Wilhelm Jensen
Auf dem Vestenstein
Wilhelm Jensen

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Zweites Kapitel

Wild war es wohl von jeher, doch besonders während der letzten anderthalb Jahrhunderte im südlichen Tirol zugegangen, vielleicht weil die Sonne das Blut in den Köpfen hier heißer zum Kochen brachte, als im nördlichen. Die ringsum auf den trotzigen Felsburgen sitzenden alten »Geschlechter« hatten über ihre Gebiete eine fast unbeschränkte Herrschaft ausgeübt, diese als ihr »Recht« und ihre »Freiheit« beständig gegen die meistens kraft- und machtlosen Landesfürsten behauptet. Darin hob jedoch gegen die Mitte des 14. Jahrhunderts eine Wandlung an, als der Herzog Heinrich von Kärnten, der auch Graf von Tirol war, gestorben und beide Fürstentümer seiner Erbtochter Margarete hinterlassen hatte. Sie muß, neben sonstigen, ihr Angedenken übel belastenden Eigenschaften, mit auffälliger Häßlichkeit, besonders einem großen vorgeschobenen Hängemunde begabt gewesen sein, denn im Volk legte man ihr danach den bald allgemein bräuchlich werdenden Beinamen »Maultasche« zu; trotzdem scheint sie ein überreich mit Liebesabenteuern angefülltes Leben geführt zu haben. Ein absonderlich sich zwischen ihr und ihrem ersten Manne abspielendes, einem Bruder Kaiser Karls des Vierten, dem böhmischen Prinzen Johann, der sich gern König von Böhmen benennen ließ, endete damit, daß sie ihrem königlichen Gemahl eines Tages, als er zur Jagd ausgezogen, bei seiner Rückkunft das Tor des Schlosses Tirol über Meran vor der Nase zusperrte und ihm anriet, sich eine andere Herberge zur Unterkunft zu suchen. Nicht lange danach verheiratete sie sich abermals, höchst unbekümmert um einen auf sie geschleuderten Bannfluch des heiligen Vaters in Rom, wiederum mit einem nächsten Angehörigen des neuen Trägers der Reichskrone, dem Markgrafen Ludwig von Brandenburg, Sohn des Kaisers Ludwig des Bayern. Der, nach dem Abschluß dieser Ehe sich auf sein oberbayerisches Herzogtum und die Grafschaft Tirol beschränkend, war ein Mann von stärkerer Tatkraft als sein böhmischer Vorgänger und wußte seine landesfürstliche Oberherrschaft an der Etsch anders zur Geltung zu bringen, sowohl über die trotzigen »Edlen«, als vermutlich auch über das zum Rebellieren geneigte Mundwerk seiner Frau. Die ersteren duckten sich unter das Regiment des immerhin ihre Selbstherrlichkeit nicht allzu scharf antastenden Kaisersohnes, hinter dem als Rückhalt die Reichsgewalt drohte; Margarete Maultasche dagegen gab sich friedlicherer Beschäftigung durch Erbauung eines Talschlosses an der Etsch hin, hart unter der Felsnase, von der die Burg Neuhaus drauf niedersah. »Um es im Windter irer Ungesundheit halber zu bewonnen«, berichtete ein Chronist darüber, denn in der kalten Jahreszeit sei ihr die rauhe Luft auf dem hochgelegenen Schlosse Tirol nicht gut bekommen. Vielleicht eignete sich diese Tieflage auch besser zur bequemeren Befriedigung noch anderweitiger ihr zum Wohlbefinden unerläßlicher Lebensbedürfnisse; der Volksmund wandte den ihr verliehenen Beinamen gleichfalls auf den Neubau an und benannte ihn »Schloß Maultasch«. Erst spätere, vom Gedächtnis verlassene Zeit übertrug irrtümlich diesen Namen auf die darüber liegende Burg Neuhaus.

Kaum ein Vierteljahrhundert aber dauerte die Herrschaft des Bayernherzogs Ludwig über Tirol an, dann mähte die Sense des großen Schnitters ihn von seinem Thronsitz herab und kurz nachher gleicherweise seinen einzigen Sohn und Erben Meinhard; so blieb allein Margarete Maultasche wieder als Herrin der Grafschaft übrig. Doch sie war ältlich geworden, besaß jedenfalls keine erbberechtigte, ihr Rücksicht auferlegende Kinder und trug für das Endstück ihres vielbewegten Lebens Verlangen nach Ruhe in sich. Das veranlaßte sie, wie bereits früher ihr Herzogtum Kärnten, auch Tirol gegen Zusicherung einer vollauskömmlichen Jahresrente an das erzherzogliche Haus Habsburg abzutreten und sich zu einem beschaulichen Rückblick auf ihre Vergangenheit in Wien niederzulassen. Nicht mehr für lange, denn sie starb schon nach einigen Jahren; so war die Grafschaft Tirol an Österreich gelangt; zunächst an den Erzherzog Leopold den Dritten von Steiermark.

Es folgte eine Zeit, in welcher dieser, obwohl man ihn mit dem Beiwort »der Gütige« bedachte, von beständiger Kriegführung in Anspruch genommen, an Tirol kaum denken, geschweige denn sich um das dortige Geschehen bekümmern konnte. Erst fünfunddreißigjährig, schloß er in der Schlacht bei Sempach unter den Streitäxten, Eisenkolben und Spießen der Schweizer Eidgenossen sein Leben ab, zwei Söhne, Ernst und Friedrich, in frühestem Knabenalter hinterlassend. Fast zwei Jahrzehnte vergingen, ehe die beiden die Herrschaft über ihre vom Vater ererbten Länder antraten, sie so unter sich teilend, daß Friedrich die vorderösterreichischen Lande in Schwaben, am Oberrhein und Tirol erhielt.

Dies beinahe vier Jahrzehnte lange Interregnum im letzteren aber nützten die »edlen Geschlechter« fleißig, einesteils sich gegenseitig aufzulauern, zu überfallen, in unterlaßlosen Fehden Burgen und Bauern zu berennen, verbrennen und auszuplündern, andernteils dagegen auch, in gemeinsamer Übereinstimmung sich der Einbußen, die ihr »Recht« und ihre »Freiheit« unter dem Bayernherzog Ludwig und Margarete Maultasche erlitten, zu entledigen und sich in ihre alte Selbstherrlichkeit zurückzuversetzen. In der Hauptstadt Innsbruck saß zwar eine österreichische Regierung, doch von so ohnmächtiger Schwäche, daß sie jedes ihrer Gebote ungeahndet verlachen lassen mußte, und vor allem südlich vom Brennerpaß übte im Beginn des 15. Jahrhunderts der Burgadel wieder die ehemalige unbeschränkte Herrschaft aus. Sein Druck lastete schwer auf den freien Dorfschaften und Städten, besonders auf der regsamen und reichen Handelsstadt Bozen, deren Bürger sich nur notgezwungen unter die hochfahrende Anmaßung der eisenumklirrten Ritter und ihrer wildgewalttätigen Knechte beugten.

Hilfloseste Umstände empfingen deshalb den jungen Herzog Friedrich, als er dem Namen nach seine Herrschaft über die Grafschaft Tirol antrat. Auch sonst hing drohendes Unheil über ihm; er hatte auf dem Konstanzer Konzil die heimliche Flucht des Papstes Johann des Dreiundzwanzigsten ermöglicht und war dafür vom Kaiser Sigismund, dem Sohn des luxemburgischen Kaisers Karl des Vierten, in die Reichsacht erklärt worden; am Oberrhein war darum eine Anzahl seiner wichtigsten Städte, sich selbständig machend, von ihm abgefallen. Am übelsten indes bedrängte ihn seine Mittellosigkeit so arg, daß er oftmals in Herbergen für seine Zehrung nicht Zahlung zu leisten vermochte und, von den Wirten festgesetzt, sich mühselig zur Wiedererlangung der Freiheit auslösen lassen mußte. Die mit Beinamen freigebige Zeit hatte ihn deshalb »Friedel mit der leeren Tasche« benannt, und zumal im weiten Kreise des Tiroler Landadels ward er hinter seinem Rücken, nicht selten auch ins Angesicht hinein kaum anders geheißen. Doch das alles verursachte ihm, wenigstens anscheinend, wenig Bekümmernis; er war der Sohn einer italienischen Prinzessin aus dem Hause Visconti und hatte von ihr südlich ungestümes Blut, leichten und lebenslustigen Sinn geerbt, Trieb zu Gesang und Spiel, Trunk und Raufhändeln, vom Vater ein Wesen, das den Zusatz des Gütigen oder Gutmütigen auch auf ihn anwendbar zu machen schien. Der vom Kaiser Geächtete war zur Sicherung über die Berge nach Südtirol gegangen, und hier sagte es ihm offenbar so trefflich zu, daß er an kein Wiederverlassen des sonnenschönen Landes dachte, sondern Jahr um Jahr drin verblieb. Im Eisack- und Etschtal von Burg zu Burg ziehend, klopfte er an die Tore und ward überall bereitwillig eingelassen, bisweilen sogar mit einer Miene, als ob man mitleidig einem Hungernden Wohltat erweise, ihn an den Tisch aufzunehmen, und mit jugendlicher Leichtfertigkeit sprach er dann dem vorzüglichen Inhalt der Weinkannen zu. Häufig bis zu schwerem Rausch, in dem er keinen Standesunterschied zwischen sich und seinen Trinkgenossen machte, doch auch in nüchternem Zustande war sein Behaben gegen die Angehörigen der großen Geschlechter der Villanders, Starkenburger, Rottenburger, Lichtensteiner und Wolkensteiner, der Veitler, Spaur, Brandis und Lodron ein derartiges, als ob er sie ebenso völlig für seinesgleichen ansehe, wie sie sich ihrerseits als ihm ebenbürtig erachteten. Er mochte den Titel eines Landesfürsten in Tirol führen, doch sie waren die tatsächlichen Landesherren, in deren Rechnungsbüchern er obendrein mannigfach als ihr Schuldner stand, so daß sie ihn auch als Gläubiger einem Spielball ähnlich in ihren Händen hielten. Zur Aufrechterhaltung ihrer Macht hatte in Vorzeiten ein alter Verband zwischen ihnen unter den Mannen des »Elephantenbundes« bestanden und war im Anfang dieses Jahrhunderts gegen jeden etwaigen Eingriff des österreichischen Erzhauses in ihre »Rechte« als »Bund an der Etsch« von beinahe anderthalb hundert Burgherren erneuert worden. Mächtiger, reicher, von stolzerem Sicherheitsbewußtsein erfüllt war der Adel niemals gewesen, als zurzeit, wie dem Herzog Friedrich durch die Teilung zwischen ihm und seinem Bruder die Scheinherrschaft über Tirol zugefallen. Eine Reihe von Jahren verging, in denen er sich an Eisack und Etsch als primus inter pares einzig heiterstem Lebensgenuß hingab, und unglaubhaft klang's, wie eines Tages Kunde von einem Zerwürfnisse zwischen ihm und Herrn Nikolaus von Vintler, dem reichmächtigsten Burgherrn von Runggelstein, über der Talfer bei Bozen umlief. Er hatte an den die Forderung gestellt, eine von ihm der Landeskasse in Innsbruck geschuldete Geldsumme zu entrichten, und auf eine selbstverständlich nur spöttische Abweisung Vintlers gedroht, ihn, wenn er bei der Weigerung beharre, mit Gewalt zur Zahlung der Schuld an den Staat zu nötigen. Da lachten in allen Schlössern tausend Kehlen hell auf über »Friedel mit der leeren Tasche«, die nichts in sich trug, um Waffen zu kaufen und Söldner zu lohnen.

Doch der Verspottete machte rasch seine Drohung wahr, zog vor den Runggelstein, umlagerte die starke Feste mit einer Streitmacht und neuerfundenen Feuer-Bombarden und erstürmte die für unüberwindlich gehaltenen Mauern. Woher er die dazu erforderlichen Geldmittel genommen, blieb ein Rätsel, dessen Lösung außer ihm vielleicht nur den reichen Bozener Handelsherren bekannt war, die solcherweise von einem ihrer nächstbenachbarten Bedräuer und Bedrücker erlöst wurden; jedenfalls mußte er schon seit längerer Zeit diesen Plan im Sinn getragen und sich zu seiner Ausführung sorgfältig vorbereitet haben.

Starr aber blickten alle Schloßherren über der Etsch und dem Eisack auf die zertrümmerte, unter Flammen verloderte Burg, auf die unerhörte Tat ihres lustigen Trinkkumpans hinunter. Einem jähen Donnerkrach vom blauen Himmel herab glich sie, ließ den Ausbruch eines ungeheueren Gewitters über dem ganzen Land ahnen, und in Hast knüpften die großen Geschlechter ihren »Bund an der Etsch« fester zusammen. Sie waren kurz erschreckt, doch unerschrocken, nur überrascht und gewarnt, setzten eilfertig auf allen Felsrücken und -nasen ihr aufgetürmtes Mauerwerk in sichersten Stand und rüsteten ihre gefürchteten Waffenknechte. Wieder lachend taten sie's, nicht im Ernst für glaubhaft haltend, daß ein einzelner junger Hans Habenichts sich auch an ihren Verband wagen werde, vor dessen gewaltiger Macht seine kleinen Fähnlein von Reisigen wie Spreu im Sturm zerstieben mußten.

Und neun wilde Jahre fuhren über Täler und Berge dahin. Fast unerklärbar scheint's, wie es dem Herzog Friedrich möglich gefallen, rastlos an den beiden Flüssen auf und abziehend, mehr als hundert der trotzigen Felsennester über ihnen mit unerschütterlicher Ausdauer, eines nach dem andern, zu umklammern, berennen und zur Übergabe zu zwingen, woher er sich die Kräfte dafür gesammelt; aufgehellt liegt nur vor, daß die Städte und freien Dorfgemeinden zu ihm wider ihre alten Bedränger standen. Doch als zweifellos berichtet die Geschichte, daß in jenen Jahren die stolzen Villanders, Rottenburger, Starkenburger, Wolkensteiner, Lichtensteiner, Spaur, Brandis, Lodron und Vintler mit unzählbaren anderen in dem Kampf gegen ihn unterlagen. Einzig der unerstürmbare und wegen seiner geheimen unterirdischen Ausgänge auch nicht durch Hunger zu bewältigende Greifenstein, auf dessen Felsenhorst zuletzt die Mehrzahl der von ihren Burgen Vertriebenen allein noch schützende Zuflucht fand, widerstand zweimal der Belagerung und dem Angriff. Doch nach dem vergeblichen Ablassen kehrte der Herzog zum drittenmal zurück, hielt zwei Jahre hindurch den Wolkenthronsitz der Feste scheinbar wiederum erfolglos umschlossen, bis es in einer schwarzen Herbstnacht den an längerer Fortsetzung des Kampfes verzweifelnden noch übrigen »Herren« gelang, unbemerkt zu entkommen und die Knechte auch den Greifenstein auslieferten.

Der letzte Hort der Bundesgenossen an der Etsch war's gewesen, zur Ohnmacht zusammengebrochen lag der Adel am Boden. In ganz Tirol gab's nur mehr einen Herrn, den Landesfürsten, der zum Zeugnis und Gedächtnismal für spätere Zeit, daß Friedels Tasche »doch nicht so inhaltslos gewesen sei«, einen Ausbau an einem ihm gehörigen Hause zu Innsbruck mit einem aus vielen Tausenden von Dukaten angefertigten »goldenen Dachl« überdecken ließ.

Eine Überfülle an wildgrausigen Gewalttaten, den Himmel rötenden Feuersbrünsten, blutgefärbt zu Tal fließenden Wassern, Verrat und Treubrüchigkeit hatten jene neun Jahre gesehen und gehört; viel alte, hochbenamte Burgen waren an den Bergen abgesunken, in nicht wieder erstehenden Trümmerschutt zusammengestürzt. Bei diesem großen Untergang scheint auch das Talschloß »Maultasch« weggeschwunden zu sein, das Margarete Maultasche sich neben Terlan am Absturz des Krummen Bergs unter der Burg Neuhaus zum bequemen Verbringen der Winterzeit erbaut gehabt.

Die hochfahrende Selbstherrlichkeit der »Edlen« an Eisack und Etsch hatte für immer ihr Ende genommen, eine ins Gewicht fallende Bedeutung als die »Herren« im Lande gewannen sie nicht mehr zurück, mußten sich mit Geringerem begnügen, untereinander Fehden auszuführen und ihr ritterliches Handwerk im Kleinen fortzusetzen, auf den Straßen bei Nacht und Nebel vorüberziehende Kaufleute zu überfallen, wie's trotz der »Goldenen Bulle« Kaiser Karls des Vierten überall im Reich als über den Gesetzen stehendes adliges Recht bräuchlich geblieben und in der Wildnis der Alpenberge den günstigsten Boden zur Ausübung fand. Doch das waren unwichtige Tagesdinge, um die Herzog Friedrich nicht weiter sorgte; er hatte seinen Lebenszweck erreicht, feste Herrschaft über die Grafschaft Tirol errungen und hinterließ sie seinen Erben. Im Gange des 15. Jahrhunderts folgte ihm sein Sohn Sigismund, der im Gegensatz den Beinamen »der Münzreiche« erhielt, äußerlich dem Vater ähnelte, auch dessen lebenslustiges Jugendwesen überkommen hatte, doch nichts von seiner späteren Tatkraft. Er war ein Mann von ungewöhnlicher Schönheit, geistig hervorragender Begabung und einnehmender Liebenswürdigkeit, dessen Trachten sich ausschließlich auf heiteren Genuß beim Becher, Glanz, Kraft und schönen Frauen verwandte; das bot sein Wohnsitz Meran ihm in Fülle, und um weiteres kümmerte er sich nicht. Wiewohl zweimal vermählt, starb er ohne legitime Erben, ob auch mehr als ein halbes Hundert unberechtigter Kinder hinterlassend, und die Grafschaft gelangte an seinen Vetter, den Kaiser Maximilian den Ersten, nach diesem an den Erzherzog Ferdinand, einem Bruder Kaiser Karls des Fünften. Den beiden letzteren lagen notwendigere Dinge ob, als ihr Augenmerk auf das von himmelhohen Bergmassen weltentlegene, abgesperrte Südtirol zu richten; ihnen genügte der Bezug von ausgiebigen gesicherten Einnahmen aus den Erträgen der Steuern und Grenzzölle, und sie gaben die staatlichen Angelegenheiten des eigenartig absonderen Landes dem Bemessen der Regierung ihrer Statthalter in Innsbruck anheim. Kaum bestand eine andere Verbindung, als über die zur Winterzeit oft monatelang nicht benutzbare Poststraße des Brenner, zwischen der nördlichen und südlichen Hälfte Tirols, so daß die letztere dabei beharrte, wie von jeher in mancherlei Hinsicht eine kleine Welt für sich auszumachen. In anderer Weise auch eine große, wenn man die Giganten ihrer Firngipfel und riesenhaften Felstürme, die schwindelragend abstürzenden Wände und tausendfältig zwischen ihnen tiefeingekerbten, wildzerrissenen Schluchten in Betracht nahm.

Das winzige Raubnest Vestenstein war während der so lang das Etschtal durchbrausenden Wetterstürme unbeachtet geblieben, offenbar hatte sich's weder dem bayerischen Ehegemahl Margaretes, noch dem Herzog Friedrich gelohnt, Zeit und Mühe an die Eroberung der politisch völlig bedeutungslosen Burg zu vergeuden; erst der Anfang des 16. Jahrhunderts hatte durch die Bürger der Stadt Bozen, oder wer's sonst gewesen, dem von droben aus betriebenen räuberischen Unfug ein Ende gemacht. Dann vernahm man nichts mehr von dem auf der Felsnadel notdürftig wiederhergestellten Trümmerrest, bis sein Inhaber Hans Übelhör auf dem Kirchhof von Andrian, dem Dorfe am Ausgang der Gaidener Bachschlucht in die Erde gelegt worden. Seine Frau, die schöne Maddlena, hatte sich schon seit manchem Jahr vor seinem Tode nicht mehr bei ihm befunden; ob sie gestorben oder was mit ihr geschehen sei, wußte niemand bestimmt zu sagen. In Andrian gab's einige Leute, welche glaubten, ihr Mann habe sie bei einem zwischen ihnen heftig aufgeloderten Zwist von der senkrechten Steinwand in die Schlucht hinuntergestoßen und das Hochwasser des Baches ihre Leiche unbemerkt zur Etsch davongetragen. Dagegen behauptete ein Gaisbub von Gaid, er habe eines Morgens beim ersten Tagesanbruch eine Frau über die Matten gegen den Hochkamm hinansteigen sehen, die ihm jenseits des Krummföhrengürtels und noch ein paarmal weiter aufwärts wieder zu Gesicht gekommen, einem großen, immer kleiner werdenden Vogel glich, zuletzt nur noch wie ein Punkt, der sich an den Stufen und Staffeln des Gantkofels emporgehoben. Dann sei sie an diesem fortgeschwunden oder in unbegreiflicher Weise über ihn weg nach der andern Seite hinunter ins Nonstal »zu den Italienern« gelangt. Indes, wer die Frau gewesen und wie sie ausgesehen, wußte der Bub nicht anzugeben, und seine Erzählung beruhte vermutlich auf einem Einbildungsgesicht, denn nur Gemsen und Raubvögel konnten zu dem schroffmächtigen Felsgrat hinankommen, ein Menschenfuß hatte ihn noch niemals erklommen. So blieb als tatsächlich gewiß nur, daß Maddlena Übelhör eines Tages aus den Mauern auf der Felsnadel verschwunden war, doch weshalb, wie und wohin, ward nicht ruchbar, und niemand irgendwo besaß einen Grund oder Antrieb, sich darum zu bekümmern. Fest stand allein, daß sie nicht auf dem Kirchhof von Andrian begraben worden sei. Wie gering an Wert eben die Innsbrucker Regierung den Vestenstein einschätzte, zeigte sich darin, daß sie nach dem Ableben Hans Übelhörs das Burglehen nicht für den Landesherrn einzog, sondern es in unbräuchlicher Weise »aus Gnade« seinen beiden hinterbliebenen Töchtern überließ. Sie bedurften eines Daches über ihren Köpfen, einer Behausung, nach der sonst niemand in Tirol Verlangen trug, und so wurden Katharina und Helena Übelhör unangefochtene Besitzerinnen der Wohnstätte ihres Vaters.


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