Wilhelm Jensen
Auf dem Vestenstein
Wilhelm Jensen

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Neuntes Kapitel

So war Willanders unvorgedacht von der düstern Bergwildnis herab zur offenen Talsohle hinunterversetzt worden und gleichfalls in eine menschliche Umgebung völlig anderer Art. Eine heitere, die im Einklange mit der sonnigen Lage des Wolfsturms stand; er ward im Hause wie ein Zugehöriger und Gleichberechtigter behandelt, niemand ließ ihn fühlen, daß ihm durch die Aufnahme drin eine Wohltat erwiesen sei, für die von seiner Seite Dienstleistungen erwartet würden. Solche machte der gleichmäßig geordnete Tagesgang auch nicht erforderlich; Frau Helena bedurfte für ihre Wirtschaftsführung keiner weiteren Beihilfe, als der Menz Romwalds und ihrer Tochter, wurde außerdem dabei noch von einer alten Frau unterstützt, die früher hier gesehen zu haben Willanders sich nicht erinnern konnte. Sie zeigte sich immer stillgeschäftig beflissen, zur häuslichen Behaglichkeit für alle beizutragen, doch nahm merkbar keine Stellung als Dienerin ein. Mit einem Namen ward sie nicht angeredet; wenn Helena zu ihr sprach, sagte sie, wie's im Lande alten Frauen gegenüber üblich war, »Mutter«, und eine gewisse Ehrerbietung der Jüngeren vor der Bejahrten klang daraus. Diese mußte in ihrer Jugend sehr schön gewesen sein, die Gesichtszüge gaben es noch zu erkennen, wenn sich auch Falten und Furchen wie Schattenwürfe darüber gelagert hatten. Es verging einige Zeit, ehe Willanders einmal die Vorstellung auftauchte, es könne die umwandernde italienische Händlerin sein, von der er eines Tages gesehen, daß sie Luitgard auf der Straße angesprochen und nach dem Wolfsturm begleitet habe. Das ward ihm zur Gewißheit, als er zufällig einen Tragkorb von der Art wahrnahm, wie die ihn auf dem Rücken gehabt; sie war damals nicht wieder aus dem Tor hervorgekommen, sondern mutmaßlich um ihrer Hilfsbedürftigkeit willen im Hause behalten worden. Oft saß sie allein mit Helena in einem Gemach beisammen, und er hörte zuweilen ihre eigenartige Stimme, die von unverständlichen Dingen redete, obwohl sie sich dämpfen wollte, dennoch vernehmbar herüberklingen. Einmal erzählte und sprach sie ganz Wunderliches, als sei's in ihrem Kopf nicht recht in Ordnung, doch was sie sagte, blieb ihm vielleicht grad' deshalb im Gedächtnis haften: »Eine große Sünde war's, Kind, aber ich konnt's nicht anders, und seit ich dich wiedergefunden, bereu' ich's nicht mehr, sonst wärst du auch wie die andere geworden. Sein Sinn war nicht arg, und mir tat's bitter leid, daß ich's so über ihn gebracht hatte, denn er wußt's und es fraß an seinem Leben. Doch schüttelte mich's vor ihm, dem Erbteil, was sein Mund bekommen; meine Mutter hatt' ihn mir aufgezwungen, weil wir hungerten. Schlimmes hätt' er mir nie angetan, am Leben nicht, aber das schlimmste war, ihn mit meiner Schuld so steh'n und sitzen zu sehen. Das wußt' er auch und war seine Rache, die er an mir nahm. Ich konnt's nicht mehr tragen, selbst um dich nicht, und wollte von ihm weg, doch gab's kein Mittel, keinen Weg dazu. Er hielt mich sicher in Gewahr; bei Nacht und wenn er fortging, hatte er die Rollwinde der Brücke festgelegt, daß ich sie nicht herunterlassen konnte, die Ursel allein verstand's und tat's bei seiner Heimkunft. Nur am Felssturz hätt' ich nieder können, und manchmal stellte ich mir's auch vor, suchte nach, wenn er nicht zu Haus war, ob's irgendwo möglich wäre. Das war's oder schien's mir einzig an einer Stelle, unter dem Fenster der Pechnase, da sprang abwärts eine Steinrippe etwas aus der Wand, wohl kaum mehr als handbreit, aber doch so, daß ein Fuß drauf Halt finden konnte, wenn die Hände sich anklammerten, und tiefer darunter nach seitwärts noch einmal solche Rippe. Weiter in die Tiefe war nicht zu sehen, mit wachen Augen nicht, doch mir träumte davon, und im Traum sah ich's, wenn man bis dahin kam, so ward's möglich, wieder mehr seitwärts herum, den Fuß nochmals aufzustützen und vielleicht so noch weiter; man träumt leicht von dem, was man hofft, und sieht's vor sich. Und eines Tags, wie er weggegangen war, faßte ich den Mut, band an der Fensterluke einen Strick fest und ließ mich dran auf den obersten Vorsprung hinunter und auch bis zum zweiten. Aber danach gab's keinen Halt mehr, weder rechts, noch links, oder ich konnte nichts mehr sehen, denn der Schwindel hatte mich gepackt, legte sich mir schwarz vor die Augen. Ich hing wie in leerer Luft, allum schoß der Fels senkrecht ab, bis zum weißschäumenden Bach, und ich war noch jung, Kind, das Blut wollte mir stocken beim Gefühl, ich schlüge kopfüber und läge mit zerschmettertem Leib drunten auf den Steinblöcken. Wie ich wieder ans Fenster hinauf zurückgekommen bin, ist mir weg aus dem Gedächtnis. Doch zum andernmal hab' ich's nicht versucht, wär' eher gradezu hinuntergesprungen. Aber dann geschah's einmal, ich hab's dir schon erzählt, daß ich unvermerkt zusah, wie's die Ursel anstellte, das Brückenseil nicht drehbar festzusperren; an dem Abend gab ich ihr viel Wein zu trinken, und sie wachte nicht auf, als ich in ihrer Kammer das Gerät suchte, womit sie's so tat. Das half mir über die Kluft, und ich lief blind in die schwarze Nacht, bis der Morgenschein kam; da sah ich den Hochkamm über mir und stieg auf den Matten und durch das Krummholz nach ihm an. Wie meine Füße und Hände mich an den Staffeln in die Höh' gebracht, wußte ich nicht, aber als die Sonne Mittag zeigte, stand ich auf dem Gantkofel, wie ohne Anhalt frei in der Luft bedünkte mich's, und sah ins Italische hinunter, wo du Leben bekommen, Kind, und von woher er uns auf die grausige Felsennadel weggeführt hatte.« So kam's Willanders einmal ohne sein Zutun aus dem Munde der Alten zu Gehör, er verstand's nicht, wovon sie geredet hatte, nur rührte ihn daraus eine Vorstellung und Erinnerung an, es müsse etwas Ähnliches wie der Vestenstein gewesen sein, und ihm habe früher bisweilen geträumt, daß er an dem auch in solcher Weise, zwar nicht herunter, doch hinaufzuklettern versuche. Das brachte ihn unwillkürlich dazu, am nächsten Tage etwas ihm bisher noch nie in den Sinn Geratenes zu tun; er folgte dem Gaidener Bache aufwärts in die unwegsame Schlucht hinein, mühselig über ein Gewirr von schartigen Zacken, großen Steinblöcken und Schuttgeröll, indes das Wasser dazwischen war der Spätsommerzeit gemäß seicht, und sich behend hinüber und herüber schwingend, gelangte er ziemlich bald bis zum Fußende des vereinzelten Felspfeilers hinan. So nahm er diesen zum erstenmal von unten gewahr und konnte ihn, als ringsum völlig von den Bergwänden umher abgelöst, bei dem niedrigen Stande des Sturzbaches umschreiten, erkannte, daß sich der Pfeiler eigentlich nicht säulenhaft, sondern im Anfang von einem breiteren Grundsockel aufhebe und noch weiter nach oben nadelartig zuspitze. Im Verlauf ungezählter Jahre mochte an ihm mancherlei Veränderung vorgegangen sein; da und dort aus Gesteinfugen gleichsam hervorquellende alte dicke Wurzelknorren wiesen darauf hin, er sei unten, wo das Wasser in ihn einsickere, wenn auch nur kärglich, mit etwas Strauch- und Baumwerk bewachsen gewesen, an einer Stelle sah's so aus, als habe einmal eine Axt oder Hacke zu irgendwelchem Zweck daran gearbeitet, eine Anzahl von rohen Stufen in den Fels zu hauen. Von der Burg droben ließ sich nichts gewahren als an der Ostseite ein kleiner überragender Vorbau, der wohl »die Pechnase« sein mußte, obwohl sie von hier aus in der Turmhöhe fast nur wie ein Habichtschnabel erschien. In der düstern, nie von der Sonne besuchten Kluft war's kalt und schaurig, keine Möglichkeit bestand, nach Gaid oder sonstwo hinaufzukommen, und Willanders verweilte nur kurz in der feuchtmodrig anatmenden Tiefe, kehrte rasch zum hellen und warmen Licht des Schluchteinganges zurück. Ihn hatte eine Neugier getrieben, einmal in der Nähe genau zu betrachten, was er so oft von oben herunter schattenhaft undeutlich gesehen; die war jetzt vollkommen befriedigt, seine Brust hob sich wie von einem Druck befreit auf, als er wieder am Wolfsturm eintraf. Seine neue Lebensführung in diesem aber bedrückte ihn unausgesetzt, er fühlte sich überflüssig im Hause, dürfe nicht drin bleiben und wußte doch auch nicht, daraus fortzukommen. Zum letzteren drängte ihn besonders das stetige Zusammensein mit Luitgard, der durch den Vorgang mit Konrad Teitenhofen offenbar geworden, er habe sich damals ungesehen nah bei ihr befunden. Das könne sie sich jedenfalls nicht erklären, doch anderseits war's nicht einmal seltsam gewesen, daß sie in ihrer Bedrängnis laut seinen Namen ausgerufen hatte, wie von einer sicheren Überzeugung dazu veranlaßt, er werde den Ruf hören und ihr beistehen. Eines widersprach dem anderen, und das Nachdenken darüber machte leider nur noch verworrener, merkbar ihr ebenso wie ihm. Sie sprach nicht von dem, was sich unter dem Zürgelbaum zugetragen, hatte ihm mit keinem Wort für seine Beihilfe gedankt, schien diese als selbstverständlich anzusehen; daraus wuchs in ihm die Empfindung an, sie betrachte ihn gleicherweise, wie's die Söhne des Burgherrn auf dem Vestenstein getan, als einen niedrig unter ihr Stehenden, nur zu Dienstleistungen, jetzt bei ihren Eltern, vorhanden. Das traf ja freilich auch zu, sie war von edler Abkunft und er zur Unterwürfigkeit geboren; als Kind hatte sie einen Spaß daran gefunden, seine Unwissenheit im Lesen und Schreiben zu unterrichten, doch nachher die Lust dran und am Zusammensein mit ihm in der Waldstube verloren. Nun sah sie ihn als das an, was er war: einen zum Dienen im Wolfsturm Aufgenommenen, und belustigte sich vermutlich im stillen darüber, daß er, nachdem sie ihn nicht länger zur Gesellschaft bei sich haben gewollt, doch immer verborgen sich in ihrer Nähe aufgehalten habe; denn ihm ward klar, sie habe das täglich gewußt. So tauschten sie nur dann und wann in Gegenwart der anderen ein paar gleichgültige Worte aus, nahmen sonst nicht voneinander Vermerk; ihm kam's, er müsse sie ihrem Stande gemäß nicht mehr mit »du«, sondern »Ihr« und »Jungfrau« anreden. Ihr Vater hatte untersagt, daß sie sich wie früher allein irgendwo draußen aufhalte, ihr geboten, ihn stets als Begleiter mitzunehmen; aber das tat sie niemals, er fiel ihr offenbar lästig, und sie blieb lieber im Hause. Sie war eine adlige Jungfrau geworden, die kein Verlangen mehr nach einem Umherwandern im Freien in sich trug. Dies sich ansteigernde Gefühl, in eine noch peinlichere Stellung als auf dem Vestenstein geraten zu sein, machte ihm aber das Verbleiben im Wolfsturm unertragbar, und er ging nun eines Tages nach Bozen zu Berlt Warnkönig, sich von dem aus seiner hilflosen Lage befreien zu lassen. Den Gedanken, es im Kriegsdienst zum Hauptmann bringen zu wollen, hatte er als eine knabenhafte Torheit völlig abgetan; selbst wenn's ihm gelänge, empfand er's als das Zweckloseste auf der Welt, denn wozu sollte er als ein derartiger hierher zurückkommen; ihn bedünkte am besten, Unterkunft in einem möglichst weit entfernten Ort zu finden, wo er vielleicht als Gehilfe das Platnergewerk erlernen könne. Der Waffenschmied erkannte beim ersten Blick den hochgewachsenen Jüngling kaum wieder und betrachtete ihn mit sichtlichem Staunen, fragte dann, wie's ihm während der Jahre ergangen wäre, und hörte mit lebhafter Achtsamkeit seinem Bericht zu, daß und weshalb er nicht mehr auf dem Vestenstein geblieben sei, sondern sich seit einiger Zeit unten im Wolfsturm befinde. Über dessen Bewohner war Warnkönig unterrichtet, kannte sie merkbar auch von persönlichem Zusammentreffen und beglückwünschte seinen vormaligen Zögling dazu, in solchem Hause Aufnahme gefunden zu haben. Dem konnte Willanders indes nicht beistimmen, zauderte zwar etwas, doch brachte dann stockend und halb stotternd heraus, er sei deshalb heute hierher gekommen, weil er von dort fort wolle und müsse, am liebsten irgendwohin, so weit als möglich, und gedacht habe, der Waffenschmied könne ihm dazu verhelfen. Das nahm den wunder, und er wußte sich keinen Grund dafür vorzustellen, bis der Gefragte beinah schluchzend erzählte, daß ihn auf dem Vestenstein alle, der Burgherr, die Frau und die Söhne, immer mißächtlich angesehen hätten, weil er von niedriger und unehrlicher Herkunft wäre, und ebenso geschehe es ihm auch im Wolfsturm von den Eltern und der Tochter, nur ließen die Eltern es ihn nicht so merken. Warnkönig sah ihn mit seinen klugblickenden Augen aufmerksam an und erwiderte: »Das hätte ich nicht von ihnen geglaubt, aber daran läßt sich nichts ändern, und da rate ich dir auch, nicht dort zu verbleiben. Ich will mir Mühe geben, etwas Gutes für dich auszufinden, nur geht das natürlich nicht von heut auf morgen; wenn's mir gelingt, schicke ich dir eine Botschaft hinaus. So lange mußt du noch im Wolfsturm aushalten, denn bei mir im Hause ist zurzeit nicht Platz, meine Gehilfen haben alle Kammern drin inne. Ich kann dir nur raten, irgend was zu tun, daß die Siekmoserschen bessere Achtung vor dir bekommen; durch die Geburt wird keiner zum Mann, sondern muß sich selbst dazu machen. Vielleicht wenn du im Gebirg einen Bären erlegst, der die Schafe wegholt – ich will dir dafür ein gutes Werkzeug zum Angebinde mitgeben.«

Das letzte sagte der Waffenschmied unter einem zwinkernden Mundspiel, das ein wenig Spottlust über die Verzagtheit des Jünglings kundgab, ging ins Nebengemach hinüber und kam mit einem kurzen, kräftigen Schwerte und aus feindrähtigen Stahlketten verfertigtem Gurtgehenk dran zurück. »Da, nimm's und mach' dich auf die Bärenjagd, bis ich anderes für dich finde. Wenn du dem Petz die Krallen damit abhackst, kannst du sie für guten Preis losschlagen, denn es gibt viel unglückliche Liebhaber auf der Welt, und wer ein Mädchen, das ihn nicht will, jählings mit der Klaue berührt, den muß sie dann mögen. Ich glaube zwar nicht dran, sondern daß sie's schon vorher getan hat, und er nur blind war, das nicht zu merken.«

Unverkennbar hatte sich Warnkönigs eine launige Stimmung bemeistert, doch schlug diese jetzt um, wie er hinterdrein sprach: »Manchmal kann's auch anders sein; deine Mutter ist mir lieb gewesen und ich ihr nicht. Aber als die böse Krankheit sie anfiel, sagte ich's ihr zu, dich in Hut zu nehmen, und sie gab mir das bißchen, was in ihrem Besitz war, ich soll's dir bewahren, bis du großgewachsen wärst. Groß genug scheinst du mir jetzt dafür, so nimm's also auch. Wert hat's freilich nicht, nur ein Angedenken an deine Mutter ist's, weiter läßt sich's zu nichts gebrauchen.«

Der Sprecher reichte Willanders einen gleichfalls aus dem Nebengemach mitgebrachten kleinen Goldreif, den er ihm über den Zeigefinger zu schieben suchte, doch war der Ring von so schmaler Enge, daß sie nur aber noch für den kleinen Finger ausreichte. Der Waffenschmied äußerte dazu: »Auf eine Manneshand paßt er nicht, aber vielleicht ist's ein Amulett, dir gegen den Bären beizustehen. Vergiß den also nicht und richte deinem neuen Burgherrn einen Gruß von mir aus, der Herbst käme heran, und wir rechneten in Bozen bei ihm auf gutes Ohr und Augen. Ich will für dich bedacht sein, wie ich's deiner Mutter zugesagt, doch gedulde dich noch, bis ich dir Nachricht schicke. Man muß das Eisen nicht hämmern wollen, so lang es spröd ist und sich dagegen wehrt, und mit dem Leben geht's wie mit dem Eisen.«

Nun wandelte der Jüngling von der Stadt zum Wolfsturm zurück, ein zwiespältiges Gefühl in sich tragend, denn ihm war nur in Aussicht gestellt, nicht in Erfüllung gegangen, was er gehofft, und doch auch sonderbar eine Beruhigung dadurch in ihn geraten, daß er's nicht gleich, nicht schon heute erreicht hatte. Und eines ließ ihn mit hochgehobener Empfindung dahinschreiten, an der Seite trug er zum erstenmal ein Schwert, das Abzeichen eines freien Mannes; seine Hand mußte sich öfter durch Umfassen des Griffes versichern, es sei keine traumhafte Einbildung. Zwar mit dem Bären, daß er die Waffe zur Erlangung eines solchen gebrauchen sollte, hatte der Platner sich an ihm belustigt, überhaupt seine Trübsal nicht sonderlich ernsthaft aufgenommen; ein hänselnder Spaß, wie mit der Petzkralle war's auch mit dem Amulett gewesen. An das hatte er nicht mehr gedacht, es fiel ihm erst ein, wie er unter der alten, mächtigen Burgfeste Formiger vorüberkam, die vor einem Jahrhundert vom Sohn des Herzogs Friedel mit der leeren Tasche, dem »münzreichen« und noch mehr kinderreichen Erzherzog Sigismund, den Namen Sigmundskron erhalten und nunmehr Nachkommen vom Geschlecht Oswalds von Wolkenstein angehörte. Da schaute er einmal auf den Reif an seiner Hand nieder, der eine kleine Goldplatte trug, auf welcher mit feinen Strichen etwas eingeschnitten stand, was sie vorstellen sollten, wußte er nicht zu deuten; er sah aus wie drei spitze Zacken, über denen winzige runde Flöckchen schwebten. Damit hatte Berlt Warnkönig recht gehabt, einen Wert besaß das Ringlein nicht, einzig als Andenken an die, welche es bei ihrem Tode hinterlassen. Doch erinnerte sich Willanders seiner Mutter kaum, hatte nur höchst selten an sie gedacht; wie er so, von dem Reif nach dem Schloß Sigmundskron aufblickend, stehengeblieben, geriet ihm zum erstenmal in den Sinn, wer denn sein Vater gewesen sein möge, denn einen solchen mußte er doch auch gehabt haben. Aber bloß ein flüchtiger Gedanke war's; der ging ihn noch weniger an, als die Mutter. Er stand ganz allein in der Welt, nur gehörte ihm jetzt ein Schwert, wie ein Freund dünkte es ihn. Als er weiterschritt, zeigten die Bäume am Wegrand seinen Augen, auch was der Platner vom Herankommen des Herbstes gesagt, treffe zu, an den Zweigen begann das Laub zu gilben. So dauerte es also nicht mehr lange bis zum Winter. Mußte er den noch im Wolfsturm zubringen? Das schien ihm nicht möglich. Aber eigentlich konnte er ja sich nichts Besseres wünschen; auch der Waffenschmied hatte ihn ja dazu beglückwünscht, in solchem Hause aufgenommen worden zu sein, und was für einen Grund sollte er angeben, daß er nicht drin bleiben könne? Zumal da der Winter kam. Nun führte die Straße ihn der Einkehrburg der Rinne in dem Steinberg vorbei, die roten Beeren mußten sich jetzt schwarz gefärbt haben. Diese Vorstellung wollte ihm den Fuß hineinziehen, doch er besann sich noch rechtzeitig, der Zürgelbaum stehe ja gar nicht in Wirklichkeit dort, er habe nur einmal von ihm geträumt. Wenn er einen Bären erlegen könne, dann wüchse der Baum vielleicht in dem Waldgemach auf, denn durch die Geburt werde keiner zum Mann, sondern müsse sich selbst dazu machen; das hatte Berlt Warnkönig doch wohl gleichfalls richtig gesprochen. In seinem Kopf ging's merkwürdig hin und wieder; was ihm eben als unsinnig erschienen war, sah ihn gleich danach als glaubwürdig an. Er fühlte selbst, es stehe nicht ganz recht mit seiner Vernunft, lief bald in fast atemloser Hast, um nach Haus zu kommen, setzte dann wieder kaum Fuß um Fuß vor, seine Rückkehr hinauszuzögern. Als er erst gegen Abend mit Ulbert Siekmoser, der sich den Tag über abwesend befunden, zusammentraf, richtete er ihm den Gruß und die beigefügten Worte des Waffenschmiedes aus. Der Hörer nickte dazu mit dem Kopf, ohne etwas zu erwidern, nur Menz Romwald sagte: »Ja, der Herbst kommt heran, die in Bozen denken's auch, es wird Hochwasser in der Etsch geben.« Siekmoser nahm jetzt das Schwert an Willanders Gurt gewahr und fragte verwundert, wie er dazu gekommen sei, versetzte auf die erklärende Antwort: »Der Platner hat recht daran getan, es steht dir gut zu Gesicht und du hast das Alter dafür. Was blinkt dir am Finger?« Der Befragte entgegnete darauf ebenfalls, und der Hausherr äußerte, den abgezogenen Ring betrachtend: »Darauf hat der Goldschmied etwas eingeschnitten, was es vorstellen soll, läßt sich nicht erkennen. Mir kommt vor, ich habe schon einmal – kann mich aber nicht erinnern, was und wo's gewesen ist.«

Er gab den Reif zurück, faßte jedoch nochmals danach und sagte: »Jetzt fällt mir's ein, damit hat's eine Ähnlichkeit. Ich war einmal im Dom zu Brixen und sah drin den Denkstein, auf dem der Oswald von Wolkenstein abgebildet ist mit einer Leier, Fahne und Schwert. Daneben war sein Wappenschild, drei blaue Bergspitzen, wie sie vom Schlern in die Luft steigen, und über ihnen drei weiße Wolken; das deutete wohl auf den Namen Wolkenstein hin, das Geschlecht hat ihn davon bekommen oder sein Wappen so nach ihm angenommen. Daran hatte die Ringplatte mich erinnert; sieh auch einmal, Luit, die drei kleinen Zacken könnten Bergspitzen vorstellen sollen und die halben Bogenstriche darüber Wolken, deutlicher wußt's der Goldschmied auf dem schmalen Stück nicht zu machen. Wenn's so war', da hätt' der Ring wohl einem Abkommen vom Wolkensteiner angehört oder eine mit dünneren Fingern mußt's gewesen sein; für eine Mannshand ist er zu eng. Dann hat vermutlich ein Tandler ihn an sich gebracht und einer Frau für den Goldwert verhandelt. Tu' ihn dir mal auf den Finger, Luit, dann wird er passen; du hast ja gern, was vom Oswald von Wolkenstein herrührt.«

Luitgard tat nach dem Geheiß und schob den Reif, wie es schien, mit Leichtigkeit über ihren Mittelfinger. Aber wie sie ihn abnehmen wollte, ging er nicht wieder herunter; sie drehte und drückte an ihm, doch half's nicht, er blieb sitzen. Zuletzt sagte ihr Vater lachend: »Den, scheint's, hat jemand verhext, daß er bei dir bleiben will. Wenn's Willanders recht ist, geb' ich ihm, wie der Tandler, den Goldwert dafür, daß du ihn behältst; ihm ist er ja doch zu nichts nutz.«

Der halb damit Angesprochene fiel rotüberflossenen Gesichts stotternd ein: »Nein – Euer Vater sagt's wohl recht, es muß ihn jemand verhext haben – ich meine – wenn Ihr ihn behalten mögt, Jungfrau – mir ist er ja zu nichts –«

Luitgard Siekmoser erkannte das augenscheinlich als richtig an, denn sie ließ von weiteren Versuchen, den Ring von ihrem Finger loszubringen, ab. Doch so wenig wie ihr Mund ihm für ihre Befreiung aus den gewalttätigen Händen Konrad Teitenhofens gedankt hatte, äußerte sie jetzt ein Dankwort für die Schenkung des Goldreifes. Offenbar sah sie diese als etwas Selbstverständliches und ihr Gebührendes an, denn er war von ihren Eltern zum Dienen im Wolfsturm aufgenommen worden, ohne daß er sich seinen Unterhalt im Hause durch wirkliche Hilfsleistungen verdiente.


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