschaft antreten.

Das war auch geraten, da der Wirt bereits den sämtlichen Hausrat fortgebracht und auch mein Bett weggeräumt hatte, unbekümmert, wo ich diese letzte Nacht noch schlafen möge. Ich fand ihn, wie er ganz allein in der stillen Wohnung stand, die von unsern Tritten und Worten einen ungewohnten Widerhall hören ließ, weil sie gänzlich leer war. Nur etwas Kleider und kleines Geräte lagen noch beieinander, was er nicht zusammenzupacken wußte, da es ihm an einer Kiste fehlte. Ich sagte ihm, er könne sich meines großen Koffers bedienen, den ich zunächst nicht brauche. Das nahm er ohne Dank an, wofür ich ihm auch einen Streich spielte. Denn als ich nun in meine zwei Zimmer ging, in eine Reisetasche ein Restchen Wäsche und meine schön gebundene Jugendgeschichte gesteckt hatte und mich umsah, was etwa noch zu tun wäre, entdeckte ich zu meinem Schrecken noch den Schädel des Albertus Zwiehan, der allein unversorgt zurückblieb.

Erschüttert nahm ich das unselige Sphäroid, das nicht zur Ruhe kommen konnte, in die Hand, und fühlte Gewissensbisse. Armer Zwiehan! dachte ich, du bist einst von Ostindien nach der Schweiz gereist, von da nach Grönland und wieder zurück, dann hierher, und nun mag Gott wissen, was aus dir wird, den ich so leichtfertig vom Friedhofe genommen habe!

Aber das half nun nichts; ich hob den Deckel meines leeren Koffers und legte den alten Schädel hinein, die weitere Fürsorge dem auf dem Sprunge stehenden Hauswirt überlassend, der sich in seinem Unstern so wenig liebenswürdig gegen mich benahm, obgleich ich seit länger als fünf Jahren an den Unterhalt seiner Familie so manchen guten Taler beigetragen.

Dann trat ich mit umgehängter Tasche aus meiner besonderen Trauerwohnung in die allgemeine hinaus, gab dem Manne rasch die Hand und stieg die Treppe hinunter. Kaum war ich aber auf dem Flur angelangt, so rief der Unhold von oben her Meinen Namen und schrie: »Da, nehmen S' den auch mit, der gehört Ihnen!« Gleichzeitig kollerte und polterte der Totenkopf die lange hölzerne Treppe herunter und schlug mir gar unsanft an die Fersen.

Ich hob ihn auf; in der vorgerückten Dämmerung ließ er erbärmlich den Unterkiefer fallen, der in Drähten hing, und schien so zu bitten, ihn nicht zurückzulassen.

»So komm mit«, sagte ich, »wir wollen wieder zusammen heimgehen! Es war eine merkwürdige Reise!«

Ich zwängte den Schädel mit Mühe in die Wandertasche, wodurch diese ein unförmliches Aussehen gewann, wie wenn ein Kommißbrot oder ein Kohlkopf darin steckte.

Nun hatte ich noch ein einziges Geschäft zu verrichten, das mir nicht leicht fiel. Seit dem sonderbaren und unverhofften Liebesabenteuer mit Hulda war ein Sonnabend von mir unbenutzt verstrichen und jetzt eben der zweite da. Durch die Nachrichten des hochzeitreisenden Landsmannes sowie durch die erfahrenen Traumgesichte waren mir Mut und Lust zur Verwirklichung der tannhäuserlichen Glückspläne vergangen; und doch drängte mich jetzt ein Gefühl warmer Dankbarkeit, selbst von zärtlicher Zuneigung und Erinnerung, nicht ohne ein Wort des Abschiedes, der Verständigung davonzugehen. Ich hoffte, das süße und ehrenwerte Geschöpf mit dem Geständnisse, daß ich kein Handwerksgeselle, sondern ein verarmter Künstler sei, der nicht wisse, was noch aus ihm werden solle, und vorerst das Land verlassen müsse, unschwer von seinen Gedanken abzubringen, über den abermaligen Verlust eines Liebhabers zu trösten und so im Frieden zu scheiden. Mit Tasche und Stab schon auf der Wanderschaft, schlug ich die Richtung nach der Straße ein, wo sie wohnte. Da es noch etwas zu früh war, trat ich in ein Gasthaus, um ein letztes Abendbrot in dieser Stadt zu mir zu nehmen. Dann fand ich bald im Laternenlichte das Haus und setzte mich im Schatten einer gegenüberstehenden Brunnensäule auf ein kleines Bänklein. Nun kam die anmutige Gestalt geschritten, im Werkeltagsgewande, aber nicht allein; ein schlanker junger Mensch begleitete sie, dem Anscheine nach ein Studierender oder Künstler, der eindringlich zu ihr redete. In der Nähe der Haustüre ging sie etwas langsamer, und ich vernahm, da sie jetzt zu sprechen anfing, die mir bekannte liebliche und offenherzige Stimme, die nur etwas trauriger oder weicher klang als an jenem Abend.

»Die Lieb ist eine ernstliche Sache«, sagte sie, »selbst im Scherze! Aber es gibt wenig Treu und Ehrlichkeit in der Welt. Nun, wir wollen die Bekanntschaft probieren, wenn Sie mich morgen auf den Tanz führen mögen; es wundert mein Herz, wie es ist, wenn es mit einem Herrn geht!«

Der neue Sponsierer antwortete mit leiser Flüsterstimme etwas, was ich nicht verstand; ich hörte einen leisen Kuß, ein »Gute Nacht!« worauf das Mädchen hinter der Haustüre verschwand und dieselbe zuschlug, der junge Mann aber raschen Schrittes seiner Wege ging.

Das ist auch eine Freisprechung! dachte ich und erhob mich mit erleichtertem Gewissen, jedoch mit einer sehr krausen Empfindung. Ohne mich indessen weiter umzusehen oder eine Minute länger in der Stadt aufzuhalten, eilte ich dem Tore zu und wanderte wenige Zeit später auf der nächtlichen Heerstraße in der Richtung meines Heimatlandes fort.

Zufrieden mit der klaren und fertigen Form, welche mein Geschick nun angenommen hatte, setzte ich ohne Hast und ohne Aufenthalt Fuß für Fuß, als einziges Ziel im Auge, unter das Dach der Mutter zu treten, gleichviel ob arm oder reich. Stundenlang ging es so weiter; ich beachtete nicht, daß ich auf einem Kreuzungspunkte war und von der Hauptstraße auf eine unmerklich schmälere Seitenstraße geriet, daß sich eine solche Abzweigung nochmals wiederholte, bis ich mich auf einem ländlichen Fahrweg befand. Da ich aber nach dem Stande der Gestirne ungefähr nach der richtigen Himmelsgegend zog, so kam es mir nicht so sehr darauf an, ich rechnete eine etwelche Abirrung zu den nötigen Erlebnissen eines Landfahrers. Ich ging durch Gehölze, über Feld- und Wiesenfluren, an Dörfern vorbei, deren schwache Umrisse oder verlorene Lichter weit vom Wege lagen. Die tiefste Einsamkeit wartete auf Erden, als es Mitternacht wurde und ich über weite Feldgemarkungen ging; um so belebter waren die mit den langsam rückenden Sternbildern durchwirkten Lüfte, denn die unsichtbaren Schwärme der Zugvögel rauschten und lärmten in der Höhe. Noch nie hatte ich diesen herbstlichen Nachtverkehr des Himmels so deutlich wahrgenommen.

Ich kam in einen großen Forst und die Dunkelheit wurde vollkommen. Still huschte der Kauz an meinem Gesichte vorüber und aus der Tiefe schrie der Uhu. Als ich aber durchfröstelt und ermüdet war, stieß ich in einer Waldlichtung auf einen rauchenden Kohlenmeiler, dessen Hüter in seiner Erdhütte lag und schlief. Ich setzte mich still an den heißen Meiler, wärmte mich und schlief ein, bis ein Flug hellschreiender Wanderfalken, deren silberblaue Flügel und weiße Brüste im ersten Frührot blitzten, über den Wald flog und mich weckte. Wie ich mich ermunterte, begann der Köhler aus der Hütte zu kriechen, die Füße voran; vor ihm stehend wie ein eben angekommener Wandersmann, wünschte ich ihm einen guten Morgen und fragte nach der Gegend und der rechten Straße. Er wußte nicht viel zu sagen, als daß ich mehr westwärts zu gehen habe.


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