Wilhelm Jensen
Auf dem Vestenstein
Wilhelm Jensen

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Zehntes Kapitel

Eigentümlich war's, daß von jenem rohen Überfall des Mädchens durch den Sohn des Teitenhofeners niemals im Wolfsturm geredet ward, es erregte den Eindruck, als habe man in diesem dem Vorgang keine weitere Bedeutung beigemessen, als Fürsorge zu treffen, daß Luitgard vor einer Wiederholung gesichert werde. Erst jetzt erfuhr Willanders zu seiner Überraschung einmal zufällig aus einer Äußerung Menz Romwalds von der nahen Verwandtschaft und, trotz dieser, innerlichen Verfeindung zwischen den Bewohnern des Vestensteins und des Wolfsturms; von beidem hatte ihn keine Ahnung angerührt und er war hier unten nie über etwas, das ihm droben zu Gesicht und Gehör gekommen, befragt worden. So vernahm er mit Staunen davon und aus dem gelegentlich gern ein wenig beredsamen Munde des Menz noch als weiteres, auf dem Herrn von Teitenhofen hafte ein Verdacht, daß er ehmals bei dem wüsten Aufstande der Bauern einer ihrer verkappten Anführer gewesen sei, aber Beweismittel habe es dafür nicht gegeben; man könne ihm überhaupt nichts beweisen, denn er wäre wie ein Fuchs, der die Fußspuren, die nach seinem Bau führten, wegscharre, und wohl mehr noch seine Frau die Füchsin, die ihn in allen Schlichen belehre. Das stimmte allerdings mit einem dunkelsonderbaren Gefühl überein, von dem der junge Zugehörige des Vestensteins bisweilen angewandelt worden, und er fand drin auch eine Erklärung, aus welchem Grunde Konrad Teitenhofer vermutlich schon längere Zeit darauf gelauert habe, seiner Base ein Leid anzutun; im Gedächtnis wachte ihm auf, daß er die Mutter desselben einmal hämisch sagen gehört: »Tu's dem Balg, du bist alt und stark genug dazu!« Offenbar hatte das in der Tat Luitgard Siekmoser wegen der Feindschaft, in der die Eltern zueinander standen, gegolten. Der Widerwille des Jünglings gegen die Burginsassen droben wurde durch seine neue Wissensbereicherung noch stärker vermehrt, doch nahm seine Gedanken immerwährend etwas anderes so in Anspruch, daß sie nicht lange bei den Mitteilungen Menz Romwalds verweilen konnten. Ein Glaube hatte sich in ihm festgesetzt, der Ring, den er vom Waffenschmied bekommen, sei wirklich ein Amulett und enthalte eine geheime Kraft in sich, die Einfluß auf seine Trägerin ausüben müsse, von deren Finger er nicht fortgewollt habe. Vielleicht, daß er sie wieder so zurückverwandle, wie sie früher gewesen; darauf harrte Willandeis mit verhohlener Achtsamkeit von Tag zu Tag. Aber Luitgard gab kein Anzeichen einer solchen Wirkung kund, erschien im Gegenteil eher noch mehr beflissen, sich dem häuslichen Zusammenkommen mit ihm zu entziehen. Sie saß viel im obersten Turmgemach mit der alten Italienerin, für die sie eine große Zuneigung gefaßt hatte und sich bei ihr fast lieber aufzuhalten schien, als bei ihren Eltern. Das mochte wechselseitig sein, denn die Alte kam zumeist, wenn sie das Mädchen oben wußte, hinauf, und beide redeten sachtstimmig miteinander oder saßen auch eine Zeitlang schweigsam Hand in Hand und ließen stumm die alten und jungen Augen über das weite Etschtal drunten hinausgehen. Das legte seinen Sommerschmuck jetzt rasch und rascher ab, der Wind trieb gelbfallende Blätter durch die Luft umher, Wolken drängten sich über den Gantkofel herüber, und das Nachtdunkel begann schon früh einzufallen.

Mit diesem Herbsteintritt aber nahm Ulbert Siekmoser neuerdings eine Gewöhnung an, die ihm früher nie in den Sinn geraten. Der jährige Weinmost war zu besonders schmackhafter Güte gediehen, und er brach öfter einmal noch am späteren Abend auf, um von Menz begleitet nach Terlan hinüberzugehen und sich in einer dortigen Schenke an dem guten Trunk zu erfreuen. Den vergönnte seine Frau ihm zwar gerne, doch suchte sie trotzdem merkbar ihn von diesem nächtlichen Fortgang zurückzuhalten, begab sich nicht zu Bett, ehe er wiedergekommen, sondern wartete stets in einer Unruhe seine Heimkehr ab. Darüber kam ihm zuweilen ein leichtes Lachen vom Mund, und er fragte: »Glaubst du, ich könnte in die Etsch fallen, oder daß ein Bär mich anpackte? Dafür wäre Menz bei mir und hätt' ich selbst auch gute Wehr am Gurt.« Das gab wohl eine Antwort drauf, sie verhehle eine Furcht, er könne dem Wein übermäßig zusprechen und dadurch in eine Gefahr geraten, und diese Besorgnis fiel in der Tat durchaus unnötig, denn er kehrte allemal in völlig nüchternem Zustande zurück, meistens sogar durstig, daß er zu Hause noch Verlangen nach einem Becher kundtat. So mußte Helena sich in diese Veränderung seiner bisherigen Lebensweise finden, die allerdings durch den gleichmäßigen Tagesverlauf im Wolfsturm erklärlich ward und dem abendlichen Betreiben anderer Burginsassen entsprach. Seine Herzenszuneigung zu ihr hatte sich während der langen Jahre immer gleich forterhalten, aber sie wußte von der Zeit ihres Zufluchtaufenthaltes auf Payrsberg her, in dem, was er sich vorgesetzt, lasse er sich dadurch nicht beirren, und erfolglos sei es, ihn davon abbringen zu wollen. Auch Willanders wunderte sich über die neue Angewöhnung Siekmosers, zumal da er hin und wieder, aus dem Schlaf aufwachend, an einem Geräusch vernahm, daß die Heimgekommenen erst in später Nacht ihre eisernen Arm- und Brustschutzplatten ablegten. Das erinnerte ihn daran, auf dem Vestenstein auch manchmal erst gegen Morgen den gleichen Ton gehört oder zu hören geträumt zu haben; hier unten indes war's keine Traumtäuschung, er schlief nicht mehr so fest wie droben, denn ihn befiel zuweilen plötzlich ein Herzklopfen, so daß er davon aufschrak und mit völlig wachen Sinnen dalag. Auch am Tage war sein Herzschlag nicht so wie früher, ging dann nur im Gegenteil langsam-schwerfällig, mitunter wie im Begriff, zu stocken; das mußte ihm im Gesicht anzusehen sein, denn Frau Helena fragte ihn einmal, ob er sich unwohl befinde. Darauf antwortete er stotternd, ihm komme vor, als atme seine Brust hier unten schwerer, als oben auf dem Vestenstein, und es sei wohl besser, wenn er wieder irgendwo auf einer Berghöhe nach einer Unterkunft für sich suche. An einem Abend war's, und Luitgard, die mit am Tisch saß, äußerte danach: »Ich glaube auch, das wäre besser für dich.« Seit Tagen geschah's wohl zum erstenmal, daß sie ein Wort an ihn richtete, doch sie sprach ihn nicht so an, wie er es bei ihr begonnen hatte, nicht mit »Ihr«, sondern wie sie's immer getan; das brachte seine Stellung mit sich. Dienende Leute nannte man »du«. Die Alte, die von dem Mädchen ebenso wie von der Burgfrau auch mit »Mutter« angeredet ward, schien ihn gleichfalls als nicht bei rechter Gesundheit anzusehen und Mitleid mit ihm zu fühlen, denn sie tat heute Sonderbares; ihre Hand streichelte ihm beim Gutnachtwunsch einmal leise über sein Haar. So sah er, immer trübsinniger bedrückt, nach der Botschaft des Waffenschmiedes aus, die ihn instand setze, das auszuführen, was nicht nur ihn selbst, sondern auch den anderen als das Beste und Notwendige erschien, daß er den Wolfsturm verlasse. Doch blieb seine Erwartung vergebens, erfüllte sich nicht nur nicht, vielmehr traf ihn sogar eine harte, völlig unbegreifbare Enttäuschung. Als der November bis zur Mitte vorgeschritten, nahm er eines Vormittags gewahr, daß Berlt Warnkönig aus dem Tal herangelitten kam und sein Pferd auf das Tor zu hielt. Der Anblick ließ ihm das Herz hastig aufklopfen, er wußte sich nicht zu sagen, ob von einer freudigen oder schreckhaften Überraschung, die ihn eilig in seine Kammer, wie in ein sicherndes Versteck hineinzulaufen trieb. Dort saß er, auf die Nachricht, die der Platner ihm bringe, harrend, aber mehrere Stunden vergingen, ohne daß jemand ihn suchte und herbeirief, dann klang ihm plötzlich einmal Hufschlag ans Ohr, und er sah Warnkönig wieder davonreiten. Der war nicht seinetwillen gekommen, die ersehnte Botschaft selbst zu bringen, sondern offenbar wegen irgendeiner Angelegenheit mit dem Burgherrn und hatte gar nicht an ihn gedacht. Erklären konnte er sich diese Vergeßlichkeit nicht, und als er mit dem letzteren zusammentraf, geriet ihm gegen seinen Willen über die Lippen, ob der Waffenschmied nichts für ihn hinterlassen habe. Der Befragte machte dazu ein leichtstutzendcs Gesicht, und ihm entflog als Antwort: »Woher weißt du's? Hast du gehört, daß er hier war? Ja – er hat gesagt, du solltest das Schwert, daß du von ihm bekommen, gut benutzen.« Dabei betrachtete Ulbert Siekmoser den vor ihm Stehenden mit einem eigentümlichen, wie prüfenden Blick, gewissermaßen als ob seine Augen ihn zum erstenmal deutlich vor sich sähen, und fügte hinterdrein: »Vielleicht kannst du's bald und mit auf einen Bären Jagd machen, der hier herum sein soll und Schafe rauben. Dabei kann einer selbst zeigen, was in ihm steckt, besser als tät's eine Urkunde mit Schrift und Siegel. Der Platner hat gesagt, du willst von uns weg – warte noch so lang; eine Bärenkralle als Behang vor der Brust steht einem jungen Mann gut zu Gesicht.« Menz Romwald stand mit auf dem Hofraum, hatte den Worten zugehört und sprach herantretend: »Mir will's nicht recht eingehen, Herr; der Bär ist auf der Hut, ihm sieht's nicht gleich, so von seiner Vorsicht gelassen zu haben.« Doch der Angesprochene versetzte: »Er wittert's, morgen gibt's Sturm und trotz dem Mond schwarze Nacht, da hält er sich sicher. Bedenk's also noch, Willanders!« Nicht anzugeben war's, worin es lag, aber das letzte Wort kam ihm mit einem etwas anderen Klange vom Mund als sonst; er hatte Menz am Arm gefaßt und ging, gedämpft zu ihm redend, davon. Der Jüngling stand, allein gelassen, verworrenen Sinnes; Warnkönig mußte im Gespräch herausgeraten sein, daß er sich über ihn belustigt habe, er solle einen Bären erlegen, und Siekmoser hatte das spöttische Gerede fortgesetzt. Alle im Wolfsturm spotteten offen oder verhohlen über ihn und der Waffenschmied ebenso; er besaß niemand auf der Welt, der seiner hilflosen, nicht aussprechbaren Not beistand.

Der nächste Morgen zeigte an, daß der Tag die Wettervorhersage Siekmosers bewähren wolle, ein kalter Wind fuhr, dichte Wolkenmassen auftreibend, aus der Richtung von Meran herüber, verkündigte ein schwerwuchtiges Einsetzen des Herbstes. Nicht hell ward's, schon um Mittag glich das Licht einer grauen Dämmerung; ringsum lag alles, als ob das sonnige Südtirol weit über die Berge in die Nebelwelt des deutschen Nordens hinaufversetzt worden sei, und merkbar nahmen der Wind und die fliegenden Wolkengetriebe mit jeder Stunde noch mehr zu. Trotzdem legten nach der Abendkost Ulbert Siekmoser und Menz Romwald ihre mit Eisenblech gewappneten Wämser an, noch zum Einnehmen eines Weintrunkes fortzugehen, obwohl Frau Helena heute ihren Mann geradezu bat, davon abzulassen: »Die Nacht ist so schwarz, ihr könntet die Brücke fehlen und in die Etsch geraten.« Doch er antwortete: »Der Mond kommt bald, da sieht man gut die Hand vor Augen, und du weißt, ich hab's zugesagt.« Das ließ sie verstummen; er wandte sich nach Willanders um und fragte: »Willst du mit uns? So tu' auch dein Schwert um; wozu hast du's sonst.« Der Angesprochene, zum erstenmal aufgefordert, an dem Abendausgang teilzunehmen, eilte, von einem freudigen Gefühl durchlaufen, in seine Kammer und umgürtete sich rasch mit der Waffe; in einer unklaren Vorstellung kam's ihm, er zeige dadurch, daß er ein Mann sei, der sich von der Befürchtung Frau Helenas nicht schrecken lasse. Aber während seiner kurzen Abwesenheit hatte Siekmoser sich anders bedacht, empfing ihn bei der Wiederkehr mit den Worten: »Es ist doch besser, daß du hierbleibst, der Wein könnte noch zu stark für dich sein, dazu darf ich dich nicht verleiten. Gib aufs Tor acht und öffne uns, wenn wir pochen. Mit dem da kannst du dich so lange wachhalten, der Waffenschmied hat's nämlich in der Stadt vergessen, dir zu geben, und brachte es gestern für dich mit. Deine Mutter hätt's mit dem Ring zusammen hinterlassen. Zunutz kann's dir nicht kommen, was eine Feder auf ein Papierblatt geschrieben hat. Aber Schaden tut's dir auch nicht an, und ich glaub' wohl, es ist so, wie's da steht, Die drei Bergzacken und Wolken auf dem Reif sagen's und dein Gesicht redet's auch. Es geht so zu in der Welt, bei uns im Land mag's noch öfter geschehen sein, als sonstwo; der Stein fällt hoch herunter vom Wolkenfels, und wer ihn unten liegen sieht, denkt nicht, von wo er gekommen ist. Wenn du uns das Tor aufmachst, wollen wir drüber sprechen, Wilhelm Andreas, vielleicht verhilft's dir doch dazu, von uns wegzukönnen. – Ich freue mich auf den Gang in frischer Luft, man hockt zuviel im Haus und wird träg' davon. Halt' uns noch einen Trunk bei der Rückkunft bereit, liebe Frau, der Terlaner Wein macht durstig.«

Er hatte Willanders ein sorglich in weicher Lederumhüllung verwahrtes Stückchen Pergamentpapier hingereicht, das der Empfänger, von der unerwarteten Zurückweisung enttäuscht, verständnislos genommen, und die beiden zum Weggang Gerüsteten schritten hinaus. Frau Helena begleitete sie, hinter ihnen das Tor wieder zu verriegeln; an diesem griff ihre Hand nach der ihres Mannes, als mache sie noch einen Versuch, ihn festzuhalten, und sie sagte ängstlichen Tones dazu: »Denke dran, daß ich auf dich warte.« Er bückte sich, sie auf die Stirn zu küssen und versetzte: »Du tust, als wollten die Bauern wieder an Payrsberg aufstürmen. Klopft dir das Herz noch ebenso um mich, wie damals? Mehr kann ein Mann nach siebzehn Jahren nicht verlangen. Jetzt ist Luit grad so alt, und ich glaube, ihr Herz klopft auch; absonders ist's, wie alles wiederkommt. Ich war älter als er und doch, wenn ich vor dir stand, auch noch wie ein Knabe, der den Mund nicht auftun konnte. Gib dem Knaben heut' abend gut zu trinken, er mag's nötig haben. Ja, alles wiederholt sich, wenn die gleiche Art wieder da ist, und wenn ich wiederkomme, wollen wir ratschlagen. Nun wird's Zeit, daß wir ausgreifen.«

Was er gesprochen, hätte ein anderer sich in manchem nicht deuten können, doch die Hörerin mußte fähig gewesen sein, alles zu verstehen, und der Ton, mit dem er's gesagt, übte merklich eine beruhigende Wirkung auf sie aus; sie erwiderte nichts mehr, schob die schweren Querbalken des Tores vor und begab sich ins Haus zurück. Die beiden Davonschreitenden schlugen scheinbar die Richtung auf Terlan zu ein, bogen indes auffälligerweise ziemlich bald von ihr linkshin zur Straße ab, die von Bozen nach Nals führte; der Sturm fauchte ihnen entgegen, und die Nacht war in der Tat fast lichtlos, aber sie kannten Schritt und Tritt des Weges genau, brauchten vor einer Abirrung von ihm nicht besorgt zu sein. Nur sagte Menz Romwald einmal: »Was ich glaube, Herr, ist, es wird heut' nicht anders gehen, als bisher, der Einaug hat den Platner genasführt, wozu weiß ich nicht. Aber bei solcher Nacht macht sich keiner nach Lana auf den Weg, und der Spürfuchs hätt's mehr hehlings angelegt, auszukunden, ob eine schwere Katze den Fang lohnt. So lauern sie droben nicht auf Mäuse, wenigstens nicht hier, wo sie uns denken können, sondern ganz anderswo. Denn Witterung von unserm Weindurst, wenn's finster geworden, steckt ihnen in den Schnauzen; vor Augen und Ohren wissen sie sich zu hüten, aber ich hab' schon mehr als einmal einen Ruch davon gehabt, sie waren nicht weit von uns weg. Wie ich's meine, Herr, so wär's klüger, wir ließen die Nacht den Eulen; Eure Frau würd's auch froh machen, Euch früher als sonst heimkommen zu hören.«

Merkbar mochte Ulbert Siekmoser selbst sich schon Ähnliches gesagt haben, denn er gab drauf Antwort: »Mich nahm's auch wunder, daß der Einäugige so gradaus zu Werk gegangen war, aber in Bozen waren sie diesmal des Vorhabens gewiß, zumal ihnen noch ein Schriftzettel in die Hände geraten, und ich hab's dem Waffenschmied zugesagt, wir gäben heut acht, ob sie mit Fug bessere Nachschau droben wiederholen können. Den Verspruch muß ich halten, bis vor Nals hin; dann haben wir getan, wozu sie mich in Pflicht genommen, und können zurück. Hörst du, was ich sage? Deins hab' ich nur halb verstanden; der Wind reißt's vorm Mund weg, wie Blätter vom Baum. Hier zweigt's ab und haben wir's bald schon halb. Ja, meine Frau wird's freuen. Du warst auch dabei, wie sie auf Payrsberg in Angst dastand, nicht für sich selbst. In der Nacht sah ich's, auf dich wäre sicherer Verlaß.«

Der Weg gabelte sich, bog mit dem einen Arm gegen die tiefschwarze Bergwand hin, unter der die Landstraße nach Nals hart entlang lief und jetzt bald von ihnen erreicht wurde. Die im Wolfsturm Zurückgebliebenen saßen beim Licht der Kienspäne, deren Flammen der hereinstoßende Wind hin und her flackern ließ, am Tisch; Willanders hielt das Stück Pergamentpapier, das er von Siekmoser erhalten, in der Hand, eine Schrift drauf mit großaufgeweiteten Augen anstarrend. Er hatte sie schon zweimal überlesen, doch ohne ihren Inhalt begreifen zu können; die Buchstaben flimmerten ihm ungewiß vor dem Blick, und in seinem Kopf ging's wirr auf und nieder. Frau Helenas Gesicht war ihm mit einem teilnahmsvollen Ausdruck zugewandt, und ihr kam jetzt vom Mund: »Mein Mann hat mir davon gesagt, gib's mir und laß mich's auch sehen.« Sie nahm das Blatt und las.

»Ich habe meinen Buben Wilhelm Andreas taufen lassen, damit ich ihn so heißen kann, wie's ihm zukommen sollte. Denn mir gehört der Name Villanders und müßt's ihm auch. Aber er hat keinen, ich hab' die Schuld dran und der Erzherzog Sigismund, sein Altervater, der zu viel Söhne hatte. Von denen hat's einer gemacht, daß ich Obst auf der Straße feilhalten muß. Zur Gräfin von Tirol wollt' er mich machen, versprach er's, und ich glaubt's ihm. Vielleicht hätt' er's auch getan, er war tapfer und schön; bei Pavia, sagen sie, ist er tot auf dem Feld geblieben. Ich habe keinen Zorn auf ihn gehabt und auch auf mich selber nicht. Aber die von Wolkenstein wollten nichts mehr von mir wissen, ich durft' mich nicht länger Villanders heißen, mußte den Ring mit den Bergspitzen vom Finger wegtun. Wär' nicht der Platner Warnkönig gewesen, hätten ich und der Bub verhungern müssen. Er hat's nicht zugelassen, ich weiß warum, und weiß ihm Dank dafür. Mehr könnt' er nicht tun und ich hätt's auch nicht gekonnt. Wenn's mein letztes ist, so helf' er dem Buben noch weiter auf und geb' ihm dies mit dem Ring, wenn er großgewachsen ist, von seiner Mutter Sabine Willanders von Wolkenstein.«

Deutlich lesbar stand's auf dem Blatt, doch gegen den Schluß hin mehr und mehr mit unsicherer Schrift, an der sich erkennen ließ, es müsse von einer Kranken, wahrscheinlich kurz vor ihrem Ableben geschrieben sein; nur zu allerletzt hatte sie sich noch einmal stark zusammengenommen und die Namensunterschrift groß, mit fester Kräftigkeit druntergesetzt. Frau Helena hob den Blick davon auf, sie wußte nichts zu sagen, ihr geriet nur über die Lippen: »Es ist zu dunkel, man sieht nicht, was da –«

Halb nach Nals hinüber klangen zur gleichen Zeit ihrem Mann die nämlichen Worte vom Mund: »Es ist zu dunkel, man sieht nicht, was da –« doch sprach er zu Ende: »vor uns liegt,« während sie wohl »geschrieben steht« ungesagt gelassen hatte. Er fügte indes alsbald für seinen Begleiter nach: »Jetzt spür' ich's, ein Baum ist's, den der Sturm über den Weg geschlagen hat.« Die beiden waren bis dorthin gekommen, wo die Straße hart unter dem bewaldeten Steilhang der Bergwand weiterlief, und mehr nur vom Gefühl als vom Gesicht unterscheidbar, hob sich, den Durchlaß sperrend, ein Gewirr von Ästen und Zweigen vor ihnen auf. Menz Romwald antwortete: »Ja, ein Baum, sonderbar, man sollt' denken, der Wind müßt' ihn anders herum hingeworfen haben. Wir kommen nicht drüber weg, Herr, kehren besser hier um.« Doch Ulbert Siekmoser rief: »Hier ist der Stamm, es muß gehn,« und seinen Fuß auf den hebend, suchte er sich Bahn durch das Geflecht zu brechen. Im selben Augenblick aber sauste von der Finsternis der Bergwand her ein Schwertstreich auf ihn herunter, daß er bewußtlos vom Stamm in die knatternde Zweigmasse niederschlug, und hinterdrein scholl ein schnaubend hämischer Ruf: »Im Fangeisen! Den Hieb war ich dir zweimal schuldig geblieben!« Packt ihn!« Geklirr und Astgekrach umtoste plötzlich den umgestürzten Baum, es war, als sei der düstere Felshang wie durch einen Zauberschlag lebendig geworden und lasse unheimliches Nachtgetier aus sich herausbrechen.

Drüben im Wolfsturm hatte Frau Helena sich besonnen und sagte nun zu Willanders hingewendet mit herzlichem Ton: »Das geht dich nicht an. vergiß, was auf dem Papier steht! Der Waffenschmied sollte sich besser bedacht haben, es zu verbrennen und nicht für dich zu bewahren. Hätt' ich's so von meinem Mann gehört, da hätt' ich ihn gebeten, dir's nicht zu geben. Die, von der es herrührt, hat todkrank gelegen und nicht mehr gewußt, was sie schrieb, sich im Fieber eingebildet, es wäre so gewesen. Komm, trink' den Becher Wein leer, du siehst blaßfarbig aus. Aber gib ihm den Ring wieder, Luit, der ist kein Fieberwahn, seine Mutter hat ihn an der Hand getragen. Ich habe auch eine Mutter, die ich lange für tot gehalten, und hab's erfahren, kein leeres Wort ist's. Es schläft einem im Herzen und wartet, daß es aufgeweckt und wieder lebendig wird. Deine Mutter, du Armer, kann's nicht mehr, aber ich will an ihrer Stelle für dich sein, wenn du jemand das Leid um sie klagen willst, das dir im Gesicht steht.«

Sie hatte nach der Hand der mit am Tisch sitzenden Alten gefaßt, doch nahm jetzt mit herzenswarmer Anteilnahme Willanders Hand in die ihrige. Er kam unwillkürlich der Aufforderung, den Becher auszuleeren, nach, ein Schwindel ging ihm durch den Kopf, drohte, ihn bewußtlos vom Sitz gleiten zu lassen. Seine Farbe war in der Tat beinahe weiß gewesen, nach dem Trunk dagegen drängte sich das Blut ihm hochrot ins Gesicht. Die alte Mutter und das Mädchen wußten nicht, um was die Schrift auf dem Blatt handle, hatten den Sinn der Worte Helenas nicht verstanden und sahen ungewiß drein; Luitgard kam nur mechanisch dem Geheiß ihrer Mutter nach, bemühte sich, den kleinen Goldreif von ihrem Finger abzuziehen, doch vergeblich, er ließ sich auch jetzt nicht herunterbringen, und eine blühende Röte überfloß gleichfalls ihr Gesicht, als ob auch sie einen feurigen Trunk zu sich genommen habe und ihr das Blut hastig vom Herzen zum Kopf hinaufgetrieben werde. Sie saßen alle, wie auf etwas wartend, das geschehen und sich durch Aussprache von einem Mund offenbaren müßte, doch niemand brachte einen Laut über die Lippen. Nur durch das Wandgebälk und Holz der Fensterluken lief ein Knacken und Knattern, zeigte an, daß die Sturmwucht draußen noch höher aufschwelle.


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