Wilhelm Jensen
Auf dem Vestenstein
Wilhelm Jensen

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Siebentes Kapitel

Da kam einmal an einem leuchtenden Maimorgen auf der Straße von Bozen nach Nals etwas Wunderbares daher. Ein beträchtlicher glänzender Reiterzug war's, von prächtigen, buntfarbigen Gewändern, seinen erzenen Rüstkleidern und wallenden Helmfedern, in der Sonne glitzernd und gleißend; in einer von purpurnem Baldachin überdachten Sänfte ward eine ältere, etwas müdblickende Dame getragen, andere, zumeist noch jung, ritten auf reichgeschirrten Maultieren neben und hinter ihr. Die Tochter des Königs Ladislaus von Ungarn und Böhmen war's, Gemahlin des Bruders Kaiser Karls V., Erzherzog Ferdinands, des Landesherr, von Tirol, der von Innsbruck her über den Brenner gekommen, eine Zeitlang auf dem alten Schloß Tirol über Meran Aufenthalt zu nehmen. Er bildete mit strengem Ausdruck des unverkennbaren Habsburgischen Gesichts die Spitze des vornehmen Zuges, der indes eine Strecke vor Andrian plötzlich anhielt; die Erzherzogin Anna, schon seit länger von einem leidenden Zustande befallen, fühlte sich zu matt zur Fortsetzung des Wegs und verlangte nach einer Ausrast. Eilfertig wurde von Bediensteten alles dazu Erforderliche, vorbedacht auf Packpferden Mitgeführte abgeladen, ein stattliches Gezelt aufgeschlagen, in dem die Ermüdete sich auf eine bequeme Ruhbank hinstreckte; daß sie die Augen schloß, deutete darauf hin, sie wolle in einem längeren Schlaf nach Erholung suchen. Das Geleit von Herren und Damen aber nützte die Unterbrechung, wie es schien nicht ungern, zur Einnahme eines Imbisses und erfrischenden Trunkes, wofür ebenfalls Vorsorge getroffen worden. Ein Waldbestand in erstem lichtgrünem Blätterschmuck zog sich Schatten bietend gegen die Etsch abwärts, dorthin schafften die Dienerhände das Nötige, Fäßchen mit auserlesenem Bozener Edelwein und kostbare Trinkgeräte, und ein farbig-fröhliches Treiben, Stimmenschall und Lachen begannen unter dem jungen, noch von Goldfäden der Sonnenstrahlen durchspielten Laubdach. Im Angesicht der Stelle geschah's, wo die kleine Einbuchtungsrinne sich in den Abhang des Steinbergs hineinwand, und Willanders und Luitgard saßen nach dem täglichen Brauch dieser Vormittagsstunde in ihrem grünen, von den weißen Kelchen der Felsenbirne verzierten Gemach, doch ohne von dem, was draußen vorging, etwas zu sehen und zu hören. Die Bäume und Büsche ihres Aufenthaltsplatzes verdeckten den Blick ins Tal hinaus mit dichtem Vorhang und fingen auch den Schall der drüben tönenden Stimmen ab; so lag Stille wie immer um die beiden, und sie rührte keine Ahnung von dem an, was sich kaum eine Viertelstunde weit von ihnen zutrug. Deshalb überkam's sie halb mit Schreck, als einmal zu ihrer Linken ein Rascheln im Gezweig des Unterholzes aufklang und gleich danach aus diesem eine Gestalt hervortauchte, wie sie noch niemals eine ähnliche gesehen hatten. Ein ganz junges, wohl noch kaum sechzehnjähriges Mädchen war's, in einem goldgrünen Gewande und auf dem sonnenhaft blonden Haar einen tellerartig flachen, gleichfarbigen Hut tragend, von großen weißen und rosigen Federn überwallt; um ihren Hals und Nacken schürzte sich eine breite, vielgefältelte, gleich frisch gefallenem Schnee glänzende Atlaskrause. Aus der hob sich ein schmales Gesicht auf, als das Wundersamste von allem, denn etwas Lieblicheres an Schönheit konnte es auf der Erde nicht geben. Ganz verständnislos blickten die beiden stumm auf die rätselvolle, halb vor ihnen zurückstutzende Erscheinung hin, da klang auch von der andern, rechten Seite ein Laubrascheln her und kam dort ebenfalls eine Gestalt zum Vorschein, doch keine weibliche, sondern ein junger, wohl höchstens erst um zwei Jahre älterer Mann in dunkler, vornehmer Tracht, mit einem zierlichen Schwertdegen an der Seite; über seinen schlankanschließenden kurzen Wamsrock fiel ein breit mit goldenem Band umsäumter Mantelkragen bis kaum zum Gürtel herab. Auch ihm umschloß eine weiße, gefältelte Krause, doch von geringerer Breite, den Hals, und auch er machte beim Anblick der beiden Inhaber des heimlichen Platzes eine leicht stutzende Bewegung. Aber gleich danach sagte er lächelnd: »Habt Ihr ebenso wie ich geglaubt, Jungfrau, daß hier etwas Schönes zu finden sei und Euch herverirrt? – Seid ihr Waldkinder, und ist dies eure Wohnstube, darin ihr die Herren seid? – Kommt herzu, Jungfrau, wir wollen uns zu ihnen setzen, sie sehen nicht wie Kobolde aus, die Übles im Sinn tragen. Und schauet hin, welch ein herrlicher Zürgelbaum sich hier über uns wölbt, der lohnt wohl, daß uns der Zufall hierher gebracht hat. Ich weiß ihn erst seit gestern zu benennen, denn ich sah in einem Garten zu Bozen einen seinesgleichen, den ein Freund seltener Pflanzen dorthin gesetzt hatte. Von dem erfuhr ich den Namen, den ihm Konradus Gesnerius, der Kundigste unserer Zeit in allen Naturdingen, beigelegt hat, und mancherlei sonst noch über den Baum. Er ist von der Küste des Weltteils Afrika zu uns herübergekommen und bis hierher vorgedrungen, weiter aber nicht, drüben jenseits dieser Berge will er nicht mehr gedeihen. Im Herbst, da bekommt er schwarze Früchte, die einen gar lieblichen Geschmack besitzen sollen, und Gesnerius berichtet, das sei die Lotosfrucht, von der sich das Volk der Lotophagen genährt habe, zu dem ehemals der griechische Held Ulysses, wie der Dichter Homerus erzählt, auf seiner Heimfahrt von der Stadt Troja verschlagen worden. Und es sei den Gefährten des Ulysses der Wohlgeschmack dieser Lotosfrucht so köstlich gewesen, daß sie das Gedächtnis an Heimat und Vaterland davon verloren und kein Begehren mehr gehabt, dorthin zurückzukehren. Nun steht der Lotosbaum hier erst in der Blüte, wie er so auch im Garten zu Bozen stand, und es ist schade, daß wir nicht von seinen Flüchten genießen können.«

Dem Sprecher mußte ein besonderer Gefallen an Gegenständen der Natur innewohnen und er gern den Anlaß wahrnehmen, seine Kenntnis an den Tag zu legen, doch schien's, er habe wohl auch von dem Zürgelbaum so ausführlich zu dem Zweck gesprochen, der schönen jungen Dame Zeit zur Beruhigung darüber zu gewähren, daß sie unvermutet hierher zu den »Waldkindern« geraten sei; beide gehörten offenbar dem Gefolge des Erzherzogs Ferdinand und seiner Gemahlin an und hatten sich während der Ausrast der letzteren von den anderen fortbegeben, waren so, wohl gleicherweise vom Anblick der grünumbuschten Einbuchtung in die Bergwand verlockt, hier an der nämlichen Stätte zusammengetroffen. Jetzt ließen sie sich für ein Weilchen neben denen nieder, die nicht wie »Übles im Sinn tragende Kobolde« aussahen, sprachen freundlich mit ihnen, erkundigten sich nach ihren Namen und Wohnsitzen; noch immer großstaunend, gaben die Befragten in offener, hübscher Art Antwort darauf, daß erkennbar ward, sie flößten den Fremden Wohlgefallen ein. Die Augen der letzteren begegneten sich ab und zu, kurz einen raschen Blick miteinander austauschend, hinter dem Rücken der zwischen ihnen Sitzenden; dann streckte die junge, im goldgrünen Kleide als eine Fürstin erscheinende Dame einmal die Hand nach dem auf Luitgards Knie liegenden Pergamentbändchen, betrachtete sein Titelblatt und sagte: »Das sind ja die Gedichte von Oswald von Wolkenstein. Leset ihr zusammen darin? Könnt ihr denn lesen?« Das bejahte Willanders, mit einem unverhehlten Stolz- und Glücksgefühl: »Ja, Luit hat's mich gelehrt«; nun nahm der junge Herr das Buch, das ihm bekannt sein mußte, blätterte ein wenig darin und sprach: »Da zeig's uns und lies uns dies Gedicht vor.« Dem leistete der große Knabe bereitwillig Folge und las:

Von achtzehn Jahren eine hat
Gemacht, daß all mein Freude schweigt,
Seit mir ihr Auge früh und spat
So wonniglichen Wandel zeigt.
Ohn' Unterlaß hab' ich kein Ruh',
Mich zwingt ihr Mündlein auch dazu,
Das sich so lieblich auf und zu
Mit Worten süß kann lenken.

Wie fern ich sei, doch folget mir
Ihr Angesicht durch alle Land';
Ihr holder Blick umranket schier
Mein Herz, in rechter Lieb' entbrannt.
Ach Gott, wüßt sie nur mein Gedank',
Wenn ich vor ihr, vor Sehnsucht krank,
Muß stehn und darf an keinen Dank
Und kein Umarmen denken.

Ein Weib, so magdlich, so voll Scherz,
So lieblich, hab' ich nie gesehn;
So schön, bereitet sie mir Schmerz,
Hoch von dem Haupt bis zu den Zehn.
Wenn ich bedenk' ohn' Unterlaß
Die Holdgestalt, ihr ganzes Maß,
Wie könnt' ich ihr wohl sein gehaß?
O wollt' sie Lieb' mir schenken!

Mit wohltönender Stimme hatte Willanders die Verse gelesen, die von ihm und Luitgard bisher nie beachtet worden; über das Antlitz der jungen Dame war dabei ein rosenfarbiges Rot heraufgestiegen, und unvermerkt trafen ihre enzianblauen Augen wieder mit dem Blick dessen zusammen, den der gleiche Antrieb an die nämliche Stelle wie sie geführt hatte. Der sagte jetzt: »Du hast gezeigt, daß du gut lesen kannst, und das Lied klang schön hier unter dem Lotosbaum. Aber schöner wäre noch manches Lied von dem Minnesänger Walther gewesen, der sich von der Vogelweide benannte, niemand weiß mehr, von wannen er gekommen und wo seine Wiege gestanden, obzwar ihm kein anderer gleich kommt. Habt ihr von ihm auch gehört? Dies war' die rechte Stätte, seine Gedichte zu lesen.«

Von dem indes wußten die beiden Befragten nichts, sie kannten keine anderen Lieder als die des Wolkensteiners. Doch wie sie dies antworteten, erschollen flötende Töne über ihnen vom Zürgelbaum herab, der blaue Vogel war herzugeflogen, saß singend droben, und, den Blick nach ihm aufhebend, rief der fremde Herr freudig aus: »Der kommt zur rechten Stund' am rechten Ort. Blaumerle heißt er im Kärntnerland, Gesnerius benannt ihn Cyanus; wenn Walther ihn gekannt hat, mag er wohl in Zweifel gewesen sein, ob er ihm nicht noch den Preis vor der Nachtigall zuteilen solle. Hört, Jungfrau, wie köstlich er redet!«

Alle horchten schweigend ein Weilchen auf den wundervollen Gesang des Vogels, dann kam Luitgard, als er verstummte, vom Munde: »Wir hören ihn oft hier, aber wir verstehen nicht, was er sagt.« Nun fiel der junge Herr ein: »Da müßt ihr Walther von der Vogelweide fragen, der verstand's und sprach's in einem Lied:

Vor dem Wald mit süßem Schall
Tandaradei!
Lieblich sang die Nachtigall.

Doch beim letzten Wort stand der Sprecher auf und fügte nach: »Wir müssen wohl der Zeit gedenk sein, Jungfrau, daß die andern nicht wieder aufbrechen und wir zu Fuß hinterdrein folgen müßten. Das wäre von Übel –«

Obgleich er dazu lachte, erschrak die Angesprochene merklich bei der Vorstellung und erhob sich rasch ebenfalls. Beide reichten den Zurückbleibenden freundlich die Hand und sagten wie aus einem Munde: »Es war schön hier bei euch.« Dann gingen sie schnell miteinander davon. Luitgard und Willanders blickten ihnen wie zwei Erscheinungen aus einem Märchen nach, dann nahmen sie noch Seltsames gewahr. Buschgezweig deckte sich über die Fortgeschrittenen, doch ließ durch seinen Schleier erkennen, daß sie drüben noch einige Augenblicke anhielten, der junge Mann einen Arm um den Nacken seiner Begleiterin schlang, sein Gesicht zu ihrem neigte und sie auf die Lippen küßte. Danach wurden sie nicht mehr sichtbar, und nur die Blaumerle hob zwischen den grünen Blüten des Zürgelbaumes ihren Gesang wieder an. Es dauerte eine geraume Zeit, ehe die beiden zu dem Entschluß gelangten, den Weggeschwundenen an dem Talrand hinaus nachzufolgen. Sie kamen wortlos darin überein, doch taten etwas ihnen bisher noch nie in den Sinn Gekommenes, denn beim Vorsetzen der Füße faßten sie sich zum erstenmal an der Hand; es regte den Eindruck, daß sie sich wechselseitig dadurch Mut einzuflößen suchten. So erreichten sie den Ausgang der Rinne, davor aber lag alles, wie sonst, still und klar, nur in ziemlicher Ferne schon bewegte sich ein farbig glänzender und glitzernder Reiterzug gegen Nals zu talauf.

Ihnen war's, als hätten sie einen wunderlichen Traum gehabt, in dem sie erfahren, wie »ihr Baum« und wie der blaue Vogel heiße. Auch noch etwas anderes, aber was dies sei, wußten sie sich nicht zu sagen; es gab kein Wort dafür und keine Vorstellung, nur ein Gefühl, es verhülle sich unter einem Nebelschleier, einer hohen Bergspitze gleich, auf die sich eine weiße, von der Sonne mit Gold umsäumte Glanzwolke lege. Von der ging eine Blendung aus, und wie vor einer solchen schlossen sie im Gehen unwillkürlich die Augen zu; ihre Hände lösten sich dabei, wie von einem Schreck überkommen, jetzt auseinander, und ohne zu sprechen, eilten sie rascher als sonst nach dem Wolfsturm zurück.


Der Sommer hatte begonnen und schritt mählich weiter; die Blüten des Zürgelbaumes wandelten sich in kleine gelbe Beerenfrüchte um, die langsam rote Färbung annahmen. Da erschien eines Tages ein Bote aus Bozen mit einem kleinen Päckchen, das die Aufschrift trug: »Für die Waldkinder im Wolfsturm«. Es kam weither von jenseits der Berge aus der berühmten Stadt Augsburg und enthielt einen dünnen Pergamentband mit dem Titelblatte: »Gedichte von Walter von der Vogelweide«. Auf einem leeren Blatt davor stand geschrieben: Der Walter kommt zu Euch zum Dank von Herzog Ferdinand

Und von anderer Hand stand darunter:

»Euch schickt auch einen guten Gruß, und höret recht zu, daß ihr verstehen lernet, was der blaue Vogel singt, Philippine Welser

Die war trotz ihrer prächtigen Kleidung keine Fürstin gewesen, sondern eine Tochter des größten und reichsten Augsburger Kaufherrn und Ratsherrn, Franz Anton Welser, bei dessen Vorfahren schon Kaiser und Reich in Schuld gestanden; auf der Reise nach dem Schloß Tirol hatte sie sich mit im Geleit der Erzherzogin Anna befunden. Der aber, mit dem sie in der Verborgenheit des grünen Waldgemachs zusammengetroffen, war der zweitälteste Sohn des Erzherzogs Ferdinand, des Thronerben seines kinderlosen kaiserlichen Bruders Karls des Fünften, Herzog Ferdinand von Österreich, dem es vor einigen Monaten während seiner Anwesenheit beim Reichstag in Augsburg der wundergleiche Liebreiz der sechzehnjährigen Patriziertochter dergestalt angetan hatte, daß er den unverbrüchlichen Entschluß gefaßt, sie, dem Zorn seines Vaters und der ganzen Welt trotzend, sich zur Frau zu erwählen.

Als dann die Beeren des Zürgelbaums zur Größe kleiner Kirschen und schwarzer Reife gelangt waren, sprang eines Tages Willanders zu ihm hin, umklammerte den glatten Stamm mit Armen und Beinen und suchte sich daran emporzuheben. Das sah Luitgard mit Schreck, denn ihr erschien's nicht möglich, daß jemand an dem hohen Baum bis zu den Früchten hinaufklettern könne, er müsse vom Schwindel überwältigt werden und herunterstürzen. Aber der Angerufene hörte nicht auf ihr ängstliches Bitten, sondern rang sich furchtlos weiter, hoch und höher, bis es seiner ausnehmenden Behendigkeit gelang, die Zweige zu erreichen, eine Menge von den Früchten zu pflücken und sie wie einen Regen hinabzuwerfen. Dann glitt er selbst blitzgeschwind wieder zum Boden nieder, wortlos staunend sah seine Gefährtin ihn an, als gewahre sie ihn in diesem Augenblick gleichsam zum erstenmal, sie setzten sich nebeneinander und aßen von den überaus schmackhaft-aromatischen süßen Beeren. Alles, was im Frühling die beiden plötzlich hier aus dem Buschlaub Hervorgetauchten an dieser Stelle gesprochen hatten, war ihnen Wort um Wort im Gedächtnis verblieben und so auch die Erzählung von den Gefährten des Ulysses. Wer das gewesen, wußten sie zwar nicht, doch Willanders sagte: »Ich kann's gut begreifen, daß sie nicht mehr fortgehen wollten, als sie davon gegessen hatten. Mir geht's auch so, ich möcht' immer hier bleiben. Möchtest du's auch?« Das Mädchen nickte, doch gab Antwort dazu: »Wenn du von dort oben heruntergefallen wärest, so säßen wir hier nicht beisammen. Wären dir die schwarzen Kirschen das wert gewesen?« – »Dann wär' ich vor deine Füße heruntergefallen, hätte noch eine von ihnen gegessen und dich dabei noch einmal angesehen. Und danach hätten sie mich bei der Kirche in Andrian begraben und ich immer davon weiter geträumt.« – »Und hättest nicht daran gedacht, daß ich dann immer allein hier weiter sitzen müßte.«

Darin lag ein Vorwurf, aber Luitgard lachte bei den Worten, und er lachte gleichfalls, und sie genossen von der süßen Beerenfülle weiter, sprachen dazu, wie schon gar oftmals, von dem Herzog Ferdinand und der, die sich auf dem Blatt im Buche Philippine Welser benannt hatte, wo sie jetzt wohl seien und was sie grad' in diesem Augenblick wohl täten. Dann sagte er einmal: »Vielleicht weiß es der Walter und kann's uns kundtun«, und seine Hand griff nach den Gedichten Walters von der Vogelweide, die sie während der letzten Monate immer statt derer von Oswald von Wolkenstein mit sich in ihr grünes Waldgemach genommen, und drin blätternd, wies er hin: »Da ist's, ›Unter der Linden an der Heide‹, und drin steht's, was er damals hier gesprochen: Vor dem Wald mit süßem Schall – tandaradei – lieblich sang die Nachtigall. Die Blaumerle tut's nimmer, denn es ist kein Frühling und Sommer mehr, – laß uns miteinander lesen, was die Nachtigall gesungen hat, die sagt's uns wohl, was die beiden jetzt tun.«

Sie bückten ihre Köpfe zusammen über das Blatt, so dicht nebeneinander, daß ihre Schläfen sich fast berührten, und lasen, auch wie schon oftmals, das Gedicht, verstanden dies jetzt und verstanden's doch auch nicht, wie einst die Mutter Luitgards nicht begriffen, weshalb ihre Schwester die Zugbrücke niedergelassen habe, damit der unheimliche nächtliche Besucher zu ihr in die Bergfriedkammer gelangen könne. Als die beiden aber sich zum Rückweg aufmachten, hielten sie heut an der Stelle kurz an, wo sie damals den jungen Herzog und seine Begleiterin zuletzt noch durch den Blätterschleier halb wahrgenommen hatten, und Willanders legte seinen Arm plötzlich um Luitgards Nacken. Sie fragte mit einem leiszitternden Ton: »Was willst du?« und er antwortete: »Ich möchte wissen, ob deine Lippen von den schwarzen Kirschen auch so süß geworden sind, wie die Nachtigall singt.« Dazu bog er rasch sein Gesicht vor und küßte sie auf den roten Mund, von dem auch das Gedicht Walters von der Vogelweide sprach, doch mit so flüchtiger Scheu, daß seine Lippen nur eben die ihrigen streiften. Dann setzten sie schweigend ihren Weg fort; ungefähr mochten sie jetzt das gleiche Alter erreicht haben, in dem an jenem Maitag der Herzog Ferdinand und Philippine Welser gestanden.

Die Fruchtreife des Zürgelbaumes hatte das Nahen des Herbstes angekündigt, der in diesem Jahre früh mit stürmischen Unwettern und finsteren Nächten hereinbrach. Die brachten mit sich, daß in der hochgeschwollenen, vielfach weit über ihre Ufer tretenden Etsch noch öfter als sonst reisende Kaufleute verunglückten, im Dunkel wegab in die tiefüberschwemmten Niederungen gerieten und so ihr Ziel nicht erreichten. Doch war nicht recht erklärbar, daß auch beim Ablauf des Wassers von keinem dieser Verschwundenen je sich eine Spur entdecken ließ, und die zunehmende Häufigkeit solcher Fälle gab in Bozen Anlaß zum Entstehen eines Geredes, es müsse damit eine andere, absondere Bewandtnis haben, da es an die Unsicherheit der Straßen nach Lana und Meran zu Vorväterzeiten erinnere, in denen nächtliche Überfälle auf Reisende von Raubburgen herunter verübt worden. Man wollte gegen niemand geradezu Verdacht offenbaren, aber allmählich verdichtete dieser sich doch nach einer bestimmten Richtung, ward durch mancherlei Aussagen mehr und mehr bestärkt. Dem Waffenschmied Berlt Warnkönig waren schon seit einer Reihe von Jahren die vielfachen Bestellungen von eisernen Rüstungsteilen bei ihm durch die Besitzerin des Vestensteins aufgefallen; er entsann sich auch noch, daß sie in seiner Werkstatt zurzeit vor dem Ausbruch des Bauernkrieges Auftrag zur Anfertigung eines besonderen, mit Silberbändern am Kreuzgriff ausgelegten Schwertes gegeben habe. Seinen Äußerungen gesellte sich eine sonderbare Beobachtung hinzu, die manche schon seit Jahren gemacht zu haben glaubten, daß zumeist das spurlose Verschwinden reisender Kaufleute um einen oder zwei Tage später stattgefunden, nach dem die »Übelhörin«, die jeder sogleich auf der Straße an ihrer »Maultasche« erkannte, von dem einäugigen Waffenknecht Wetzel begleitet, in der Stadt gewesen sei; es hatte den Eindruck erregt, als ob jemand die Absicht von Leuten ausgekundet habe, sich in nächster Zeit mit gefüllter Geldkatze zu Einkäufen auf dem Weg nach Meran oder Lana zu begeben. Und ein wunderliches Gerücht, von dem niemand wußte, wer es aufgebracht, lief obendrein neuerdings um: der Teitenhofener, den die Katharina geheiratet und den keiner je zu Gesicht bekam, habe als einer der Bauernanführer mit vermummenden Visiergattern während des von Jakob Geißmayer geschürten Aufstandes an diesem teilgenommen; er solle bei nächtlicher Weile auf den Vestenstein gekommen sein, um sich als Liebhaber der Übelhörin bei ihr satt zu essen und von ihr zu seinem Vorhaben mit Geld ausrüsten zu lassen. Irgendwo sei er bei einem der Kämpfe schwer verwundet und, um ihn vor Entdeckung zu sichern, heimlich dorthin geschafft worden, wo er seitdem mit seiner Frau und den Knechten das einträgliche Gewerbe der ehemaligen Inhaber des Raubnestes wieder aufgenommen und fortgesetzt habe.

Es dauerte eine Zeitlang, ehe dies umschwirrende Gerede sich zu einem Argwohn zusammenspann, da aber während des Winters die unaufgeklärten Unglücksfälle auf den Etschtalstraßen sich nicht verminderten, sondern noch zunahmen, sah die Bozener Behörde sich zuletzt doch veranlaßt, Mitteilung davon und von der aufgewachten Mutmaßung nach Innsbruck zu machen. Und infolgedessen geschah Außergewöhnliches; die Statthalterei legte den Bericht nicht in herkömmlicher Weise für eine Reihe von Jahren zu den Akten, sondern erließ schon nach Ablauf einiger Wochen einen Befehl zurück, Nachforschung und genaue Untersuchung auf dem Vestenstein anzustellen, ob sich dort Anzeichen zur Begründung des gehegten Verdachtes ergäben. Wahrscheinlich hatte die Sache der landesherrlichen Kasse Besorgnis eingeflößt, es könne ihr durch etwaige Beraubung wohlbemittelter Steuerzahler eine Einbuße zugefügt werden.

So brach an einem Märzmorgen ein Bevollmächtigter mit zwei Dutzend Bewaffneten von Bozen auf, um sich nach der verdächtigten kleinen Burg zu begeben. Des näheren Gebirgsweges unterm Buchberge hin unkundig, schlugen sie die Straße über Andrian ein, kamen dadurch unweit am Wolfsturm entlang und kehrten in diesem vor, sich über die nächste Möglichkeit zur Erreichung ihres Zieles zu vergewissern. Dabei befragte der Anführer des Trupps Ulbert Siekmoser, was er von dem entstandenen Argwohn halte, doch erwiderte der mit einem Achselzucken nichts weiter, als daß er niemals etwas von denen droben zu Gesicht bekomme, sich nicht um sie bekümmere und keinerlei Wissen und Meinung von ihrem Tun und Treiben habe. Nur Menz Romwald setzte hinzu: »Wenn's Euch geheißen ist, suchet, ob Ihr etwas findet. Aber ausspüren, glaube ich, werdet Ihr nichts; der Aufstieg wird Euch zeigen, daß es schwer fällt, Leute wider ihren Willen hinaufzuschaffen, geschweige zu tragen, und für Geldmünzen gibt's im Felsen genug Verstecklöcher, dran sich auch Eulenaugen umsonst abmühen würden. Was es zu wissen geben kann, denk' ich, weiß die Etsch besser als das Mauerwerk da oben.«

Die Abgesandten schlugen auf der langen Schlinge fast bis Nals hin den ihnen beschriebenen Weg ein, und die Mittagstunde kam heran, ehe sie von Gaid aus an den Vestenstein gelangten. Auf ihren Anruf über die Schluchtschründe ward sogleich die Fallblücke von der Winde niedergelassen, und mit verwunderten Gesichtern wurden die zahlreichen Ankömmlinge von den beim Mittagessen versammelten Burginsassen empfangen. Die Zahl der letzteren hatte sich in gewisser Weise um einen Kopf vermehrt, denn auch der älteste Haussohn Konrad mußte jetzt zu den Erwachsenen gerechnet werden; er war ein stämmiger Bursche geworden, der seine Abkunft durch augenfällige Ähnlichkeit mit dem Vater, doch ingleichen mit seiner Mutter bezeugte, deren langher vererbter breitwulstiger Hängemund sich bei ihm in gleichem Maße ausgebildet zeigte. Der Bevollmächtigte fiel nicht mit der Tür ins Haus, sondern gab vor, er habe von der Regierung in Innsbruck Auftrag zu genauer Besichtigung der Burg erhalten, da sie bei ihrer besonderen Lage auf dem Felspfeiler Befürchtung einflöße, es könnten Teile der Jahrhunderte alten Mauern ihren sicheren Halt verloren haben und mit Absturz in die Tiefe drohen. Diese Bezeugung achtsamer Fürsorglichkeit der hohen Statthalterei nahmen Christoph und Katharina von Teitenhofen dankbar entgegen und beflissen sich eifrig, den Beauftragten instand zu setzen, daß er sich durch Augenschein aufs gründlichste über die bauliche Beschaffenheit und ihren Zustand vergewissern könne. Kaum eine Fußbreite und kein Winkel blieb ununtersucht, in jede der mannigfachen, zu wirtschaftlichen Zwecken verwendeten Kellerhöhlungen des Gesteingrundes ward mit Fackeln hineingeleuchtet, doch nirgendwo trat etwas Besorgniserweckendes zutage; die Erbauer der Burg hatten ihr Mauerwerk aufs vortrefflichste den natürlichen Bedingungen der Felsnadel angepaßt und es ersichtlich so hergestellt, daß ihr voll ausreichende Widerstandskraft für noch weitere Jahrhunderte innewohnte. Nirgendwo aber ergab sich auch sonst etwas im leisesten Verdächtiges, als daß in einem Raum die Weinfässer auf fleißige Benutzung hinwiesen. Um nicht vor der Wiedererreichung des Etschtales ins noch frühzeitig einfallende Nachtdunkel zu geraten, mußte der Beamte nach einigen Stunden mit seinen Begleitern den Rückweg antreten. Der Burgherr und die Burgfrau geleiteten ihn unter nochmaliger Danksagung für seine Bemühung ans Tor, durch das die Fortwandernden mit befriedigten, wenn auch vielleicht innerlich etwas langen Gesichtern davonzogen, und hinter ihnen hob sich die Zugbrücke des Vestensteins wieder auf. Die Meldung von dem Ergebnis oder vielmehr der Ergebnislosigkeit dieser Nachspürung diente in Innsbruck zu starker Dämpfung des ungewöhnlich entwickelten Eifers, man verbat sich von dort ernstlich weitere ungebührliche Belästigungen mit belanglosen Etschtalvorkommnissen. Nur die Bozener Kaufherren gaben sich mit diesem Bescheide nicht recht zufrieden, erhoben gegen ihn zwar keinen öffentlichen Widerspruch, doch berieten im stillen darüber, was am besten zu tun sei, um eine Sicherung auf der für sie äußerst wichtigen Landstraße nach Lana-Meran zu bewerkstelligen. Sie setzten sich zu dem Zweck in Verband mit den Herren von Hocheppan, Boymont und Payrsberg, daß von diesen Burgen aus in besonders unwirtlichen Nächten ein achtsames Ohr und Auge auf die an ihnen vorbeiführenden Gebirgswege gehalten werde, und auch im Wolfsturm sprach ab und zu ein Sendbote aus der Stadt her zu, wie ingleichen Menz Romwald sich öfter als zuvor nach ihr hinüber begab. Über diese kleine örtliche Angelegenheit brach aber jählings mit ungeheurer Wucht ein großer Sturm herein, der aus allen Köpfen jeden anderen Gedanken wie wirbelnde Spreu verjagte. Drüben im Norden des Reichs hatte sich plötzlich der Kurfürst Moritz von Sachsen von der Belagerung Magdeburgs, die ihm Kaiser Karl V. übertragen, nach Süden zu gewandt und rückte mit seinem starken Heere gegen Innsbruck, dem gegenwärtigen Aufenthaltsort des Kaisers, heran, um diesen in seine Gefangenschaft zu bringen und ihn zur bedingungslosen Anerkennung einer Gleichberechtigung der protestantischen Konfession im Reich zu zwingen. So blitzartig schnell geschah's, daß die Botschaft seines Herannahens seinem Eintreffen in Innsbruck kaum um einen Tag vorauflief, in der Stadt namenlose Bestürzung und Verwirrung hervorrufend. Kaiser Karl, von einem heftigen Gichtanfall unfähig gemacht, zu Pferde zu steigen, fand nur eben noch Zeit, sich in einer Sänfte zum Brennerpaß hinauftragen zu lassen, und in kopflos drängender Flucht wälzte sich sein Gefolge mit ihm durchs Eisacktal gegen Bozen nieder, um durch das Pustertal weiter ins Kärntner Land zu gelangen und dort Sicherheit hinter den Mauern der festen Stadt Villach zu suchen.


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