Wilhelm Jensen
Auf dem Vestenstein
Wilhelm Jensen

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Sechstes Kapitel

Anders als auf dem Vestenstein blickten die Räume im Wolfsturm an und völlig anders auch ging's drin zu. Im Einklang zur Verschiedenartigkeit der Lage beider stand's; droben warfen die höheren Bergwände am Morgen und Abend Schatten über die Felsnadel, bewölkter Himmel ließ ins Innere nur ein düsteres Licht fallen, und rauhe Wildnis war rundum. Die kleine Feste unten am Südwestlande des weitoffenen Etschtales ward dagegen schon von der Frühsonne begrüßt, die am Mittag drüber verblieb und noch beim Niedergang Goldglanz auf die Mauern legte; von der neben ihnen ausmündenden dunklen Gaidschlucht streifte sie nur noch ein Anhauch des kalten Sturzwassers. Und mit so stillheiterer Freudigkeit des Gemütes ließen auch die Bewohner des Wolfsturms gleichmäßig Tage und Jahre über sich hinziehn. Ihre Lebensführung war eine bescheidene, doch sich genügsam an dem bescheidend, was ihnen zu eigen gehörte, vor allem dem sicheren Glücksgefühl ihres wechselseitig gleichen Besitzes an Liebe und der Übereinstimmung, sich gemeinsam jeder Schönheit ihres Daseins, nicht zum wenigsten der draußen um sie ausgebreiteten Natur zu erfreuen. Auch sie stillten gerne ihren Durst mit dem trefflichen Terlaner Wein, doch ohne je einem Übermaß zu verfallen; Ulbert Siekmoser sah guten Trunk als ein Mittel zur Erhöhung des Frohsinns an, sich daran zu berauschen, widerstand ihm. Als Knabe hatte er den großen Vorteil genossen, bei dem Kaplan in Nals Lesen und Schreiben zu erlernen, gleich nach der Verheiratung begonnen, seine junge Frau weiter darin zu unterrichten und war dann, wie die Zeit dafür gekommen, ebenso zum Lehrer seiner Tochter geworden. Als Hilfsmittel dazu barg das Haus einen von ihm ererbten Schatz, eine in Pergament gebundene, mit vergoldeten und farbig gemalten Anfangsbuchstaben ausgestattete Abschrift einer beträchtlichen Anzahl von den Gedichten des Minnesängers Oswald von Wolkenstein, die in den Tagen des Herzogs Friedel überall im Volksmunde umgegangen. Jetzt, nach anderthalb Jahrhunderten, war ihre Sprache zwar etwas veraltet und mancherlei in ihnen nicht mehr recht verständlich geblieben, aber sorglich in großer Schönschrift hergestellt, dienten die Buchstaben aufs beste zu dem Zweck, das Lesen und Nachschreiben an ihnen zu erlernen, und auch das Mädchen hatte sich diese Kunst schon früh zu eigen gemacht. Die Gedichte enthielten viele seltsame Berichte aus dem abenteuerreichen Leben des weit umhergeratenen, von Afrika und Persien bis nach Schottland und Norwegen verschlagenen ritterlichen Sängers, der aus dem alten Hause der Herren von Villanders entstammt, auf der Trostburg überm Eisacktal zur Welt gekommen, und gar manches an Nahrung für die Phantasie nahm Luitgard daraus in sich ein, mit vorzüglichem Gedächtnis begabt, lernte sie die ihr am besten gefallenden Lieder leicht auswendig, konnte sie ihren Eltern und Menz Romwald hersagen, freilich oftmals, ohne selbst das von ihr Gesprochene zu verstehen. Doch ihre helle Kinderstimme klang wie ein anmutiger Vogelton durchs Gemach, die Zuhörer erfreuend, und gab ihrem Vater willkommenen Anlaß, sie über solche Dinge, die sie nicht begriffen, zu belehren. Der schlanke Wuchs ihres Körpers und aller seiner Glieder war von einer ebenmäßigen Schönheit, wie die Bildung ihrer Hände besonders auch die ihrer Füße; es bot eine reizvolle Anschau, wenn sie barhäuptig und barfuß, wie die Bauernkinder von Andrian, mit leichtem Schwung, einer Bachstelze ähnlich, über die Wassersteine zu einer Besorgung ins Dorf hinüberging. Auch nicht viel anders bekleidet als die dortigen halbwüchsigen Mädchen, aber für eine Bauerndirne konnte niemand sie auch nur beim flüchtigen Hinblick ansehen.

An einem Aprilmorgen, als drüben aus den Reben die Pfirsichblüten zu leuchten begannen, nahmen ein paar Augen sie so beim behenden Überqueren des Baches gewahr. Wohl drei oder vier Jahre waren verflossen, in denen Willanders, wenn er Aufträge nach Terlan bekam, stets die Pfadschlinge gegen Nals zu eingeschlagen hatte, um von dieser an einer Stelle, wo er die Möglichkeit dazu ausgefunden, ins Tal abzusteigen; an diesem Tage indes trieb ihn besondere Eile und er unternahm zum erstenmal den Versuch, geradezu in der kürzesten Richtung hinunterzuklettern, dort am weglosen Steilhang nieder, wo einst Helena Übelhör auf ihrer Flucht vom Vestenstein herabgeraten war. Er hatte dies bisher für unausführbar gehalten, doch anders geübt als sie, die kaum lebend zu Tal gekommen geglaubt, überwand er alle Schwierigkeiten beinahe wie spielend, war nur erstaunt, in welch kurzer Zeit er bis an den Fuß der Bergwand gelangte. So kam er auch zum erstenmal dicht unter der Mauer des Wolfsturmes vorüber, den er bisher immer nur aus ziemlicher Weite gesehen, und gleich darauf traf sein Blick noch auf Luitgard Siekmoser, wie sie von Andrian her über das plätschernde Gewässer zurückkehrte. Das erschien ihm aber zunächst als etwas Unwirkliches, nur von seiner Einbildung Geschaffenes, auf das er mit ganz ungläubigen Augen hinschaute, denn er hatte noch niemals dem Ähnliches gewahrt und blieb unbeweglich stehen, bis sie dicht auf ihn zugekommen. Da blickte auch sie ihn mit einiger Verwunderung an und fragte: »Wer bist du? Ich habe dich noch nie gesehen, aus dem Dorf bist du nicht.« Darauf wußte er nichts anderes zu antworten, als: »Kannst du denn sprechen?« Das mußte ihm unglaubhaft vorkommen, und darüber mußte sie fröhlich zu ihrer Erwiderung auflachen: »Warum sollt ich das nicht? Alle Menschen können doch sprechen.«

Nun brachte er heraus: »Bist du denn auch ein –?« Er wollte wohl fragen: »Mensch«, doch setzte er das Wort nicht hinzu, sondern fuhr halb stotternd fort: »Ich hielt dich – zuerst – für einen Pfirsichzweig, den der Wind über den Bach trug. Aber der hat keine Stimme – wohnst du auch irgendwo?«

Sie deutete nach dem Wolfsturm: »Ja, dort,« und das ließ ihm weiter vom Munde kommen: »Bist du denn der –?«

Auf der Zunge hatte ihm abermals ein Wort gelegen, vor dem sie wieder gestockt: »Der Wechselbalg« – und noch einmal anfangend, fragte er: »Bist du die, von der sie oben sagen, daß sie im Wolfsturm wohnt?«

Das Mädchen nickte mit dem Kopf. »Ja, dann sagen sie's richtig. Aber wer tut's und von wem weißt du's?«

Er dachte einen Augenblick nach und gab dann Antwort: »Ich glaube, meine Mutter hat mir von dir erzählt – ich wußt's nur nicht mehr.« Dabei sah er ihr zum erstenmal grad und voll ins Gesicht, doch wie er noch hinterdrein sprach: »Aber jetzt weiß ich's und behalt's,« flog's ihm mit hochroter Farbe über Stirn und Schläfen, er drückte, wie von einem Schreck überkommen, die Augen zu, sagte nur noch kaum verständlich: »Ich muß weiter« und schwang sich, einem auffliegenden Vogel gleich, am Bach abwärts davon, der alten, im Tal über die Etsch nach Terlan führenden gedeckten Brücke zu.


Wie aber dann die »gute Frau« mit dem grünen Laubkranz um den Scheitel ins Land gekommen, die auch an den bedachtsamen Reben die Knospen auflächelte und den April zum Mai umwandelte, da nahm dieser an der steilen Bergwand über dem Wolfsturm etwas zuvor nicht vorhanden Gewesenes wahr: Hin und wieder Anzeichen eines durch Busch und Felssturz daran niederführenden Pfades, der weder durch Zufall so entstanden sein, noch von nächtlichem Getier herrühren konnte. Er ließ erkennen, daß achtsame Menschenaugen seine Zickzacklichtungen ausgewählt und überall nach den besten Stützpunkten für Menschenfüße gesucht haben mußten; für Frauen und schwachsichtige oder altersunsicher auftretende Männer mocht's allerdings, besonders abwärts, kein anratsamer Steig sein, aber der ihn so hergestellt hatte, kannte schon wochenlang drauf Schritt und Tritt, denn so oft bereits war Willanders seit jenem ersten Versuch Tag um Tag wieder in dieser kürzesten Weise vom Vestenstein hier niedergestiegen. Auch wenn ihm kein Auftrag nach Terlan oder sonstwo im Etschtal oblag, brachte jeder Morgen ihn zum Wolfsturm herunter, doch nicht nur dran vorbei, sondern durchs Tor hinein, meistens um ein paar Stunden drin zu verbringen. Ihm war's nicht mehr begreiflich, daß er beim erstenmal so töricht vor dem Mägdlein dagestanden, geglaubt habe, es sei mit seinen rosigen Armen, Händen und Füßen etwas von höherer Art als Menschenkinder und spreche deshalb auch nicht wie solche mit gewöhnlichen Worten. Nur das war richtig gewesen: Das Gedächtnis war in ihm aufgewacht, so hatten die lieblichen Geschöpfe in den Märchen, die seine Mutter erzählt, ausgesehen. Denn jetzt wußte er schon lang, sie sei Luit, die Tochter Ulbert Siekmosers, des Herrn vom Wolfsturm, der sich eines Tags, als er ihn wieder am Bach angetroffen, erkundigt, von woher er sei und wie er heiße, und bei der Antwort »Willanders« verwundert drein geblickt und gefragt hatte, wie er zu dem sonderbaren Namen gekommen. Als Siekmoser dann gehört, das sei Wilhelm und Andreas in einem zusammen, war ihm ein freundlich lächelnder Zug um den Mund gegangen, drin sich kundgetan, daß ihm der schlanke Knabe mit den feinen Gesichtszügen wohl gefalle, und daran hatte sich auch nichts verändert, wie er auf seine weiteren Fragen ebenfalls Auskunft erhalten. Die Zugehörigkeit zum Vestenstein nahm ihn keineswegs gegen jenen ein, sondern er erlaubte ihm gern, beim Vorübergehn am Wolfsturm in diesen hereinzukommen und Luitgard eine Weile Gesellschaft zu leisten. Ihr Bruder Joseph war dafür noch zu klein, mit den Bauernkindern in Andrian verknüpfte sie keine Beziehung, und es kam offenbar dem Wunsch ihres Vaters entgegen, daß sie sich ab und zu am Zusammensein mit einem Altersgenossen von Zutrauen erweckender guter Art erfreuen und geistig anregen lassen könne. So war's zuerst geschehen und hatte sich schnell zur täglichen Gewohnheit ausgebildet; das Mädchen wartete ebenso ungeduldig auf das Niedersteigen des neuen Kameraden vom Berghang, wie es ihn zum Wolfsturm hinunterdrängte. Was die Natur in der Umgebung desselben vor Auge und Ohr darbot, farbige Steine im Bach, Blumen, bunte Schmetterlinge und Käfer, Vogelstimmen aus dem Gezweig und Zirplaute im Kraut, diente ihnen in unerschöpflicher Fülle zum Betrachten und Bereden; Willanders' Kenntnis davon, die er sich beim Umherschweifen eingesammelt, übertraf die seiner Gefährtin, und sie ließ sich freudig von seiner Kundigkeit belehren. In einem aber war sie, obwohl ungefähr um zwei Jahre jünger als er, ihm weit überlegen oder besaß vielmehr eine Fertigkeit, von der er keine Ahnung in sich trug, und dies eine, worin sie seine Lehrmeisterin sein konnte, verdrängte bald alles übrige beinah völlig aus seinem Denken und Trachten. Ihn hatte ein brennendes Verlangen erfaßt, auch wie Luitgard lesen zu können, und von diesem Wunsch beglückt, hatte sie begonnen, ihn drin zu unterrichten; sie saßen beisammen, über die Gedichte Oswalds von Wolkenstein gebückt, und er sprach die Buchstaben nach, die sie ihm deutete und vorsagte. Das Auffassen fiel ihm nicht leicht, und nur äußerst langsam ging's damit vorwärts, denn er war über die Kinderjahre des mühlos spielenden Erlernens hinaus; doch seine Beharrlichkeit schwächte sich nicht ab, und ebenso ließ die scheinbar oft völlige Erfolglosigkeit ihres Eifers sie nicht am Fortfahren ermüden. Frohsinnig aber sah und hörte Ulbert Siekmoser manchmal zu, wie jetzt seine Tochter, als ein Kind noch, zur Lehrerin in der Kunst geworden, darin er ehemals ihre Mutter und dann auch sie selbst unterwiesen hatte. Da und dort tat ein ergrauendes Haar in seinem Barte kund, es sei schon manches Jahr seitdem vergangen.

Nur bei schlechter Witterung und während der Winterzeit hielten die beiden diese Unterrichtsstunde im Hause ab; wenn der Himmel blau über dem Tal lag und die Sonne es warm vergoldete, suchten sie sich bald hier, bald dort einen Platz im Freien dafür aus, hatten, als der April wiedergekehrt, einen ausfindig gemacht, den sie zum beständigen Aufenthalt wählten. An der Fahrstraße, die von Meran über Lana und Nals nach Bozen führte, kerbte sich um ein Streckchen hinter Andrian in den Abfall des Steinbergs eine schmale Rinne ein, und dieser nachfolgend, entdeckten sie zwischen hohem, dichtem Buschwerk eine kleine, wie für ihren Zweck geschaffene freie Ausbuchtung, fast einem rundlichen Gemach ähnelnd. Die Seitenwände waren wechselnd mit grünem Blattwerk und den großen, weißen Kelchblüten der Felsenbirne bedeckt, deren genügsame Sträucher aus den Steinfugen aufwuchsen; über der Lichtung aber breitete ein in ihrer Mitte emporgeschossener Baum seine Krone gleich einem Dache aus. Der war beiden unbekannt, auch Willanders hatte ihn sonst noch nirgendwo gesehen; der glatte, schlanke Stamm besaß eine hellgraue Farbe und stieg so hoch an, dann zweigte sich rotbraunes, weißlich geschecktes Geäst dicht und in ungewöhnlicher Gleichmäßigkeit von ihm ab; im Mai bedeckte es sich mit einer Fülle kleiner lichtgrüner Blüten, erst nachher folgten die länglich schmalen, am Rand gezähnten Blätter nach, und gegen den Sommerausgang reifte zwischen ihnen eine Menge beerenartiger, anfänglich gelber und roter, dann schwarzer Früchtchen. Die Kinder hätten den schönen Baum gern mit Namen genannt, doch wußte den niemand in Andrian, auch Siekmoser und Menz Romwald nicht, der sonst vieles, was in Berg und Tal wuchs, kannte, und sie mußten sich daran genügen, ihn »unsern Baum« zu heißen. Um den Stamm war das grasbestandene Erdreich etwas in die Höhe gewölbt, daß sie sich drauf wie auf eine Bank setzen und den Liederband bequem zum Lesen auf die Knie legen konnten; bisweilen ließ sich über ihnen im Gezweig ein ganz blaugefiederter Vogel nieder, um ein wenig größer als eine Nachtigall und ähnliche Flötentöne wie diese in seinen Gesang einmischend. Dem wußten sie ebenfalls keinen Namen zu geben, doch freuten sie sich immer, wenn er kam, und hielten, so lange seine Weise von droben herunterklang, aufhorchend von ihrer Beschäftigung inne.

Kinder konnte man sie übrigens eigentlich jetzt kaum mehr benennen; wie die Zeit weitergeschritten sei, tat sich auch dadurch kund, daß Willanders trotz seinem langsamen Vorwärtskommen schon seit Jahr und Tag dahin gelangt war, nicht allein ebenso fertig wie Luitgard zu lesen, sondern auf einer Schiefertafel mit Griffeln, die Ulbert Siekmoser ihm aus Bozen gebracht, auch zu schreiben gelernt hatte. Unvermerkt war er nicht nur zur gleichen Stufe mit seiner Lehrerin angestiegen, sogar weiter als sie, was das Verständnis des Inhalts ihres Liederbuches anging; es handelte sich nicht mehr um richtiges Buchstabieren und Aussprechen von Wörtern, vielmehr lasen sie miteinander, um sich wechselseitig klarzumachen, wovon die Gedichte des Wolkensteiner redeten und erzählten. Das war eine gar bunte Welt; über manches fiel zwar kein Nachdenken nötig, wo er Dinge und Vorgänge am Himmel und auf der Erde beschrieb, die sie selbst ebenso um sich sahen und hörten. Anderes dagegen klang fremd und sonderbar, und bei vielem half doch alles Kopfzerbrechen nichts, um den Sinn begreifen zu lassen. Da zeigte Willanders sich öfter dem Mädchen überlegen, wenigstens in bezug auf das, was Kriegstaten und Kampfgetümmel darstellte; die Natur hatte ihn dazu bestimmt, ein Mann zu werden, und in ihm lag etwas Angeborenes, sich auf das Streiten von Männern widereinander zu verstehen. Besondere Wirkung übte bei ihm ein Gedicht aus, das mit den Versen anhob:

»Hu, huß! sprach der Michel von Wolkenstein,
So hetzen wir, sprach der Oswald von Wolkenstein,
Hu, huß! sprach der Lienhart von Wolkenstein,
Sie müssen alle fliehen vom Greifenstein sogleich.
Da hob sich ein Gestöber an, da prasselte die Glut
Hernieder in die Kofel, daß alles ward zu Blut.
Den Panzer und die Armbrust, dazu den Eisenhut,
Die ließen sie als Trinkgeld, wir wurden freudenreich.
– Also bezahlen wir euch, Herzog Friedereich.«

Das schilderte die vergebliche Belagerung der unbezwinglichen Felsenfeste Greifenstein, bei deren Verteidigung Oswald von Wolkenstein selbst mit seinen Brüdern als Hauptkämpfer tätig gewesen, so daß der Herzog Friedel mit der leeren Tasche zweimal erfolglos von ihr ablassen gemußt. Wenn die beiden Lesenden dann aus ihrer grünen Schluchtrinne wieder an den Rand des Etschtales hinaustraten, da hob sich vor ihnen drüben im Sonnengeflimmer die Burg Greifenstein auf ihrem Felsthron scheinbar bis zu den Wolken empor, reglos und lautlos, daß aus ihrem Anblick keine Ahnung berührte, welch wildes, blutumströmtes Getöse einst jahrelang um ihre Schroffen getobt habe. Willanders aber sagte, hinüberdeutend: »Der Wolkensteiner war nicht nur ein Sänger, auch ein Mann«, und aus seiner Stimme klang's, als fühle er eine Stolzempfindung darüber in sich anschwellen.

Auf dem Vestenstein sprach er zu niemand von seiner Befreundung mit den Wolfsturmbewohnern und seinem täglichen Zusammensein mit Luitgard Siekmoser, ein unbestimmtes Gefühl, er tue besser dran, hielt ihn davon ab. Sein Ausbleiben hatte nichts Auffälliges, denn es dauerte nicht länger als früher, die außerordentliche Wegkürzung brachte ihm den Zeitgewinn mehrerer Stunden ein, und er kam allen seinen Obliegenheiten stets zur Befriedigung nach. Im übrigen bekümmerten die Burginsassen sich auch nicht um sein Tun und Treiben, ihre Gedanken waren auf anderes gerichtet, und sie schliefen zumeist lang, oft nicht nur in den hellen Morgen hinein, sondern den hellen Tag hindurch bis gegen Abend hin; die Weinfässer mochten wohl eine Erklärung geben können, weshalb. Auch Willanders verfiel wie von jeher allnächtlich in seinen festen Schlaf, nur gesellten sich dem jetzt fast immer Traumbilder hinzu. Doch brachten diese ihm nicht mehr die schreckhafte Vorstellung, er klettere, haltlos zwischen dem Himmel und dem Abgrund hängend, an der Felsnadel hinauf, sondern er saß im Traume allemal unter dem Baume, dessen Namen niemand kannte, neben ihm saß Luit mit den aufgeschlagenen Gedichten des Wolkensteiners auf dem Knie, und dann kam der schöne blaue Vogel geflogen und sie horchten beide auf seinen Gesang, der so klang, als ob er ihnen etwas sagen wolle, aber in einer Sprache, die sie nicht verstanden.


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