Wilhelm Jensen
Auf dem Vestenstein
Wilhelm Jensen

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Elftes Kapitel.

Da schollen in die Schweigsamkeit des Gemachs einmal jählings donnernddröhnende Schläge des Torklopfers hinein, und mit einem freudigen Ausruf: »Sie kommen schon wieder!« aufspringend, eilte Frau Helena hinaus. Doch um kurze Augenblicke später klang ihr ein Schrei tödlichen Schrecks vom Munde, ließ auch die anderen hastig ans Tor nachfolgen. Am Himmel war eine leichte Veränderung vorgegangen, eine mattgeringe Helligkeit kam von ihm herab, indes ausreichend, die Gestalt Menz Romwalds unterscheiden zu lassen, der, noch von atemlosem Lauf keuchend, nur herausbringen konnte: »Eine Falle – wir sind in die Falle –«

Erst im Hause ward er zu weiterem Sprechen und zusammenhängenden Berichten fähig: »Die von oben hatten einen Baum umgefällt – wir meinten, vom Sturm wär's – und über die Straße geworfen. Darüber mußten wir weg – ich riet ab. Ob's mir verdächtig schien, weiß ich selbst nicht. Sie lauerten in der todschwarzen Finsternis – wie die Luchse –, daß wir den Fuß in die Falle hineinsetzten. Ich war noch hinten zurück, aber den Herrn traf's unversehens mit einem Schwerthieb, daß er niederbrach. Danach schrie die Stimme vom Teitenhofener, das wär' er ihm schuldig gewesen. Auf ihn hatten sie's stehen, kümmerten sich nicht um mich, sahen wohl auch nichts von mir. Sie haben ihn nach dem Vestenstein hinaufgeschleppt – gradzu, wie einer die Hand umdreht – zu sehen war's nicht, bloß zu hören, am Buschrascheln. Machen könnt' ich nichts, allein gegen die drei oder vier – der Junge, kam's mir vor, war auch dabei. Ich wollt' nach Payrsberg laufen, von da Beistand holen – aber was sollt's helfen, ihre Fallbrücke ist hoch, über die Kluft kann keiner weg. So rannt' ich hierher – eh' sie von Bozen mit Brandkugeln kommen, wird's zu spät – und schießen darf keiner, der Herr ist ja mit drin –«

Der Sprecher hatte es mühsam aus der Brust hervorgerungen, Helena war auf einen Sitz niedergefallen, sagte, wie betäubt, halb irr vor sich hin: »Nun ist's so«; verständlich klang's draus, sie habe immer gewußt, daß die beiden nicht zum Terlaner Wein gingen, sondern den wahren Grund ihres nächtlichen Fortganges gekannt und beständig die Furcht in sich getragen, es könne einmal so geschehen. Luitgard dagegen begriff nichts weiter, als daß ihr Vater überfallen, mit Gewalt zum Vestenstein hinaufgebracht worden sei, und bedachtlos geriet ihr unwillkürlich über die Lippen: »Wärst du noch oben, so könntest du ihm beistehen.« Ihre Augen hatten sich dabei Willanders zugewandt; es war, als mache sie ihm einen Vorwurf daraus, daß er nicht mehr dort, sondern hier unten im Wolfsturm sei; doch kam's ihr offenbar selbst gleich zum Bewußtwerden, sie habe es gedankenlos gesprochen, denn was hätte er allein gegen den Teitenhofener Burgherrn und seine Knechte ausrichten können, und sie stieß schnell hinterdrein aus: »Nein – gottlob, daß du nicht mitgegangen bist – sonst wärest du auch –«

Er hatte seine Augen hastig von einem der ratlosen Gesichter zum andern gehen lassen, als suche und erwarte er von ihnen etwas, das Aufblitzen einer hilfreichen Erleuchtung; fast zu sehen war's, wie seine Blicke, so flogen ihm auch die Gedanken im Kopfe hin und her. Jetzt aber schlug ihm alles Blut plötzlich noch gewaltsamer, als vorher nach dem Trunk, ins Antlitz, er sprang auf Menz Romwald mit dem Ruf zu: »Lauf nach Payrsberg – warum hast du's nicht gleich getan, bist nicht schon dort? – nein, gut war's – dann wüßt ich's ja nicht –«

Über sein Wesen schien's wie mit etwas Irrem gekommen zu sein, denn ein lachender Ton brach ihm bei den letzten Worten vom Mund. Helena fuhr angstvoll abwehrend auf: »Nein – keine Leute von Payrsberg – die können nicht hinüber – sie töten ihn, wenn sie's merken –«

Doch Willanders hielt Menz am Arm gefaßt und riß ihn mit sich zum Tor hin, sprach ihm in fliegender Hast ins Ohr. Der Hörer fuhr zusammen und stieß aus: »Das ist unmöglich!« Hinter ihnen glitt Frau Helena haltlos an der Alten mit dem bitterlichen Schluchzen zu Boden: »Sie töten ihn – Mutter, Mutter, warum gabst du mir das Leben?« Der Jüngling vernahm's noch, sein Fuß hielt stockend an, wie der Schlag seines Herzens, und blitzschnell flog er nochmals zurück, auf Luitgard zu, schlang ihr den Arm um den Nacken und küßte sie. So rasch, wie ein fallender Stern schießt, hatte er's getan, war wieder am Tor, und Menz Romwald rannte nach einigen kurzen Worten, einem fortstiebenden Hirsch gleich, linkshin gegen Nals davon, während der Jüngling am Wolfsturm zur Rechten umbog.

Nun war's verständlich, woher die matte Helligkeit ihren Ursprung nahm. Das Nachtdunkel lag im Kampf mit einem Gegner, der ihm widerstritt, ließ sich vom Sturm schwere Wolkenmassen zum Beistand heranjagen, um den aufsteigenden Mond, von dessen Kommen Ulbert Siekmoser gesprochen, zu überwältigen und auszulöschen. Manchmal schien dies völlig zu gelingen, aber dann fand er zwischen den ihm entgegengedrängten düstern Schwarm eine Lücke auf und stieß plötzlich wie mit einem Blitzpfeil durch sie nieder. Nur flüchtig, denn er mußte rasch wieder weichen und verschwand; wechselnd ging's so hin und her. Doch ein paarmal dauerte seine Oberhand so lange an, gewahren zu lassen, er sei in der Abnahme begriffen, ungefähr halbgerundet, und auch beim Unterliegen begann er doch so viel Dämmerschein fortzuerhalten und zu behaupten, daß man jetzt nicht nur die Hand vor Augen sah, auch die nächsten Gegenstände umher, der Boden unterm Fuß erkennbar blieben. Willanders war in die enge Schlucht hineingeschritten, durch die der Gaidener Bach vom Gebirge herabschoß. Im Gegensatz zu Menz Romwald ging er Schritt um Schritt, ganz langsam, beinahe wie furchtsam. Der Herbst hatte jetzt starke Wassermenge gebracht, und zögernd-behutsam nur setzte er den Fuß vor, als ob ihn Angst beherrsche, durch einen Fehltritt zwischen das Geblöck abzugleiten, sich Arm oder Bein zu schädigen. Oftmals blieb er, sorglich mit dem Blick umsuchend, geraume Weile stehen; der weiße Schaum der Sturzwellen half ihm, sichere Stützpunkte zu unterscheiden, und merkbar drängte ihn keine Hast, weiterzukommen; sonderlich schien's fast eher, er halte drin mit einer Absicht inne, Zeit zu versäumen. Vielleicht um den Gedanken nachzuhängen, die sich in seinem Kopf durcheinander drängten; vier oder fünf waren's, die immer wiederkehrten, doch sich überstürzend, wie die schäumenden Bachwasser, und windgepeitschten Spinnwebfäden gleich abgerissen, nicht weiter vom Denken erfaßbar in die leere Luft hinausflatternd:

Drei Stunden – wohl noch eine halbe mehr. – Er sollte Willanders heißen, wie seine Mutter – sein Ältervater war der Erzherzog Sigismund gewesen. –

Das ist unmöglich, hatte Menz gesagt, aber er lief doch nach Payrsberg. – Nur einen einzigen gab's auf der Welt, der war er – kein anderer könnt's. –

Konnte er's? Das war ein abgerissener Faden in der leeren Luft. –

Sein Herzschlag nur gab Antwort: Ulbert Siekmoser hatte gesprochen, dem zeigte er, was in ihm stecke – besser als tät's eine Urkunde mit Schrift und Siegel. –

Immer durcheinander liefen die Gedanken, doch allmählich drängte sich einer, der erste, mehr und mehr über die andern vor, als komme ihm das meiste Anrecht zu.

Wie lange Zeit mochte er seit seinem Weggang vom Wolfsturm gebraucht haben? An Herzschlägen ließ sie sich nicht abmessen, und anderes, danach zu rechnen, gab's nicht. Der nach dem Himmel fast wie durch ein schwarzes Kaminrohr aufgehobene Mick fand nichts, was sich veränderte, keine fortschreitenden Sterne; nur ein unsicheres Gefühl währte an, als gewinne der Bodengrund unter den Füßen ein wenig an Deutlichkeit. Doch schien's wohl nur so, die Augen hatten sich an das Dunkel gewöhnt, nahmen deshalb nicht mehr allein den weißen Schaum gewahr, sondern da und dort auch die über ihm aufgewölbten Steinblöcke.

Hier unten war es ganz windlos, keine Ahnung von dem droben heulenden Sturme wurde wach. Alles lag wie zwischen den Mauern einer Kellertiefe in regloser Stille, einzig das Geplätscher des Wassers klang eine Strecke weit leise, wuchs hin und wieder zu lauterem Rauschen an: Wie in eine Unterwelt, die nur abgeschiedenen Schatten, keinem noch Lebenden Zutritt verstatte, ging's hinein; die Luft drin war grabeskalt, und ab und zu überlief's den langsam weiter Vorschreitenden mit einem frostigen Schauer. Doch nur für einen Augenblick, die Dauer eines tiefen Aufatmens seiner Brust. Dann setzte sein Herz mit stürmischem Schlag dagegen ein, durchflutete ihn vom Kopf bis zum Fuß mit einem heißen Strom.

Schon einmal war er durch die Schlucht so aufwärts gegangen und erkannte nun, er sei wieder so weit gekommen als damals. Eine dunkle Masse stieg vor ihm in die Höh', die weder rechts noch links mit den Schluchtwänden zusammenhing, sondern, von ihnen abgelöst, sich nach beiden Seiten umgehen ließ. Es mußte der Felspfeiler sein, den das Tageslicht bis oben hinauf sichtbar gemacht; jetzt verhängte ihn die Nacht schon unweit über seinem Kopf, nur das dicht von matt unterscheidbare breitere Fußende bestätigte, die vereinzelte Steinnadel sei's.

An jenem Tage hatte ihn etwas veranlaßt, dem Bach bis hier herauf zu folgen, doch er konnte sich nicht entsinnen, was es gewesen sei. Wohl nur eine Neugier, derartig in der Nähe zu betrachten, was er von droben herunter so oft schattenhaft undeutlich gesehen.

Ja, die Stelle war's, an der es erschienen, als habe einmal ein Eisenwerkzeug daran gearbeitet, Absätze in den Grundsockel des Pfeilers hineinzuschlagen. Er hob den Fuß und trat auf eine rohe Felsstufe, setzte sich auf eine darüber nachfolgende. Von der Steilhöhe Gaids her stürzte unsichtbar der Wasserfall nieder, erfüllte die Luft mit einem einförmig dumpfen Brausen. Sonst war alles so geisterhaft still, als schlafe rundum der Tod.

»Unmöglich,« hatte Menz Romwald gesagt, und er sprach's vor sich hin nach: »Unmöglich.« Ihm ward's vor dem Blick, die Nacht werde nicht heller, sondern verdüstere sich noch tiefer; er glaubte, kaum noch die aufgehobene Hand vor den Augen zu sehen.

Dann klang ihm einmal deutlich eine Stimme im Ohr: »Wärst du noch oben –«, aber sie sprach gleich hinterdrein: »Nein – gottlob, daß du nicht mitgegangen bist –«

Ihn verließ das Bewußtsein, was er wolle und wo er sei. Von verworren werdenden Sinnen gaukelte ihm, er klettere am Zürgelbaum in die Höh', um süße Beeren herabzuholen, gleitete aber am glatten Stamme nieder – wieder und immer wieder –, bis die Stimme Luitgards abermals aufklang: »Wenn du von dort oben heruntergefallen wärest, so säßen wir hier nicht beisammen. Wären dir die schwarzen Kirschen das wert gewesen?«

Ihm flog laut »Ja« vom Mund und sein Kopf fuhr auf. Nicht das grüne Waldgemach lag um ihn, der Sturzbach rauschte drüben unsichtbar in die Tiefe; er hatte geschlafen und geträumt.

Wie lange Zeit? Darüber gab nichts eine Auskunft; nur stutzte sein nach dem Himmel emporgerichteter Blick jetzt, vor dem hoch oben ein Lichtschein blinkte. Aus der Richtung von Gaid her, aus einer der Hütten dort, schien er zu kommen, doch er nahm eigentümlich an Breite zu, konnte kein wirkliches Licht, nur der Rückwurf eines solchen von irgendeinem Gegenstande sein. Der Hinschauende saß verhaltenen Atemzugs; noch größer wuchs der helle Schein an und ließ keinen Zweifel mehr. Der Mond mußte ihn droben auf einen weißen Steinhang werfen.

Willanders schnellte jäh in die Höh'. Der Mond war dort drüben und tat zweierlei, zeigte ihm durch seinen Stand, wieviel Zeit vergangen sein müsse, und verhieß ihm zunehmende Helligkeit. Und nach einem Atemzug wußte er, was er wolle, griff hastig nach dem Gurt seines Schwertes, dies von sich abzutun. Bei seinem Vorhaben konnte er's nicht an der Seite behalten, ward davon behindert – oder – seine Hand hielt plötzlich inne – konnte es ihm doch zu etwas nötig sein? Ihm war's, als habe jemand ein Wort gesprochen, nur wie ein Windgesumm am Ohr vorübergegangen, aber statt das schon gelöste kurze Schwert fallen zu lassen, schob er es eilig unter sein Wams und schnürte den Gurt fest darüber zusammen. So beschränkte er die freie Regung seiner Beine nicht, und im nächsten Augenblick hob sich sein tastender Fuß zu einer höheren Stufe hinauf. Zugleich kam ihm nachträglich das wie vom Wind gesummte Wort zum Verständnis – »Brückenseil« hatte er gesagt.

Die Felsabsätze führten weiter, liefen gleich einer Wendelstiege um den Pfeiler herum; unverkennbar bildeten sie einen an ihm von Menschenhand hergestellten Aufweg.

Der Emporsteigende erschrak beinahe. So ging's, wie er's oft an einem steilen Hang getan – das konnte ein anderer auch.

Da traf ihn etwas wie mit Blendung. Der Mond schob sich über die östliche Bergwand, es sah aus, als jage er Wolken vor sich her in die Flucht, denn er trat siegreich in ein freies Himmelsstück hinein. Mit einem Schlage ragte die ihm zugekehrte Seite der Felsnadel hellbeglänzt auf.

So war's unerläßlich gewesen – der Jüngling empfand, freudig durchzittert, darauf habe er unbewußt gehofft und gerechnet. Plötzlich nahmen die Stufen ein Ende. Wer sie einmal ausgehauen, hatte als nicht möglich erkannt, sie weiter fortzusetzen, oder sie waren von Naturgewalten zerstört worden, verwittert und losgebrochen abgestürzt. Säulenartig hob sich jetzt der verschmälerte Fels empor, nur aus Fugen und Ritzen quollen noch alte, abgedorrte Wurzelknorren hervor. Hier begann das, was Menz Romwald unmöglich genannt hatte.

Doch es begann auch, was kein anderer getan und gekonnt hätte. Willanders reckte die Hand nach dem Stumpfen; sie hatten sich fest in das Gestein hineingeklammert und hielten, da und dort bot es daneben eine Scharte, in der auch die Fußhälfte Halt finden konnte. Einer Eichkatze ähnlich kletterte er weiter, schnellte sich von einer Stütze, die unter ihm wich, nach einer anderen hinüber, von einem Instinkt geleitet, ohne Besinnung und Denken. In seinem Kopf ward nur lebendig, daß er auf dem Vestenstein öfter geträumt habe, so hier zwischen Himmel und Abgrund zu hängen, und aufgewacht, nicht begreifen gekonnt, wie er lebend wieder hinuntergekommen sei; von einer hilfreichen Fee müßten ihm Vogelflügel zur Rettung verliehen worden sein. Dazwischen drängte sich ihm etwas anderes, ein Mund sagte: »Der Schwindel hatte mich gepackt, legte sich mir schwarz vor die Augen. Zum andernmal hab' ich's nicht versucht, wäre eher gradezu hinuntergesprungen.« Sein Blick ging einmal nieder, und schwindelnd wandelte es auch ihn so an, statt sich noch höher hinaufzuringen, auf das weißüberschäumte Geblöck des Baches in die Tiefe hinabzuspringen. Auch vor seinen Augen ward's schwarz, er sah nichts mehr von dem grausigen Abgrund; wohltätig jagten finstere Wolken alles verdeckend, über den Mond, und er drückte krampfhaft die Lider fest aufeinander. Da stand vor seinen geschlossenen Augen wie greifbar die Gestalt und das Antlitz Luitgards, ihre blauen Augen blickten ihn wie zwei leuchtende Sterne an, und ihre Hände breiteten ihm vom Vestenstein herab ein paar große, gleich den hellen Blüten der Felsenbirne schimmernde Flügel entgegen. Wie eine im Nu zergehende Traumerscheinung war's! er öffnete die Augen wieder, doch der Schwindel war von ihm gefallen, kehrte nicht zurück. Die Wolken verhüllten den Mond noch, ließen nichts mehr von der Tiefe gewahren, aber das nächste um ihn hatte sich sichtbar erhalten, zeigte wie zum Hohn deutlich um ihn her keine Stumpfen und Knorren mehr vorhanden.

Das Schwert bedrückte seine Brust doch, verengte ihr den Atem. Die Linke um eine kleine Felskante klammernd, zog er es zum Wegschleudern mit der Rechten unter dem Gurt hervor. Doch wie zuvor drunten hielt seine Hand in der Bewegung wieder an, ein Gedanke, eine Vorstellung durchschoß ihm blitzgleich den Kopf. In der Felswand befanden sich da und dort zwischen ihren Steinplatten schmale kaum halbfingerbreite Fugen, und in eine von ihnen stieß er mit plötzlicher Eingebung sein Schwert hinein. Fast bist zum Griff drang die kurze Klinge in den Spalt, saß drin fest, bot einen Halt für die Hand, dann für den Fuß, sich dran aufzuheben, eine stützende Vorbuchtung der Felsnadel zu erreichen. Von der aus schien's zuerst nicht möglich, ohne Abgleiten von dem schmalen Steinband mit der Hand nach dem Griff hinunterzufassen, seiner wieder habhaft zu werden; aber es mußte sein, kein anderes Hilfsmittel gab's, und nach fruchtlos-mühvollen Versuchen gelang es der Geschmeidigkeit seiner Glieder, eine Stellung auszufinden, in der er zusammengekauert, wie in leerer Luft hängend, zugleich doch mit der Linken sich angeklammert hielt und mit der Rechten das Unerläßliche ausführen konnte. Er hatte das Schwert zurückgewonnen und hatte dabei gelernt, so tief dürfe es nicht in die Fuge hineingestoßen werden, seine Lockerung falle sonst zu schwer. Ausrastend stand er auf dem kargen Halt, erkannte, umzukehren, wieder hinabzukommen, sei nicht mehr denkbar. Aber was sich ihm als unüberwindlich entgegengestellt, lag bezwungen unter seinen Füßen, – seitwärts und über seinem Kopf klafften ähnliche Spalten in der Wand. Dazwischen sprangen kleine Steinleisten vor. Es gab keine Unmöglichkeit – und wenn, so gab's doch nur noch ein Hinauf.

Dazu hatte er das Schwert vom Platner bekommen – dem seine Mutter lieb gewesen. –

Wie oft er sich dessen wieder als einzigen Hilfswerkzeuges zum Weitergelangen bediente, kam ihm nicht mehr zum Bewußtsein, doch er nutzte es mit gereifter Erfahrung und hob sich höher an. Wolkenschatten und Mondlicht wechselten um ihn, sein Blick vermied, rückwärts in die Tiefe hinunterzugehen, richtete sich beständig vorauf.

Da nahm er einmal während einer Helligkeit zu Haupten – nicht gar hoch mehr – etwas Überragendes gewahr. Wie ein niederzuckender Schlag durchfuhr's ihn vom Kopf bis zur Sohle. Es konnte nichts anderes sein, als der Erkervorbau der Burg, die Pechnase, die ihm am Tage von unten hinauf nur wie ein Habichtschnabel erschienen war.

Gleich danach aber nahmen plötzlich, wie drunten die ausgehauenen Stufen, um ihn die Fugen und Spalten ein Ende; senkrecht, jetzt völlig einer Säule gleich, schloß das oberste Stück der Steinwand ohne irgendeine klaffende Öffnung mehr ab. Erbarmungslos klar zeigten es die Mondstrahlen; dazu endete auch die bisherige Stille. Der oben fauchende Sturm stieß herab; er hatte die Fensterluke des Erkers aufgerissen, sie flog hin und her, so nah schon, daß das Ohr deutlich ihr Knallern und Schaltern vernahm.

Das Schwert konnte nicht mehr Beistand leisten – hier begann die Unmöglichkeit. –

Schwarz wollte sich's Willanders aufs neue über die Augen legen, doch auf einmal klang's ihm wieder wie von einer Stimme im Ohr und sagte: »Unter dem Fenster der Pechnase da sprang abwärts eine Steinrippe etwas aus der Wand und tiefer darunter nach seitwärts noch einmal solche Rippe. –«

Wort für Wort hörte er's ganz deutlich – nicht vom Wind gesummt – jählings kam's ihm auch, die Alte habe es gesprochen, die alle im Wolfsturm »Mutter« benannten. Unwillkürlich suchte sein Blick zur Seite umher. –

Da trafen die Augen auf etwas – die Alte mußte vom Absturz des Vestensteinfelsens geredet haben – dort sprang eine Steinrippe heraus. Bis zu der hatte sie sich niedergelassen – seitwärts drüber war eine andere unterscheidbar. –

Wenn es möglich fiel, die erste, untere zu erreichen.

Die Stimme sprach noch weiter: »Ich war noch jung, Kind, das Blut wollte mir stocken beim Gesicht, ich schlüge kopfüber und läge mit zerschmettertem Leib drunten auf den Steinblöcken. –«

Auch ihm stockte das Blut, er hatte instinktiv sein Schwert wieder festgeschnürt, wußte nicht, was er wolle, was er tue, nur, es sei das einzige. Dann wachte Besinnung in seinem Kopf auf; er hatte sich seitwärts hinübergeschnellt – ein Gemsensprung war's gewesen – hielt die Hände in den Fels eingekrallt, fühlte die Rippe unter den Füßen.

Aus seiner Brust wollte ein Jubelschrei brechen, doch er preßte die Lippen zusammen, suchte mit hastig umfliegendem Blick nach der oberen Steinrippe. Die war leichter, weniger gefahrvoll zu erreichen, und die Gefahr war nur ein bedeutungsloses Wort, denn unsichtbar mußten ihn die hellen, ihm wie Blüten der Felsenbirne von droben entgegengebreiteten Flügel hinübergetragen haben, trugen ihn auch weiter.

Aber als er nun auch das zweite Ziel ebenso gewonnen, erschien dennoch alles vergebens. Die Alte hatte sich hierher an einem Strick herabgelassen, war an dem wieder hinaufgelangt; ohne ihn war's noch zu hoch, das Fenster zu erreichen. Er besaß doch keine Flügel, nicht das Vermögen, bis zu zehn Fuß über seinen Kopf hinaufzugreifen.

Und dennoch, es gab keine Unmöglichkeit, sie konnte nur mit dem Schein täuschen. Kurz besann er sich; der etwas breitere Stützpunkt verstattete auch freiere Bewegung, den Gurt vom Wams zu lösen und dies abzuziehen. Dann vollbrachte seine Hand Sonderbares, zerschnitt mit dem Schwert das an die Felswand gedrückte Kleidungsstück in schmale Streifen. Doch etwas anderes schoß ihm dabei ins Gedächtnis; er drehte plötzlich das Gesicht von der Steinseite ab ins Freie um, und aus seinem Munde klang zweimal, täuschend nachgeahmt, der hochtönige Schrei einer Ohreule. Danach reckte sein Kopf sich horchend in die Luft; ein paar Augenblicke vergingen, da scholl's, als ob vom Winde verweht, nur eben vernehmbar eine andere Eule ebenso – einmal – zweimal – mit gleichem Schrei erwidere. Nun griff er nach den Gewandstreifen, knüpfte sie in fieberhafter Hast aneinander, die Knoten fest mit den Zähnen zusammenziehend – lang und länger – verschnürte die beiden Endstücke unlösbar mit seinem Wehrgehenk und warf dies über sich in die Höh'. Es fiel zurück – nochmals – zum drittenmal – aber dann blieb's oben, hatte sich an etwas angehakt, drum verschlungen. Er prüfte, hängte sich dran, es hielt, saß fest wie eine Lukenklammer; er hatte, was die Alte zum Wiederhinaufkommen besessen, einen Strick. Mit Blitzkürze knüpfte sich ihm der Gedanke dran, sie war damals auch jung gewesen, und er wußte auf einmal, sie müsse die Mutter Frau Helenas sein. Doch weiter ging sein Denken nicht, er schwebte schon an dem Flechtwerk; der Sturm fuhr schnaubend auf ihn ein, als wolle er ihm wehren; auch schwarze Wolken deckten heranjagend den Mond wieder zu, seine Augen blind zu machen. Aber er bedurfte dieser nicht mehr, nur sein zum Zerspringen hämmerndes Herz mußte aushalten. Einem Balle gleich ward er hin und her geschleudert, doch der sichelgeknotete Strick zerriß nicht.

Da stand er in der Pechnase, um ihn lag lichtloses Dunkel.

Der einzige war er, der's gekonnt hatte – war noch der einzige auf der Welt, der es konnte –.

Er allein kannte im Finstern hier Schritt und Tritt, jeder andere wäre umsonst heraufgelangt. Verhaltenen Atems setzte er lautlos die Füße vor; durchs Gebälk lief ein unaufhörliches Knattern und Knattern, draußen um die Mauern rasselten und krachten die losgerissenen Fensterlatten, aber ihm war's, das Klopfen seines Herzens müsse alles übertönen. Nun kam er aus dem Erkergemach in die kleine gewölbte Flurhalle hinaus, über die durch eine halb offenstehende Tür eine Lichtbahn hinfiel. Flackernde Kienspäne warfen sie aus dem Raum, der den Burginsassen zum nächtlichen Zechgelage diente, und so tat er's auch jetzt. In den Schatten gedrückt, hörte Willanders das klirrende Niederstoßen der Zinnbecher auf den Eichentisch, sah um diesen die Gesichter Christophs und Konrads Teitenhofen, der Waffenknechte Wetzel und Petz, auch die Übelhörin saß zwischen ihnen. Sie schrien, lachten und lärmten, aus allen Zügen loderte ein triumphierendes, hohnvolles Frohlocken. Der Burgherr überschrie die andern: »Das schütt' ich auf den in die Gurgel, der unsern Kellerdachs den Bachsprung machen läßt!« Petz und Wetzel brüllten beide trunken: »Ich tu's! Gebt Ihr zehn Goldfüchse drein?« und aus der »Maultasche« brach's mit schallender Lache: »Ich helf' auch dabei, daß ihr meinen Schwäher sanft zu Bett bringt!«

Ein Schauder durchfuhr den unsichtbaren Zuhörer, und dazu plötzlich noch ein anderes Gefühl, das ihn wie ein drohendes Gespenst anfiel. Ihm war's, es werde zu spät, er komme nicht mehr hin – in ihm selbst sei etwas, das seine Hände und Füße lähmen wolle. Alle Kraft zusammenraffend, schwankte er, jetzt wieder in tiefem Dunkel, weiter zum Tor, tastete wie mit fühllosen Fingern nach den Riegeln und schob sie zurück. Beim Öffnen der Bohlentür stießen ihm der Wind und die Strahlen des vom Gewölk wieder frei gewordenen Mondes entgegen; alles lag klar aufgehellt da, trotzdem verdichtete sich vor seinen Augen ein Nebel, durch den er das Gewinde, von dem das Seil der aufgezogenen Fallbrücke festgehalten wurde, nicht zu erkennen vermochte. Näher empfand er das Gespenst herankommen, unsichtbar seinen Kopf und Arm packend; er konnte nur noch das Schwert aufheben, mit einem Hieb das gestraffte Seil zu treffen – im Gehirn kreiste ihm dabei ein letzter Gedanke: das Willandersschwert – das nicht – aber von einer Willandershand geführt. –

Dann hörte er nur noch die Brücke niederschlagen, sah noch Menz Romwald an der Spitze eines dichten Gedränges im Nu über sie heranstürmen. Doch mit bewußtem Sinne faßte ers nicht mehr auf; die ungeheuere Anstrengung hatte ihn leiblich und geistig zu Tode erschöpft, ließ auch ihn bei der Erreichung seines Zieles wie vom Leben verlassen zu Boden schlagen. Sein Hieb hatte das Seil noch durchschnitten, doch um einen Augenblick später wäre es vergebens gewesen, daß er einem Irrsinnigen gleich an der Felsennadel des Vestensteins aufgeklommen.


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