Wilhelm Jensen
Auf dem Vestenstein
Wilhelm Jensen

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Achtes Kapitel

Wie alles zuvor, seit den frühesten Erinnerungstagen her Geschehne ging auch dies große Ereignis mit seinen Nachwirkungen wieder vorüber, und die Sommersonne betrieb gleichmütig ihr schon altes Geschäft fort, im Etschtal die Trauben und Pfirsiche und, wo sie da und dort einen Zürgelbaum antraf, auch dessen Früchte zum Weiterreisen anzuhalten. Ähnlich mochte sie ebenfalls mit den Knospenansätzen in menschlichen Köpfen und Herzen verfahren, doch stellten diese ihre Blütenentwicklung nicht gleich der an den Gezweigen offen zur Schau, bemühten sich im Gegenteil zuweilen, ihren Vorschrift der Wahrnehmung möglichst unter verbergenden Schleiern zu entziehen, und merkbar war's, daß dieser Antrieb auch über Willanders und Luitgard Siekmoser geraten sei. Was sich zwischen ihnen nach dem gemeinsamen Verzehren der schwarzen Kirschen zugetragen, fand keine Wiederholung mehr, die süßen Beeren hatten offenbar auf sie nicht die gleiche Wirkung geübt, wie bei den Gefährten des Ulysses; wenigstens waren beide nicht von unbezwinglichem Verlangen überwältigt worden, fortan immer in dem grünen Waldgemach zu bleiben, vermieden vielmehr, wie in schweigendem Übereinkommen, dorthin zurückzukehren und fanden sich nur noch unter offenem Himmelsdach im unverschatteten Sonnenlicht zusammen. Das unterließen sie freilich an keinem Tage, aber auch so ward ein Unterschied in ihrem Beisammensein gegen früher erkennbar. Ihre Augen sahen sich nicht an, wichen bei zufälliger Begegnung des Blicks stets schnell zur Seite, nie mehr faßten sie sich, wie vordem, beim Gehen an der Hand. Es war, als ob jeder im Innern eine Scheu vor dem andern oder vielleicht auch vor sich selbst trage; vom Herzog Ferdinand und Philippine Welser war nicht mehr zwischen ihnen die Rede. Statt der Gedichte Walters von der Vogelweide nahmen sie wieder die Oswalds von Wolkenstein auf ihre Gänge mit und lasen darin von seinen Kriegserlebnissen und abenteuerlichen Umfahrten durch die Welt; doch ließ sich ihnen anmerken, vorlesend oder zuhörend, tat's jeder mit gleicher Teilnahmlosigkeit, sie fuhren nur damit fort, weil sie nichts anderes gemeinsam zu tun wußten. Ihre fünfjährige Freundschaft hatte sich überlebt, ward allein noch von der langjährigen Gewohnheit scheinbar weiter erhalten; sie langweilten sich gegenseitig beieinander.

Unter solchen völlig veränderten Umständen mußte einmal eintreten, was schließlich geschah; Willanders blieb eines Morgens aus, und damit nahm das Enden ihres Zusammenkommens seinen Anfang. Zwar stellte er sich am nächsten Tage noch wieder ein und gab vor, er habe gestern wegen eines besonderen Auftrages nicht hierher können, aber dann wurden die Zwischenräume seines Wegbleibens länger, und nach einigen Wochen hörte sein Kommen gänzlich auf. Er ging seine Wege, und Luitgard gewöhnte sich daran, auf dem ihrigen allein zu sein, verlor jetzt die Scheu vor dem Zürgelbaum und kehrte zu ihm zurück, öfter einsam unter seinem Dach in den wieder von ihr mitgenommenen Gedichten Walters zu lesen. Eigentümlich aber traf sich's, daß Willanders zu dieser Zeit für seine Gänge allemal auch die gleiche Richtung wie sie einschlug und sich dadurch immer in nur geringer Entfernung von ihr befand, doch ohne daß sie eine Ahnung davon berühren konnte. Denn, wo es sein mochte, hielt ihn stets dichtes Laubwerk unsichtbar verdeckt, und sein bebender Fuß trat so unhörbar auf, daß er kein stärkeres Geräusch als ein leicht über den Boden hinhuschendes Eichhorn verursachte. So verweilte er in seiner Verborgenheit, bis sich das Mädchen, das er selbst, wo es sich niedergelassen, beständig durch eine Blätterlücke im Auge zu halten vermochte, zur Umkehr nach dem Wolfsturm aufmachte. Daß dies Tag um Tag derartig geschah, konnte nicht wohl vom Zufall so gefügt werden, und was ihn dazu trieb, wußte er sich selbst nicht deutlich anzugeben. Doch war ihm in letzter Zeit auf dem Vestenstein einmal etwas von der Burgfrau mit hämischem Mundgrinsen zu ihrem ältesten Sohne Gesprochenes zu Gehör gekommen: »Tu's dem Balg! Alt und stark genug bist du dazu, und wenn's dir gerät, so soll meine Truhe dir einen Mahlschatz drauf geben.« Was damit gemeint war, hatte der Hörer zwar nicht verstanden, doch trug er gegen Konrad Teitenhofen einen immer mehr angewachsenen Widerwillen in sich, und alles Vorhaben und Tun von dem rief ihm unwillkürlich den Gedanken an etwas Bösartiges wach. Allerdings hatten die Worte der Übelhörin in keinerlei Zusammenhang mit Luitgard Siekmoser stehen können und konnte ihn keine solche Besorgnis antreiben, dort, wo sie sich aufhielt, in der Nähe zu sein. Doch die Vorstellung, sie irgendwo im Gebirge allein zu wissen, überkam ihn mit einer Beunruhigung, zu der beitrug, daß er neuerdings Konrad Teitenhofen öfter die Fallbrücke niederlassen und sich darüberhin für stundenlange Abwesenheit aus der Burg davonbegeben sah.

Ob Luitgard dennoch, wiewohl Auge und Ohr nicht dazu verhelfen konnten, durch einen unbenannten und auch den Gelehrten, die sich mit solchen Dingen beschäftigten, unbekannten Sinn von der unsichtbaren und lautlosen Anwesenheit ihres früheren täglichen Gefährten in der Gegend, wo sie sich befand, in Kenntnis gesetzt wurde, ließ sich ihrem Gesichtsausdruck und Behaben nicht anmerken; sie hätte verständigerweise auch nicht auf eine derartige Vermutung zu geraten vermocht, da nicht erklärbar gewesen wäre, was ihn, der des nahen Zusammenseins mit ihr überdrüssig geworden, dazu veranlassen könne, sich in weiterem Umkreise des von ihr gewählten Sitzplatzes aufzuhalten. Aber falls dies völlig Unglaubhafte auch Wirklichkeit sein sollte, so wußte sie doch vermöge eines ihr von der Natur mitgegebenen unbenennbaren Sinnes aufs bestimmteste, daß sie vor einem unliebsamen Zusammentreffen mit ihm unter dem Zürgelbaum jedenfalls am besten gesichert sei; dahin werde er gewiß nicht kommen, um sich wieder neben ihr zu langweilen. Und dies vollständige Sicherungsgefühl dort bewog sie hauptsächlich, wie vordem die kleine heimliche Waldkammer zum Lesen in den Gedichten Walters von der Vogelweide aufzusuchen; jetzt in der Sommerzeit kam auch der blaue Vogel wieder, ließ seine flötenden Töne vom Baumgezweig herunterschallen, und ihr war's dabei jedesmal, so schön habe er noch niemals zuvor gesungen; so wundersam in der sonstigen Lautlosigkeit umher, daß manchmal ein Gefühl über sie geriet, als stehe der Herzschlag ihr in der Brust für einen Augenblick still, um mit zuzuhören. Wenn es dann Zeit für sie wurde, sich auf den Heimweg zu begeben, ging sie immer mit zugedrückten Lidern dort schnell durch das Buschlaub, wo der Herzog Ferdinand und Philippine Welser bei ihrem Weggang noch ein wenig angehalten hatten. Es regte den Eindruck, sie werde von einer Scheu befallen, an der Stelle etwas Erschreckendes zu gewahren, und auf die Straße ins offene Tal hinausgelangt, blickte sie sich auch auf dieser niemals um, als halte ein Gefühl sie ab, es könne in dem mittägig heißen Sonnenglanz etwas Unheimliches hinter ihr auftauchen, sondern schritt eilfertig auf die Häuser von Andrian zum Überqueren des Gaidener Baches zu.

Eines Mittags sah Willanders sie so aus der Entfernung nach Hause zurückkehren und daß sie dabei auf der Straße von jemand ihr Begegnendem angehalten wurde. Doch lag darin nichts Bedrohliches, denn nur unweit mehr vom Dorfe geschah's, und er konnte zudem noch unterscheiden, ein altes Weib sei's, das sie ansprach; nach dem äußeren Wesen und einem Tragkorb auf dem Rücken schien es eine mit allerhand kleinen Waren zum Verkauf in den Dorfschaften umwandernde Italienerin zu sein, wie sie nicht selten aus der Trientiner Landschaft nach Bozen und weiter durchs Etschtal herauf bis Meran gegangen kamen. Der Beobachter aus der Ferne nahm gewahr, daß sie nach kurzem Stehenbleiben neben der Heimschreitenden mit dieser umkehrte, und er war von seinen scharfsichtigen Augen nicht getäuscht worden. Sie hatte das Mädchen gefragt, ob seine Eltern nicht etwas von dem in ihrem Korbe Feilgebotenen gebrauchen könnten, begleitete auf eine Ungewisse Erwiderung Luitgard über den Bach und trat mit in das Zugangstor des Wolfsturmes hinein. Das sah Willanders ebenfalls noch, denn er folgte, wie täglich, in dem stets von ihm innegehaltenen Abstande hinterdrein und konnte sich auch wie immer nicht gleich von der Betrachtung des Wolfsturms losmachen, sondern verweilte, durch einen Busch dem Gesicht entzogen, noch eine geraume Zeitlang mit dem Blick auf dem Gemäuer der jetzt schon seit manchen Wochen nicht mehr von seinem Fuß betretenen kleinen Burg. Während dieser Zeit kam die wandernde Händlerin nicht wieder aus dem Tore hervor; sie mußte drinnen guten Absatz finden oder vielleicht von der gerne zu einer Wohltat bereiten Frau Helena Siekmoser mit Speise und Trank zur Fortsetzung ihres heißen Weges erquickt werden, und der Hinüberschauende durfte sich nicht länger aufhalten, sondern schwang sich am Steilhang der Bergwand auf seinem Abkürzungssteig zum Vestenstein hinan.

Seit fünf Jahren befand er sich jetzt auf diesem und war ein anderer geworden, als er hingekommen; nicht allein körperlich, sondern in geistiger Beziehung noch mehr. Im Anfang hatten die Unterkunft dort und die fast ungebundene Freiheit, weit im Gebirg umherzuschweifen, all seine Wünsche erfüllt, seine Lebensführung ihn vollständig befriedigt, doch nach und nach war darin eine Änderung vor sich gegangen. Ihm reifte eine Einsicht im Kopf heran, welch nichtige Dienststellung, eigentlich nur als Gehilfe der alten Ursel, er in der Burg einnehme und daß er immer in der gleichen weiter verbleiben werde; man konnte seine Leistungen gebrauchen, behielt ihn deshalb und teilte ihm schmale Kost dafür zu. Nichts Menschliches verband ihn mit irgendeinem der übrigen Hausbewohner, wie vormals ward er von allen als einfältiger Bube und willenloser Handlanger zur Besorgung des ihm Befohlenen angesehen und so abends auch in seine Bettkammer weggeschickt, wenn Christoph Teitenhofen sich mit den Waffenknechtcn zum Trunk setzte; die beiden Söhne des Burgherrn behandelten ihn wie einen jeder ihrer Launen zu blinder Unterwürfigkeit verpflichteten Leibeigenen. Das ließ ihn allmählich ab und zu Gedanken nachhängen, was künftig aus ihm werden solle, und unwillkürlich gesellten sich ihm noch andere über das Tun und Treiben der Insassen des Vestensteins hinzu. Ihn rührte manchmal ein dunkles Gefühl an, es gehe etwas vor, wovon er nichts erfahre; was und wann, vermochte er sich freilich nicht zu deuten. Wie als Knabe, schlief er stets fast die Nacht hindurch, war indes seit einiger Zeit ein paarmal in ihr zu halbem Aufwachen gekommen, ohne sich klar werden zu können, ob ihm ein Traum oder ein wirkliches Geräusch erweckt habe. Das geschah gegen Morgen hin, eh' noch das Taglicht recht angebrochen; dann war's ihm im Ohr gewesen, als sei die Zugbrücke niedergelassen worden und draußen unterm Bergfried ein Gerassel wie das von eisernen Schienen erschollen. Im Halbschlaf mußte wohl eine Sinnestäuschung über ihn geraten sein, denn von wem sollte der Ton hergerührt haben? Der Burgherr, Petz und Wetzel schliefen zumeist ihren Weinrausch noch bis über Mittag hin aus, und auch Konrad Teitenhofen tat's jetzt öfter schon ebenso. Für Willanders indes trug dies, ohne daß er sich sagen konnte, warum, mit dazu bei, ihm seine Stellung auf dem Vestenstein mehr und mehr zu verleiden; freilich hatte alles diese Wirkung nur unbewußt auf ihn geübt, solange er täglich mit Luitgard Siekmoser unterm Zürgelbaum zusammengetroffen war. Doch seitdem zwischen ihnen die Entfremdung eingetreten, verstärkte sich seine Abneigung, länger hier zu verbleiben, zu deutlichem Bewußtwerden, erzeugte einen Trieb in ihm, die Burg zu verlassen. Er hob an, darüber nachzusinnen, wo und in welcher Weise er sich an einer anderen Stelle durch Dienstleistung oder sonstige Arbeit seinen Unterhalt verdienen könne, fand jedoch beim Umherdenken nichts anderes aus, als zum Platner Warnkönig nach Bozen zu gehen und sich von dem einen Rat zu erholen. Das wollte er auch, doch verschob's immer wieder von Tag zu Tag; ihn hielt eine Furcht zurück, der Waffenschmied werde ihm zu einer Stellung in einem entfernten Ort verhelfen, und dem widerstand ein Drang, der sonderbar in ihn gekommen war, aus einem sich mehrfach wiederholenden Traum, darin er an etwas emporkletterte, höher und höher, ohne zu wissen, weshalb und wohin. Aber dann hatte einmal die Stimme Luitgards dabei gesagt: »Laß davon, du kommst nicht hinauf und fällst tot herunter«, und als er wieder so träumte, wußte er's, er klettere an dem Zürgelbaum aufwärts, denn in ihm sei ein unbezwingliches Verlangen, noch wieder von den schwarzen Früchten zu essen, und so müsse er noch einmal an dem Stamm in die Höh'. Selbstverständlich zu einer Stunde, wenn das Mädchen sich nicht dort befinde, und anderseits wußte er damit noch zu warten, denn die Beeren konnten gegenwärtig erst rot sein, und das nötigte ihn, seinen Vorsatz, den Gang nach der Stadt noch aufzuschieben.

So ließ seine Unfähigkeit zur Fassung eines Entschlusses ihn noch weiter auf dem Vestenstein verharren, nur seine Einbildungskraft spielte mit der Vorstellung, er wolle irgendwo Landsknechtdienst suchen, sich in Schlachten rühmlich hervortun, daß er's zu einem Hauptmann bringe, und zurückkehrend als solcher einmal an das Tor des Wolfsturmes anpochen könne. Den Mut und die Kraft dazu fühlte er in sich; auch Oswald von Wolkenstein war so, als ein halber Knabe noch, auf sich vertrauend in die Welt hinausgezogen. Zwar mochte eine ziemliche Zeit bis zu seinem Wiederkommen vergehen, aber davor bangte ihm nicht, er war merkwürdigerweise innerlich fest überzeugt, wie lange es auch dauern möge, werde er bei seiner Rückkunft doch alles hier unverändert, ja noch schöner geworden, wiederfinden; nur blieb unerläßlich, daß er's inzwischen zu einem Hauptmann gebracht habe. Ein Träumen mit wachen Sinnen war's, wovon niemand um ihn eine Ahnung anrührte, und wenn Luitgard ähnlicherweise von etwas träumte, erfuhr's ebenso niemand in ihrer Umgebung. Man gab in letzter Zeit wenig acht auf sie, da sich im Wolfsturm eine Veränderung zugetragen hatte, von der die Gedanken ihres Vaters und ihrer Mutter vielfach in Anspruch genommen wurden, so daß ihnen auch Willanders Wegbleiben nicht sonderlich auffiel. Das Mädchen versah wie immer seine häuslichen Obliegenheiten und ging in den unbeschäftigten Stunden still die gewohnten Wege; von ihrem leiblichen Wohlbefinden legte die schönblühende Farbe des Gesichtes vollbefriedigendes Zeugnis ab, und zweifellos lag auch auf ihrem Gemüt kein Schatten eines Kummers, eher konnte dann und wann ein stillheimlicher Glanz in ihren Augen von einer innerlichen Freudigkeit sprechen, die früher nicht in solcher Weise zum Ausdruck gekommen.

Als aber das Rot der Beeren des Zürgelbaumes zum Schwarz überzugehen anfing, geschah's doch eines Tages, daß ein Geräusch sie auf ihrem Sitz unter dem Stamm den Kopf aufheben ließ. Sie tat's verwundert und ein wenig erschreckt, denn ein Rascheln im Buschgezweig brachte zu Gehör, daß sie sich dennoch in der Zuversicht getäuscht habe, hier sei der allersicherste Platz vor einer Störung für sie. Allein nur für die Dauer eines Herzschlages hielt die über sie gefallene Beunruhigung an, denn der Aufblick zeigte ihr das Hervorleuchten des Kopfs eines nie von ihr gesehenen, fremden jungen Burschen aus dem Laubwerk, der wie ehemals der Herzog Ferdinand durch Zufall von der Landstraße hierher geraten zu sein schien. Nur verband sich ihr mit dieser Wahrnehmung der Eindruck eines widerwärtigen Gesichtes und mit sonderbarem, höhnischem und gierigem Gefunkel auf sie gerichteter Augen, so daß sie sich aus einem Antrieb des Ekels vom Sitz aufhob. Indes fast zugleich schon war er herangesprungen, schlang mit roher Gewalt die Arme um ihren Hals und stieß aus: »Hab' ich heut' die Maus in der Falle!« Sie wußte nicht, was er wollte, ihr flog ein unwillkürlicher Ruf vom Mund, und sie rang, sich von ihm loszumachen, doch umsonst. denn seine Stärke war der ihrigen weit überlegen, und in heißem Atemstoß eingehüllt, schlugen ihr von seinen Lippen dicht die Worte ins Gesicht: »Quieke nur, Maus, hier hört dich keiner!« Aber hinein raschelte und prasselte es nun von der andern Seite des grünen Waldgemaches her, ein losgebrochener Stein rollte polternd von der Wandung herunter, hinterdrein schnellte sich etwas nieder, und Luitgard fühlte plötzlich, daß sie befreit dastehe; jemand hatte wie mit Riesenstärke ihren plumpen Angreifer von rückwärts gepackt und mit solcher Wucht gegen eine Felskante geschleudert, daß er, halb betäubt von dem Fall, ächzend am Boden lag. Im nächsten Augenblick hielt Willanders ihre Hand gefaßt und zog sie hastig durch die Rinne ins offene Tal hinaus; wutknirschend kam Konrad Teitenhofen zu sich und wollte hinterdreinstürzen, doch beim Aufrichten versagte ihm sein rechter Fuß. Eigentümlich war ihm dasselbe geschehen, wie einst seinem Vater von Ulbert Siekmoser, als dieser ein Mädchen gegen seine beabsichtigte Gewalttat beschützt hatte, und lahm, hinkend mußte heute der Sohn sich mühselig viele Stunden lang den weiten Gebirgsweg von der Südseite her zum Vestenstein hinaufschleppen.

Ohne ein Wort auszutauschen, schritten die beiden nebeneinander bis zum Wolfsturm, an dem Willanders ebenso stumm vorübergehen wollte, doch trat Siekmoser grad' aus dem Tore hervor, bemerkte in den Zügen seiner Tochter Anzeichen einer ungewöhnlichen Erregung und erkundigte sich, ob ihr etwas zugestoßen sei. Darauf erwiderte sie, noch von sichtbarem Gliederzittern überlaufen, mit kurzer Angabe des Vorgegangenen und konnte nicht begreifen, was der Mensch, dem sie doch nichts getan, von ihr gewollt habe. Ihr Vater fragte: »Wer war's denn?« Das wußte sie nicht, und Willanders antwortete statt dessen: »Von oben, der älteste Sohn meines Burgherrn.« Die Entgegnung ließ Albert Siekmoser ein paar Augenblicke in Schweigen verfallen, ehe ihm vom Mund kam: »Dann kannst du nicht wieder auf den Vestenstein zurück.« Das hatte der Angesprochene sich bereits selbst so gesagt und versetzte: »Nein – ich habe auch schon vorher im Sinn gehabt, von dort wegzugehen.« – »Weg? Wohin willst du?« – Darauf wußte jetzt der Jüngling keine rechte Antwort, sprach verworren etwas von Kriegsdienst und Hauptmann eines Fähnleins werden. Bis er verstummte, hörte Siekmoser zu und sagte dann: »Ich glaube, das stellst du dir leichter vor, so schnell geht's nicht damit. Jedenfalls nicht über Nacht, und du mußt für die heutige doch noch ein Dach überm Kopfe haben. Ich bin dir Dank schuldig, daß du meiner Tochter beigestanden hast; der Bursche von da oben muß wohl betrunken gewesen sein. Bei uns ist noch eine leere Kammer, wenn du drin schlafen willst; Kriegsdienst kann ich dir bei mir nicht geben, aber du kannst dich von hier aus danach umtun, und bis dir's glückt, dich durch mancherlei im Hause nützlich machen. Willst du darauf eingehen, so komm mit herein.«

Willanders stand rotüberflammten Gesichts und brachte kein Wort von den Lippen, erwiderte allein dadurch, daß sein Fuß sich mit einer zaghaften Bewegung durch das Tor vorsetzte. Ihm war's plötzlich aufgegangen, wie töricht seine Einbildung gewesen sei, daß er's rasch, in einigen Jahren zum Hauptmann bringen könne, und zugleich befiel's ihn erst jetzt mit einem tödlichen Schreck, was geschehen wäre, wenn er sein Vorhaben, in die Stadt zum Waffenschmied zu gehen, schon heute ausgeführt hätte. Unverkennbar aber hatte Ulbert Siekmoser eben an ihm wieder das gleiche Wohlgefallen gefunden, wie einst an dem Knaben bei der ersten Begegnung; er wandte sich nun mit einer kurzen Äußerung Menz Romwald zu, der im Hofraum an etwas hantierte: »Wir wollen morgen unsere Feuerrohre nachsehen, Menz, ob sie nicht eingerostet sind,« und trat dann ins Haus, um den neuen Mitbewohner des Wolfsturms nach seiner Kammer zu führen.


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