Wilhelm Jensen
Auf dem Vestenstein
Wilhelm Jensen

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Fünftes Kapitel

Wie aber die Zeit, niemals anhaltend, vordem über die Tage des Herzogs Ludwig von Bayern und Margarete Maultasch zu denen Friedels mit der leeren Tasche und seines kinderreichen Sohnes Sigismund, von diesem abermals zu den Kaisern Maximilian und Karl dem Fünften, dann zum Erzherzog Ferdinand als »Grafen von Tirol« dahingegangen war, so wanderte sie auch nach dem großen Bauernaufstande, im gleichmäßigen Ausschreiten Jahre auf Jahre legend, weiter. Lang andauernde Sommer und kürzere Winter wechselten in den von wohlwollendem Himmel überdachten Talgründen des südlich vom Brenner Italien zugeneigten Landes, darin Frieden, Gesetze und Ordnung herrschten, an der sich nicht mehr, wie ehemals, der Burgadel und ebenso keine »Karsthansen« wieder gewalttätig vergriffen. Die Innsbrucker Regierung bestimmte im Namen Ferdinands, was in Tirol geschehen dürfe und müsse, und zum letzteren zählte in erster Reihe die genaue Entrichtung der in die landesherrliche Kasse fließenden Steuergelder, sowie Maßnahmen, den Betrag derselben möglichst zu erhöhen. Doch überallhin konnten die Behörden nicht sehen und hören; die Berge waren hoch und was sie umschlossen hielten, wild zerrissen, vielfach fast unzugänglich, besonders um den Eisack und die Etsch herum, zudem dehnte sich der Weg dorthin lang, beschwerlich und schlecht über den Brenner. So bekümmerte man sich zu Innsbruck nicht allzuviel um südtirolische Dinge, wenn sie nichts Einträgliches mit sich brachten, wozu auch beim dortigen Gericht anhängig gemachte Streitigkeiten, Prozesse, Klagen und Beschwerden gehörten. Im Reiche bestand seit dem Ende des 15. Jahrhunderts ein kaiserliches Reichskammergericht, dem man nicht ohne triftige Beleggründe nachsagte, daß bei ihm bestenfalles den Enkeln der Kläger eine Entscheidung der von diesen vorgebrachten dringlichen Beschwerden zuteil werde, und die Innsbrucker Rechtsprechung befliß sich löblicher Wetteiferung mit dem Vorbilde jenes obersten Gerichtshofes. So nahm es niemand sonderlich wunder, daß seit manchen Jahren in der tirolischen Hauptstadt bei den Gerichtsakten auch eine Beschwerdeführung Ulberts von Siekmoser auf Wolfsturm lag, der für seine Ehefrau Helena, geborene von Übelhör, wider die Schwester derselben, Frau Katharina von Teitenhofen auf Bestenstein, Klage auf Herausgabe ihr zugehöriger väterlicher Hinterlassenschaft erhoben, ohne daß ein Jahrzehnt lang von der hohen Justizbehörde irgendeine Äußerung darüber erfolgt war. Denn die Klägerin und die Beklagte zählten beide noch zu den Lebenden, und frühestens konnten einmal ihre mündig gewordenen Kinder auf eine Urteilserledigung der Sache Anspruch machen. Obendrein da drüben zwischen den Bergwildnissen, wo deutsche und italienische Untertanen sich so vielfach in den Haaren lagen und mit ihren Zwistigkeiten der Regierung so oft überflüssige Bemühungen zumuteten.

Bis zu jenem Mündigkeitsalter der Kinder im Wolfsturm und auf dem Vestenstein stand aber noch eine geraume Zeit bevor, denn Luitgard Siekmoser und Konrad Teitenhofen waren erst in ihrem elften Jahre, Vetter und Base, oder Wase, wie die letztere Benennung zumeist noch lautete, ohne sich jemals zu Gesicht geraten zu sein. Durch die Luft konnten zwar, wie sich's einmal gezeigt hatte, mit einer Wurfmaschine geschleuderte Steine beinah von einer der beiden Behausungen zur anderen gelangen, doch Menschenfüße brauchten dazu auf der weiten Schlinge über die Bergwand mehrere Stunden, und die Unteren besaßen keinen Anlaß nach oben hinanzusteigen, die anderen nicht, aus ihrer einsamen Höhe herabzukommen; wie zur Lebenszeit Hans Übelhörs nicht von diesem, so nahm man im Etschtal auch von Christoph Teitenhofen fast niemals etwas gewahr. Nur seine Ehefrau tauchte dann und wann, um einen Einkauf zu machen, in Bozen auf, doch schlug zu dem Zweck nicht den Abweg nach Andrian ein, sondern einen Pfad, der von Gaid aus zwischen dem Hang des Buchbergs und den Burgschlössern Hocheppan und Boymont nach der Kirche Sankt Pauls auf dem Eppaner Gelände hinunterführte, von wo ein leichter Karrenwagen sie auf befahrbarer Straße zur Stadt weiterbrachte. Augen- und Ohrenzeugen, die von Vorgängen auf dem Vestenstein hätten berichten können, gab's nicht, Gerüchte allein besagten, es geschehe dort oben stets das, was die Übelhörin wolle.

Dagegen wußte man in Nals, Terlan und Andrian, im Wolfsturm sei Zufriedenheit und Glück zu Hause. Die alte Feste nahm sich von draußenher kaum viel anders als früher aus, nur war die hohe, gezinnte Umfassungsmauer wieder in festen, völlige Erfüllung ihres Zweckes gewährleistenden Stand versetzt; drinnen aber mutete die Herrichtung der Wohnräume im Bergfried wie in einem kleinen Nebengebäude, ein trauliches Gefühl des Behagens erweckend, an. Prunk oder unnötigen Zierat hatten die Mittel nicht verstattet, doch trugen die Insassen auch kein Verlangen danach, und die wenigen, ziemlich engen Gemächer reichten für ihre Zahl und ihre Bedürfnisse aus. Ein Josef benannter Knabe war noch hinzugekommen, weitere Kinder folgten nicht mehr nach. Luitgard, Luit gerufen, ähnelte in den Gesichtszügen und mit dunklem Haar der Mutter, doch hatte sie die blauen Augen des Vaters empfangen und dazu etwas, als habe die Frühlingsjahreszeit ihrer Geburt es ihr als Mitgift verliehen; ihre Wangen schimmerten in der zarten Farbe, wie's damals aus der Weite die Pfirsichblüten zwischen den Terlaner Reben getan. Als Mitbewohner hauste im Wolfsturm noch ein schon älterer Knecht, den Siekmoser hauptsächlich zum Schutz für Frau und Kinder, wenn er selbst abwesend sei, zu sich genommen. Eine Reihe von Jahren lang war er Dienstmann auf Payrsberg gewesen, umsichtig und kräftig, erinnerte, Menz Romwald heißend, durch seinen aus »Meinhart« verkürzten Rufnamen an die ehemaligen Grafen von Tirol und ward in der Andrianer Schankwirtschaft bei der sonntäglichen Weinkanne manchmal scherzweise als Abkömmling eines derselben ausgegeben. Eine Beschützung der kleinen Tiefburg, wenn auch kein Graben sie umgürtete und keine Zugbrücke den Zugang zu ihr hütete, sei im übrigen kaum nötig, denn es herrschte gesicherter Frieden im Lande, ein Unheil konnte ihr nur von Naturgewalten drohen, vor denen ihre niedrig geborgene Lage sie mit günstiger Deckung versah. Auch das Herüberschleudern großer Steinbraken von der Felsnadel her hatte sich nie mehr wiederholt; es war eigentlich bloß ein kindisch-lächerliches Betreiben gewesen, mit dem der Verdruß über die Aufforderung zur Herausgabe des Erbteils Helenas vergebens den Wolfsturm zu erreichen und zu schädigen versucht hatte. Beim Nachtanbruch ward das aus mächtigen Eisenbohlen angefertigte Tor selbstverständlich mit dem großen Querbalken verriegelt, denn nach altem, von den Vorvätern her vererbten Sprichwort war »die Nacht keines Menschen Freund«, sondern die Zeit des nach Beute umlauernden Raubgezüchts. In ihr hielt man sich unter Dach und Fach und hatten verständig bedachtsame Leute, wenn sie sich nicht in stärkerer Anzahl beisammen befanden, draußen auf Weg und Steg nichts zu suchen; vereinzelte, oftmals von ihren Geschäften zwischen Bozen und Meran hin und wider geführte Kaufleute beschleunigten sogar auf der offenen Talstraße sorglich ihren Schritt, wenn die Dunkelheit sie vor der Erreichung ihres Ziels zu überfallen drohte. Denn ab und zu geschah's, daß einer nicht an dies hingelangte, sondern spurlos verschwand, ohne daß jemals kund ward, was ihm unterwegs zugestoßen sei, besonders wenn im Herbst und Frühling die Etsch mit Hochwasser donnerte und vermuten ließ, der nirgendwo Aufgefundene sei in der Finsternis unvorsichtig in ihre wilden Strudel hineingeraten und von ihnen ungesehen zum Welschland hinuntergetragen worden.

Auch auf dem Vestenstein war dem Erstgeborenen noch ein Knabe nachgefolgt, und als Mitbewohner befand sich dort nicht nur ein Knecht, sondern ein Paar von solchen, Petz und Wetzel, vormalige Landsknechte, nach ihrer Sprache aus einem der slawischen Länder Österreichs herstammend. Zu welcherlei Hilfsleistungen die beiden besoldet oder wenigstens beköstigt wurden, erschien nicht recht begreiflich, da die alte Ursel nach wie vor völlig ausreichend für die Erfordernisse der Hauswirtschaft sorgte. Doch mußte die Hinterlassenschaft Hans Übelhörs über Vermuten beträchtlich gewesen sein, solch unnötige Ausgabe bestreiten zu lassen, und Katharina hatte offenbar, als Frau von Teitenhofen, ihrer Geizveranlagung zuwider für das Ansehen ihrer Stellung als Burgherrin einige Dienstmannen unerläßlich erachtet, von denen stets einer ihr auf dem Weg nach Bozen Geleit gab. Sie war auch in der letzten Zeit ihrer Mädchenjugend von häßlichem Aussehen gewesen, doch schon mit dreißig Jahren zu einem erschreckend abstoßenden Weibsbilde geworden, dessen Mundbildung jedenfalls diejenige Margarete Maultasches noch an Widerwärtigkeit überbot. Was ihren Mann ehemals zu seinen nächtlichen Besuchen bei ihr geführt habe, war schwer erklärlich und noch weniger sein Verbleiben neben ihr auf dem Vestenstein; nur das eine gab eine Begründung dafür, sie habe keinen anderen Liebhaber bekommen können, als einen Hungerleider, den sie durch ihre reichlichen Geldmittel an sich gelockt und vollständig unter ihre Gewalt gebracht. Denn darin traf das umlaufende Gerücht ohne Einschränkung zu, sie führte auf der Felsnadel die unbedingte Herrschaft, ihr Gebot ordnete alles an, und Christoph Teitenhofer setzte nur willenlos ins Werk, was sie ihn tun hieß. Sein Erbteil, die Pfeffersburg oder Kasatsch, war nichts mehr als ein zerfallener Steinhaufen gewesen, der ihn mit langsamem Verhungern bedroht, und hier hatte er für das, was er der Übelhörin zugebracht, auskömmliche Nahrung und gutes Obdach gefunden. Denn auch in bezug auf das letztere hatte sie sich als Frau nicht geizig erwiesen, mit ihrem Truheninhalt die kleine Felsburg besser wiederhergestellt, als ihr Vater es meist nur notdürftig getan. Alle Räume auf dem Vestenstein waren mit sicher vor Unwettern schützender Bedachung versehen, so daß er wohl ziemlich wieder zu dem geworden, was er früher mehrere Jahrhunderte lang gewesen. Ebenfalls an Kost und Trunk hielt die Burgfrau ihren Mann und die beiden Dienstknechte nicht knapp, im Felskeller lagerte beständig eine Anzahl von den letzteren mühsam heraufgeschaffter, deshalb nur kleiner, doch mit gutem Wein angefüllter Fässer, an deren Inhalt sich auch Katharina, wie's einstmals Margarete Maultasche ebenso fleißig getan haben sollte, mit ihrer Hängelippe wetteifernd beteiligte. Es konnte zuweilen wundernehmen, daß von solchen Herrichtungen und Anschaffungen die alte Schatzlade Hans Übelhörs noch nicht bis zum Bodengrund erschöpft worden sei.

Noch ein Mitbewohner, doch ein erst halbwüchsiger, befand sich oben, der vor ein paar Jahren durch einen Zufall hinaufgeraten. Katharina war eines Tags in Bozen zu einer Bestellung beim Platner, dem Waffenschmied, vorgekehrt und ihr beim Weggang ein Knabe nachgelaufen, der in der Stadt als der Platnersbub bekannt war und »Willanders« benannt wurde. Dies stammte von einer Zusammensetzung seiner beiden Vornamen Wilhelm Andreas her, seine Mutter, die manches Jahr hindurch in der Bozener Laubengasse Obst feilgehalten, hatte ihn so – eigentlich »Willandres«, doch von ihr »Willanders« gesprochen – taufen lassen. Als sie einmal plötzlich von einer eingebrochenen schlimmen Seuche mitergriffen und weggerafft worden, nahm der Waffenschmied Berlt Warnkönig, vor dessen Hause sie ihren Verkaufsstand gehabt, sich des hilflos Verwaisten an, gab ihm für kleine Verrichtungen in der Werkstatt Unterkunft und Kost; man mutmaßte in der Nachbarschaft halbwegs, es sei ein unrechtmäßiger Sohn des Platners und der schöngesichtigen jungen Obsthändlerin. Doch er zeigte sich als ein sonderbarer Junge, der's in den engen Straßen nicht aushielt, vielmehr von einem unbezwinglichen Verlangen besessen wurde, aus ihnen wegzukommen, und schon mehrmals gradzu in die Berge hinein davon gelaufen, doch wieder zurückgebracht worden war. Und so hatte er an dem Tage, als die Frau von Teitenhofen im Hause des Waffenschmiedes vorgekehrt, an sie die Bitte gerichtet, ihn auf ihre Burg mitzunehmen, er wolle jeden Dienst tun, der ihm aufgetragen werde. Das war aber der Übelhörin nicht unerwünscht gekommen; sie konnte einen Hilfsbuben für die allmählich alt gewordene Ursel gebrauchen und verständigte sich mit Berlt Warnkönig, der nichts dawider einwandte, sondern im Gegenteil dafür hielt, die frische Bergluft, nach welcher der blaßgesichtige Knabe immer Begehr gehabt, werde ihm guttun und zu kräftigerem Wachstum verhelfen. Die Bereitwilligkeit des Platners, ihn aus dem Hause fortzugeben, hatte wohl darauf hingewiesen, daß die Meinung, es bestehe eine Blutsverwandtschaft zwischen ihnen, doch auf Irrtum beruhe.

Seitdem lebte Wilhelm Andreas oder Willanders, wie er fortbenannt wurde, auf dem Vestenstein und bewährte, daß Warnkönig für sein körperliches Gedeihen richtig bedacht gewesen sei. Seine blasse Farbe, die zur Eigenart der feingeschnittenen Züge zu gehören schien, erhielt sich zwar ziemlich unverändert, dagegen zeugten sein Wachstum und die kräftige Entwicklung der Glieder deutlich von der günstigeren Einwirkung der Gebirgsluft auf ihr. Ihm lag die tägliche Beschaffung dessen ob, was an Nahrungsmitteln aus Gaid geholt wurde, sowie das Ausrichten mannigfacher Besorgungen in Nals und Terlan; dafür hatte es an einer jungen Beihilfe gefehlt, der Hunger der heranwachsenden Kinder und der beiden Dienstmannen verlangte zur Befriedigung nach größeren Vorräten, als sie früher erforderlich gewesen, und auch sonst lud die Ursel gern allerlei Verrichtungen auf den Knaben ab. Er war geschickt und unermüdlich, denn ihm selbst bereitete nichts größere Freude, als im Felsgestein, Wald und Busch herumzustreifen, aus denen er zumeist auf seinen Botengängen gesammelte Beeren mit heimbrachte; rasch wegkundig geworden, zeigte er sich in noch größerem Maße auch wegfindig, fand Möglichkeiten aus, zur Verkürzung an pfadlosen Abhängen und Abstürzen hinauf- und hinunterzugelangen, wo niemand sonst sich auf- und niederzusteigen getraute, und seine Behendigkeit ließ ihn nirgendwo vor einem Fehltritt der Füße oder Fehlgriff der Hand beim Anklammern zurückscheuen. So ward er auf der Felsnadel bald von allen nicht nur als eine nutzbringende Erwerbung, sondern fast als unentbehrlich angesehen; im Alter mochte er Konrad Teitenhofen ungefähr um zwei Jahre voraus sein, und Katharina ließ gelegentlich auch ihre beiden Söhne von ihm zum Beerensuchen begleiten, sie vor Abstürzen in Obacht zu nehmen. Doch wollte sich zwischen ihnen und Willanders kein kameradschaftliches Verhältnis herstellen; sie legten von frühauf ein hochfahrendes Wesen gegen ihn an den Tag, betrachteten und behandelten ihn als einen ihren Launen und Gelüsten untergebenen Hörigen, von dem sie den Mund ihrer Mutter einmal geringschätzig sagen gehört, daß er von niedriger und »unehrlicher« Herkunft sei. Doch ließ er sich davon nicht anfechten, es fiel als völlig Gleichgültiges von ihm ab. Er war am liebsten allein, trug etwas sich selbst Genügendes in sich, das keiner Genossen und keiner Zutat von außenher bedurfte. Seine verstorbene Mutter mußte ihm wohl in seiner ersten Kindheit allerlei Volkssagen und Mären erzählt haben, an die er sich nicht mehr erinnerte, aber von denen ihm vor den äußeren und inneren Sinnen ein Ungewisses Flimmern und Schimmern verblieben war. Seine Ohren hörten und seine Augen sahen draußen in der Bergeinsamkeit mancherlei nicht wirklich Vorhandenes oder bildeten Dinge der Natur um ihn her dazu aus, belebten sich Windrauschen, Wasserrieseln und Blättergemurmel, Wolken, Wurzelknorren und eigenartige Blumen zu Stimmen und Gestalten. Schulunterricht hatte er nie empfangen, wußte kaum, was Lesen und Schreiben sei, doch es erschien, als leiste seine Einbildungskraft ihm auch Beistand beim Denken und Begreifen, als lerne er durch ihre stille Vermittlung ohne Lehrer. Jedenfalls hätte er sich an lebendiger geistiger Entwicklung mit Gleichaltrigen aus den angesehenen Bürgerhäusern drunten in der Stadt wohl messen können, wäre vielleicht nach mancher Richtung ihrer Mehrzahl überlegen gewesen, und gleicherweise auch vornehme Namen tragenden Söhnen in den adligen Schlössern; allzu viele Geschlechter waren sich noch nicht gefolgt, seitdem zurzeit des Herzogs Friedel der Minnesänger Oswald von Wolkenstein unter den Rittern des »Bundes an der Etsch« als des Lesens und Schreibens kundig eine ziemliche Ausnahme gebildet hatte, und ob heute sämtliche Burgherren in dieser Kunst erfahren seien, dürfte auch gegenwärtig noch dem Zweifel unterliegen. Die Äußerung der Übelhörin hinsichtlich der niedrigen und »unehrlichen« Herkunft Willanders mochte vielleicht zutreffen, obgleich sie so wenig, als sonst jemand, einen Beleg dafür besaß, und zum mindesten lieferte seine Erscheinung keinen solchen; jedenfalls war es sehr töricht von ihr, ihn ihren Söhnen als etwas Niedriges zu kennzeichnen, da die beiden in ihrer von der Mutter wie vom Vater ererbten Häßlichkeit sich im Vergleich mit ihm wie ein paar plumpgefiederte Habichtseulen neben einem Turmfalken ausnahmen. Freilich fand die Vestenstein-Burgfrau leicht Bezeichnungen für Dinge, von denen sie nichts wußte; wenn sie einmal von der ihr noch nie zu Gesicht geratenen Tochter ihrer Schwester im Wolfsturm sprach, benannte sie Luitgard Siekmoser einen großen Wechselbalg, wie er von solchem Elternpaar nicht anders zu erwarten gewesen sei. So war Willanders, sich selbst genug, mit seiner Lebensführung und ihren Pflichten auf dem Vestenstein von Anfang an vollzufrieden und blieb's im Gang der Jahre gleicherweise. Auch der Winter änderte kaum etwas an seinem täglichen langen Aufenthalt draußen; nur selten reichte der Schnee vom weißen Gantkofel bis nach Gaid hinunter, und wenn's geschah, zumeist nur für kurze Zeit, die Sonne brachte ihn bald wieder zum Wegschwinden. Doch auch vor Schnee und Eis scheute der gewandte Knabe auf seinen Wegen so wenig zurück, wie vor dem sommerlich sicheren Bodengrund, und sie riefen ihm gleichfalls vor den Augen und der Empfindung selbstgeschaffene Vorstellungen wach; wenn er ins Dunkel geriet, fand er sich mit der Blickschärfe eines Luchses zurecht. Als Schlafstätte war ihm ein winziger Kammerraum, eigentlich nur eine Aushöhlung in der Mauer, zugewiesen; die ließ ihn in milden Nächten besonders gern auf das Sturmbrausen und -Heulen hinaushorchen; seinem Ohr klang's dann, als spreche der Wind mit Stimmen, und er suchte daraus zu vernehmen und sich zu bildlichen Anschauungen zu gestalten, was wohl der Vestenstein in früheren Zeiten schon gehört und gesehen habe. Aber darüber fiel er nach der Anstrengung des Tages mit gesundem Jugendbedürfnis stets rasch in Schlaf und schlief so fest und tief bis zum Morgen hin, daß der Bergfried neben ihm hätte einstürzen können, ohne ihn aufzuwecken. Selten kam ihm ein Traum oder wenigstens erinnerte er sich beim Erwachen nicht daran, nur einer wiederholte sich in Abständen zu öfteren Malen. Darin versuchte er, von dem Geröllbett der Gaidener Bachschlucht aus an der Felsnadel hinaufzuklettern, klammerte sich wie eine Eichkatze an Steinbrocken, Buschknorren, in Ritzen und Fugen und gelangte auch wohl etwa bis zur halben Höhe empor. Aber dann hing er zwischen Himmel und Abgrund wie in freier Luft, konnte nicht weiter und nicht zurück und mußte von einer hilfreichen Fee Vogelflügel zum Fliegen bekommen haben, da er in der Lichtfrühe doch wieder unversehrt in seiner engen Kammer lag. Zur Erfüllung seines Wunsches aber, von der Vergangenheit der Burg etwas zu erfahren, verhalfen ihm besser, als sein dazu doch nicht ausreichendes Vorstellungsvermögen, die langen Winterabende, an denen zwischen Christoph Teitenhofen und den beiden Dienstmannen beim Weintrunk vielerlei Reden hin und her gingen. Daraus vernahm der im Winkel des Gemachs Zuhörende von den sturmwilden Zeiten der Margarete Maultasch und des Herzogs Friedel, dessen Tasche zuletzt strotzend voll geworden, und ebenso von den vormaligen Eppaner Lehnsbesitzern des Vestensteins, über die der jetzige Burgherr aus Überlieferung von seinen auf Pfeffersburg benachbart gewesenen Vorfahren manches sonst im Volksmund Verschollene zu berichten wußte. Wie die Lichter und Schattenwürfe des Kienspans flackerten dann die unsichtbaren Gestalten derer, von denen gesprochen wurde, vor Willanders Einbildung hin und her; manches indes verstand er nicht, auch nicht das lautschallende Lachen des Teitenhofners, wenn er bisweilen dreinrief: »Ihre Taschen wurden auch voll und strotzten; aber sie brauchten nicht Vorsicht genug, daß sie die Bozener Geldsäcke erboßten, mit ihren neuen Ballerröhren von Nals her über den Berg zu klettern und den roten Hahn hier aufs Dach zu setzen.« Wenn aber der Knabe von Bozen reden hörte, rief das Wort immer einen Wunsch in seinem Innern wach, so wohl er sich auch auf der freien Berghöhe fühlte, einmal wieder in die Stadt hinunterzukommen. Ihm war erst nachträglich aufgegangen, der Waffenschmied habe es gut mit ihm gemeint, daß er ihn nach dem Ableben seiner Mutter zu sich ins Haus genommen, und er hätte Bertl Warnkönig gern einmal Dank dafür gesagt. Doch die Burgfrau nahm ihn, wenn sie sich nach Bozen begab, niemals mit, sondern zum Geleiter stets den einäugigen Wetzel, dessen ihm verbliebenes rechtes Auge trotzdem am Tage mit dem Blick eines Milans und bei Nacht mit der Sehschärfe einer Eule wetteiferte. An einem Novemberabend, dessen fliegendes Wolkengetriebe, Sturm verkündigend, frühes Dunkel brachte, kehrte Menz Romwald von einer Ausrichtung in Bozen zum Wolfsturm zurück, traf Ulbert Siekmoser vor dem Zugangstor stehend an und sagte herzutretend: »Eure Schwäherin war mit dem Einäugigen in der Stadt, Herr, sie machten sich über Eppan hinauf heim. Es gibt Wind und finstere Luft; ich möcht' wissen, ob nicht heut oder morgen nacht einer mit einer vollen Geldkatze um den Leib drüben durchs Tal nach Meran will und sich im Weg irrt, daß er in die Etsch hineingerät und niemand davon hört und sieht, wo er geblieben ist.«

Der Angesprochene versetzte: »Die Nacht ist keines Menschen Freund. Wenn einer ihrem schwarzen Gesicht traut und dabei mißrät, können wir's nicht abstellen. Der Einaug hat zwei Ohren, hört er mit beiden so gut, als er sieht, da spannt er sie vielleicht auch auf den Bozener Straßen nicht umsonst in den Wind. Komm herein und stoß den Balken vor! Luit hat ein neues Gedicht vom Wolkensteiner auswendig gelernt, das soll sie uns sagen, wenn der Sturm an die Luken knattert.«


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