Wilhelm Jensen
Auf dem Vestenstein
Wilhelm Jensen

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Viertes Kapitel.

Ungefähr um zwei Wochen danach ward das Etschtal durch ein plötzliches Ereignis zu hochgradiger Erregung aufgeschreckt. Ein starker zusammengerotteter Bauernhaufen, mutmaßlich aus den wilden Bergen von Mölten, Salten und Jenesien herabgekommen, hatte sich bei Nacht der Burg Neuhaus der Ritter von Niedertor durch Überfall zu bemächtigen versucht. Die rohe Masse mußte einen kundig-erfahrenen Anführer besessen haben, auf dessen Weisung sie sich mit den nötigen Erfordernissen zum Gelingen ihrer Absicht versehen, Schießwaffen, Steigleitern und mannigfachen Brennstoffen zum Aufschleudern über die Mauern; doch die Burgmannschaft war noch rechtzeitig wach geworden, ein heimliches Heraufklimmen der Angreifer zu verhüten und den danach erfolgten Ansturm gegen ihre Schutzwehr, die sich zum guten zumeist über Felsschroffen emporhob, mit Aufbietung aller Kraft abzuschlagen. Am schlimmsten hatte sie der qualmende Rauch ringsum in Brand gesetzter dürrer Holzstöße gefährdet, indes gelang ihnen das Auslöschen drohenden Übergreifens des Feuers auf das Gebälk im Innern, und als der Morgen angebrochen, waren die Belagerer spurlos in ihre Hochwildnisse zwischen Wald und Gestein zurückgeschwunden.

Erschreckend aber lief am Morgen die Botschaft von dem nächtlichen Überfall auf allen Burgen und Schlössern zwischen Bozen und Meran um. Was er bedeutete, litt keinen Augenblick Zweifel; der von dem Bauernführer Jakob Geißmayer im nördlichen Tirol angeschürte Bundschuhaufruhr war unversehens jetzt auch über den Brenner herübergekommen, und was Neuhaus betroffen, drohte sämtlichen Adelssitzen in gleicher Weise. Auch hier ward »der Spieß umgekehrt«, nicht die Herren sollten mehr nach ihrem angeborenen Recht das Landvolk ausrauben, sondern dies machte seine Überzahl geltend, an ihnen Gewalt zu üben. Derselbe Tag noch brachte Nachricht vom Herabdringen bewaffneter Bauernrotten durchs Eisacktal auf Bozen zu, dem damit das gleiche Geschick wie Innsbruck drohe, rundum eingeschlossen zu werden. Die Aufständischen mußten insgeheim mit Geldmitteln zur Ausführung ihrer Pläne versehen sein und wurden wahrscheinlich von Leuten, die sich aufs Kriegswerk verstanden, geleitet; man sprach, es befänden sich einzelne in Eisenkleidern bei ihnen, die ihre Gesichter hinter geschlossenen Visiergattern unerkennbar machten. So wurde Hals über Kopf auf allen Burgen gerüstet, der jäh wie ein Wetterstoß hereingebrochenen, unheimlich im Dunkel lauernden Gefahr zu begegnen.

Während jener beiden Wochen vor dem nächtlichen Geschehnis drüben jenseits der Etsch war Helena Übelhör gleichmäßig Tag um Tag im Wolfsturm verblieben; sie wußte nicht, wohin sie sonst könne, stand weitum in keinerlei Beziehung zu irgendwem und hatte nichts an Geld vom Vestenstein mit sich genommen, wäre dazu auch außerstande gewesen, weil sie die ihr zugefallene Hälfte der väterlichen Hinterlassenschaft niemals ausgehändigt bekommen, sondern ihr Erbteil stets von Katharina in der Truhe verschlossen gehalten worden. So nötigte die Hilflosigkeit sie zum Ausharren in dem alten Bau, doch war's noch schöne Sommerzeit, die noch keinen Schutz gegen Kälte verlangen ließ, und außerdem wandelte ihr Aufenthaltsort sich merkwürdigerweise täglich zu einer besser bewohnbaren Unterkunftsstätte um. Der Wolfsturm war im Innern nicht so verfallen, wie er von außen her erschien, hauptsächlich lagen nur die Gemächer drin mit zerbröckelten Wänden, von langer Zeit her unwirtlich verödet, und dem Andrianer Bauern mußte neuerdings in den Sinn geraten sein, seinen wertlosen Besitz wieder in einen vorteilhaften, brauchbaren Zustand zu versetzen. Am Morgen nach der ersten Nacht, die Helena darin zugebracht, begab er sich daran, die zertrümmerten Seitenstücke des Eingangs durch die Ringmauer mit einer Anzahl von Beihelfern eilfertig herzustellen, die Wiederverschließung der Lücke durch ein kräftiges Bohlentor zu ermöglichen; wichtiger indes für die Bedürftigkeit des Mädchens war's, daß vom Dorf her auch ein Tisch und eine Bank, sowie allerhand zum Wasserschöpfen und zur Bereitung von Speisen nötige Geräte herbeigeschafft wurden. Diesen Tätigkeiten gab sich Josefa Siekmoser hin, die am Vormittag von Andrian herüberkam, um auf der alten Herdstelle mit Stahl und Stein Feuer anzuzünden und zu kochen, dann verschwand, doch stets beim Herannahen des Abends zurückkehrte und sich als Nachtgefährtin der Turminsassin auf das Heu hinstreckte. In solcher Art trug jeder Tag dazu bei, für diese das verödete Bauwerk besser bewohnbar zu machen, wenn es zwar auch nicht um ihretwillen geschah, sondern offenbar zu einem Zweck, den der Bauer sich vorgesetzt hatte, dienen sollte. Doch über den dachte sie nicht nach, nahm frohsinnig die ihr daraus zuteil werdende Annehmlichkeit in Empfang; verwöhnt war sie von frühester Kindheit auf nicht gewesen, dagegen hier zum erstenmal ein stetiger beängstigender Druck von ihr abgefallen, so daß ihre sonderbare Behausung sie fröhlicher als jemals zuvor sah. Vom Morgen bis zum Abend kam ihr keine »lange Zeit«; in der Abgeschiedenheit auf dem Vestenstein hatte sie kaum etwas von Märchen gehört, doch im Gefühl erlebte sie hier ein solches, als werde von unsichtbaren freundlichen Elben für das, was ihr not tat, gesorgt. Das Merkwürdigste geschah aber nicht am Tage, sondern in der Nacht, wenn sie, wie immer einmal, auf ihrer Lagerstätte wach wurde. Dann kam ihr der Antrieb, leise aufzustehen und an der Mauerneigung hinauszutreten. Sie wußte genau vorher, was sie draußen beim Mond- oder dann Sternenschein gewahren werde, und jedesmal war's auch so in Wirklichkeit da, eine hochwüchsige dunkle Mannesgestalt, die in einiger Entfernung gleichmäßig vor dem Wolfsturm hin und her schritt, immer, zu welcher Zeit sie auch aufgewacht sein mochte. Dann ging sie zurück, lag abermals auf ihrer härenen Decke neben der schnarchenden Josefa und sagte sich beim Wiedereinschlafen, sie habe nur davon geträumt. Das bestätigte auch der Morgen, denn wenn sein Licht gekommen, war weit und breit von der Gestalt nichts zu sehen; nur die Nacht, die Schöpferin der Traumvorstellungen, brachte sie zurück.

So vergingen die Tage der beiden Wochen, und einzig in der Nacht, darin auf halbstündige Weite grad' gegenüber der Angriff auf die Burg Neuhaus ins Werk gesetzt worden, war Helena nicht aufgewacht, hatte von dem drüben tobenden Gelärm nichts gehört und von dem Brandgeloder nichts gesehen. Doch als das erste Frühdämmern in den Türen einfiel, fuhr sie aus dem Schlaf und gewahrte die nächtliche dunkle Mannesgestalt diesmal unter dem Türbogen stehen, ob in Wirklichkeit oder im Traum, wußte sie sich nicht zu sagen. Jene stand mehrere Augenblicke lang wie ein regungsloser, stummer Schatten und heute doch etwas unheimlich; aber dann ging ihr auf, es könne kein Traum sein, denn von der Gestalt ertönten Worte her und wunderbarerweise mit der Stimme des Ulbert oder Utz Siekmoser gesprochen. Nur klangen sie zuerst beinah zaghaft und halb unsicher gestottert: »Verzeihet mir, Jungfrau – daß ich hierherkomme – und Euch erwecke.« Danach indes fuhr die Stimme, sicherer werdend, fort: »Aber Ihr könnt nicht länger im Wolfsturm bleiben, sondern müßt von hier weg. Es ist in der Nacht Übles drüben bei Neuhaus geschehen und droht, auch über den Fluß zu kommen. Darum muß ich Euch befragen, ob Ihr auf den Vestenstein zurückwollt – oder –«

Er sprach nicht weiter, erst als Helena von ihrer Lagerstätte aufgestanden, fragte, was denn geschehen sei, gab er Antwort darauf, soweit ihm eine Erklärung des Vorganges möglich fiel. Sie hörte stumm zu und versetzte, als er schwieg: »Nein, auf den Vestenstein gewiß nicht – aber wohin, weiß ich nicht. Ihr sagtet – ›oder‹ – wißt Ihr eine Zuflucht für mich?«

Nun erwiderte er: »Wenn Ihr Euch nicht scheuen würdet, zwei Stunden Wegs –«

Die nämlichen Worte waren's, die ihm bei dem ersten Zusammentreffen zwischen ihnen vom Mund geraten, und ebenso brach er danach, wie selbst von einer Scheu befallen, wieder ab. Doch das Mädchen entgegnete: »Warum sollte ich mich scheuen, zwei Stunden zu gehen? Wohin meint Ihr?«

Jetzt brachte er hervor: »Auf Payrsberg wäret Ihr in Sicherheit – sonst wüßte ich nichts – aber dort bürg' ich Euch dafür, so lang mein Arm sich regen kann.«

Aus dem Ton, mit dem er's sprach, klang, daß er eine große Gefahr im Anzug halte, und Helena erwiderte ohne Besinnen: »Ihr seid der Bürgermeister aus Payrsberg, hab' ich gehört – wenn Ihr mich dahin mitnehmen wollt –«

Hochaufatmend fiel er jetzt ein: »So lasset uns rasch ausschreiten, Jungfrau, damit es nicht zu spät wird. Niemand weiß, was die Nacht ausgebrütet hat.«

Das Mädchen drehte sich zu seiner gleichfalls vom Heu aufgesprungenen Nachtgefährtin um und sagte: »Leb wohl, Sefferl, und hab' Dank für das, was du mir angetan hast!« Doch Albert Siekmoser fiel abermals und noch hastiger, wie erschrocken, ein: »Nein – Ihr könnt nicht allein mit mir, Jungfrau – die Josefa muß mit Euch gehen, damit Ihr eine Beihilfe an ihr habt. Du brauchst nicht erst ins Dorf hinüber, ich war bei deinem Vater, er weiß schon, daß du uns begleitest und – vorderhand – bei uns auf Payrsberg bleibst.«

Nun schritt er schnell in der Richtung voran, die er am Abend, »um vor dem Nachtdunkel heimzukommen«, eingeschlagen, stieg an der Bergwand auf einem für fremde Augen kaum unterscheidbaren Pfade aufwärts, und die beiden anderen folgten ihm nach. Im Kopfe Helenas ging's eigentümlich hin und wider; ihr konnte keine Ungewißheit darüber bleiben, die allnächtliche dunkle Gestalt draußen sei Ulbert Siekmoser gewesen. Das hatte sie zwar eigentlich schon gewußt, aber doch nicht für Wirklichkeit halten können, denn warum sollte er immer vom Abend bis zum Wegschwinden des Dunkels vor dem Wolfsturm auf und nieder geschritten sein? Solch zweckloses Tun eines Mannes vermochte nur ein seltsamer Traum vorzutäuschen. Jetzt blickte er nicht um, hielt allein da und dort an, so daß er sichtbar blieb, wo Busch und Baumstämme über das Weiterführen des schmalen Steiges beirren konnte. Steil und beschwerlich ging's lange Zeit hinauf, doch die Füße Helenas bedurften keines Ausruhens, ihre Brust hob sich so leicht, daß ein Gefühl in ihr war, sie würde auch bis zum Hochgrat des Gantkofels emporkommen. Dann öffnete sich einmal ein Ausblick ins Etschtal hinüber, und tief drunten lag das häuserreich ansehnliche Dorf Nals. Der Wald schloß sich wieder, wich indes plötzlich, und da ragte ein wenig mehr zur Linken schon nah von einer Felskuppe, ganz im Glanz der aufgestiegenen Morgensonne gebadet, eine breitstattliche Feste empor, rundhin kraftvoll ummauert und von einem viereckigen Bergfried übertürmt. Das war Payrsberg, das andere Schloßbesitztum der Herren von Boymont drüben auf der Höhe von Eppan, ihrer dortigen Stammburg fast ebenbürtig, vor einem Jahrhundert nicht von »Friedel mit der leeren Tasche« gebrochen, weil jene nicht mit im Kampf des »Bundes an der Etsch« wider ihn gestanden. Als der Burgwart Ulbert von Siekmoser jetzt herannahte, senkte sich die Fallbrücke vor dem hochgewölbten, mit dem Wappen derer von Voymont verzierten Steintor nieder, hinter dem sich mannigfache Wohngebäude aufhoben, und bald nahm in einem von diesen Helena und ihre Begleiterin ein geräumiges, weit ins Etschtal hinunterblickendes Gemach auf, dessen wohnlich einladende und anmutende Ausstattung den größtdenkbaren Gegensatz zum Innern des Wolfsturms bildete.

Zeit aber war's in der Tat gewesen, raschmöglichst hinter starken Schutzmauern Sicherung zu suchen, denn die folgende Nacht zeigte bereits an mehreren Stellen Wiederholungen des bei Neuhaus mißlungenen Überfallversuches; von den Mittelgebirgsrändern des Etschtals aufglühender Feuerschein legte mit Flammenzungen Zeugnis dafür ab. Drüben im Reich hatten jetzt allerdings die vereinigten Fürsten und Reichsstädte, besonders die Heermacht des »Schwäbischen Bundes« unter Führung des weitberufenen Landsknechtshauptmanns Georg von Frondsberg, wenn auch erst nach langem mühsamen Ringen, den allgemeinen großen Bauernaufstand durch ein Dutzend bluttriefender Schlachten niedergezwungen und für seine vielfachen wilden Untaten unerbittlich schreckensvolle Vergeltung geübt; in den Alpen dagegen tobte der brüllende Aufruhr weiter, griff vor allem in Tirol nun erst aus der nördlichen Hälfte nach der südlichen über. Dem Oberführer Jakob Geißmayer strömten hauptsächlich aus den Bergwildnissen »helle Haufen« zu, wie die Zeit sie, nicht nach ihrer Erscheinung für den Gesichtssinn, sondern noch aus Mittelaltertagen her wegen ihres »hallenden« lauten Getöses benannte, und alles, was nichts zu verlieren hatte, aus dem Umsturz nur Gewinn einscharren konnte, schloß sich ihnen raub- und raufbegierig an. Ihre Zwecke und Ziele brachten zwar naturgemäß mit, daß die Bewohner der größeren ländlichen Ortschaften nicht gemeinsame Sache mit ihnen machten, doch konnten sie auf keine Beistandsleistung von den bedrohten Adelssitzen herab rechnen, und waren meistens zu schwach, die anstürmenden Rotten abzuwehren, sondern mußten notgedrungen sich durch Unterhandlungen mit diesen und scheinbare Willfährigkeit vor dem Ärgsten zu schützen suchen. Die Bauernmassen standen zunächst von schwierig-langwierigen Belagerungen der stärkeren Burgen ab, richteten unter einsichtiger Leitung ihre Angriffe gegen die kleineren, durch deren Eroberung sich in reichlicheren Besitz von Feuerwaffen und Pulvervorräten zu setzen, und im Fortgange der nächsten Wochen fielen manche minder widerstandsfähige Schlösser in Trümmer, die dem Verderben während Margarete Maultasches und Herzog Friedels Zeit entronnen waren oder wieder aufgebaut worden.

Die Feste Payrsberg indes gehörte zu denen, von welchen die Bandenführer vorderhand aus Klugheit abließen; sie besaß innerhalb ihrer starken Mauern eine ausreichende und tüchtige Verteidigungsmannschaft, und die Wachsamkeit des Burgwarts von Siekmoser war weitum bekannt. So befand sich Helena Übelhör sicher geborgen, wenngleich von der Welt ringsumher vollständig abgeschnitten, denn draußen waren alle Wege und Stege in der Hand und unter scharfer Achtgabe der Aufständischen, daß nirgendwo Botschaft von einer Burg zur anderen gelangen könne, auch von Payrsberg nach Boymont, wie von dort hierher ward keinerlei Benachrichtigung möglich. Doch mit den Augen konnte Helena weithin umschweifen, die Fenster ihres neuen Wohngemaches sahen auf den größten Teil des Etschtals nieder, und wenn sie zum Oberrand des Bergfrieds hinanstieg, reichte der Blick von Meran im Norden bis nach Bozen im Süden hinüber. Sehr lichthell und freudig lag das alles in der Sonne, und ebenso lag's ihr im Sinn, obgleich da drunten überall die böse Bedrängnis gewalttätige Herrschaft führte. Aber hier oben sah sich's so heiter-schön an, nur ein wenig nordwärts über das Dorf Nals hin stach davor ein dunkler Fleck ab, als werde er beständig von Wolkenschatten überlagert. Aus dem fast unzugänglichen Dickicht eines uralten düsteren Fichtenholzes ragte dort von einem Felsvorsprung am Etschtalrande Mauerwerk aus einer halb abgebrochenen finsteren Türe empor; es hieß Pfeffersburg, doch ward seit Menschengedenken im Volksmunde Kasatsch genannt. Sagenhafte Überlieferungen schwerer Missetaten, die ehemals von den Besitzern desselben verübt worden seien, liefen um, kein Fuß wagte sich bis in die Nähe hinan; zweifellos lange eine Raubburg schlimmster Art gewesen, lag's in einem Gestrüpp einer verrufenen, halb in Trümmer zerfallenen Tagesbehausung bei Nacht umgehender böser Geister gleich. In Wirklichkeit hatte den unheimlichen Bau während des letzten Jahrhunderts ein Geschlecht, Edle von Teitenhofen, innegehabt, von dem gegenwärtig nur ein letzter Nachkomme übriggeblieben, der einsam wie ein Schuhu drin hauste; wovon er in größter Dürftigkeit sein Leben friste, vermochte niemand sich vorzustellen, noch wußte recht zu sagen, wie er aussähe, denn auch jenem Nachtvogel gleich kam er fast niemals jemandem im Tageslichte zu Gesicht. Doch sprach wohl einer, wenn auf den Almweiden unterm Gantkofel plötzlich ein Rind oder ein Schaf verschwunden war, das der Bär oder Wolf im nächtlichen Dunkel weggeschleppt habe, vielleicht wisse auch der Teitenhofener, wohin es kommen sei. Solcherlei Dinge erfuhr Helena aus Erzählungen Ulbert Siekmosers, der täglich gegen Abend in ihr behagliches Wohngemach kam, um sich nach ihrem Ergehen zu erkundigen, doch richtete er es stets so ein, daß er sie nicht allein antraf, sondern nur in Gegenwart der Josefa bei ihr verweilte. Dann saß er, eine Zeitlang über dies und jenes ihr Unbekannte redend; seine Vorfahren hatten einmal auf dem Eppaner Gelände von den Boymonter Herren eine kleine Nebenburg zu Lehen gehabt. Davon leitete sich seine Verbindung mit diesen noch her. Aber unter der Herrschaft des Bayernherzogs Ludwig war die Burg spurlos vom Erdboden verschwunden und das Siekmosersche Geschlecht seiner Selbständigkeit verlustig gegangen; einige daraus waren nach und nach zu Bauern, wie der in Andrian, geworden, andere hatten Dienstmannenpflichten auf sich genommen, von einem solchen Zweige stammte Ulbert ab. Das vernahm Helena von ihm, und auf ihre Fragen gab er ihr auch Auskunft über das düstere Kasatsch und dessen jetzigen Inhaber Cristoph Teitenhofen, von dem er mehr, als vielleicht sonst jemand, wußte, denn sie befanden sich ziemlich im gleichen Alter und hatten vormals im Umgang, sogar wohl in Befreundung zueinander gestanden. Doch ward fühlbar, die habe sich schon frühzeitig zum Gegenteil verwandelt, warum, gab der Burgwart nicht an, ließ nur einen in ihm angehäuften, mit tiefem Mißtrauen gepaarten Widerwillen gegen den ehemaligen Gefährten empfinden, von dessen Tun und Treiben während des letzten Jahrzehnts er keine Kenntnis mehr besaß oder wenigstens nicht kundtat. Anderseits erzählte Helena ihm von ihrem Leben auf dem Vestenstein und dem unnatürlichen Verhalten ihrer Schwester gegen sie von klein auf, durch das sie zuletzt zum heimlichen Davongehen von droben fortgetrieben worden. Dem hörte er achtsam und teilnahmsvoll zu, und einmal ging ein leichtes Stutzen über seine Züge, wie sie vom eigentlichen Anlaß ihrer Flucht, dem nächtlichen Besucher Katharinas sprach, von dem sie wegen seines dunkelumbarteten weißen Gesichts und weil er den linken Fuß beim Gehen etwas nachgezogen, allerdings törichterweise geglaubt, er müsse der Junker Voland sein, zumal ihre Schwester ihn auch als Junker Stott angesprochen. Darüber lachte sie jetzt, durch Nachdenken einsichtiger geworden, als über eine kinderhafte Einfalt; ihr war klar aufgegangen, er sei ein wirklicher Mensch wie andere gewesen, und sie begriff nur nicht, weshalb Katharina ihm bei Nacht die Fallbrücke niedergelassen und was er in ihrem Turmgemach gewollt und gesucht habe. Sie befragte Ulbert Siekmoser, ob er sich das erklären könne, doch er schüttelte stumm verneinend den Kopf und wußte hinterdrein nur beizufügen: »Nein, Jungfrau, ich begreif's auch nicht. Eure Schwester ist mir nur einmal zu Augen gekommen, als ich Euch neben ihr stehen sah. Ein schöner Tag war's, der mich auf dem Weg nach Boymont über den Buchberg zum erstenmal am Vestenstein vorbeigeführt, weil ich von Gaid aus auf einen unrichtigen Pfad geraten – ja, ein sehr schöner Tag, darum ist es mir unvergeßlich geblieben, und ich erkannte Euch gleich wieder, als Ihr zum Wolfsturm herankamt.« Hiermit gelangte er wieder dazu, wie öfter, von dem erstenmal zu sprechen, an dem er Helena über die Schlucht hin wahrgenommen, aber wenn das geschah, stand er allemal rasch zum Fortgang auf, weil seiner Burgwartspflicht notwendige Besichtigungen oblagen. Er selbst schien für die Bedürfnisse der von ihm nach Payrsberg Herausgeführten keinerlei Sorge zu tragen, doch sie empfing täglich alles, als ob wie im Wolfsturm unsichtbare gute Elfen für sie bedacht seien und ihr sogar unausgesprochene Wünsche aus den Augen zu lesen vermöchten. Ab und zu drängte sich ihr der Gedanke auf, warum das geschehe, wodurch sie es verdient habe und womit sie es vergelten könne. Aber sie scheuchte diese Vorstellungen immer schnell wieder von sich ab, denn sie hatte und besaß nichts, mit dem sie ihrer Dankbarkeit Ausdruck geben konnte. Wenn sie den ihr zugehörigen Teil der Hinterlassenschaft ihres Vaters in Besitz gehabt hätte, wäre es anders gewesen, und sie tröstete sich damit, daß es ihr künftig doch vielleicht möglich werde, ihre Schuld abzutragen. Einstweilen indes blieb ihr nichts anderes, als sich hier gleich einem unflüggen in ein fremdes Nest verschlagenen Vogel weiterfüttern zu lassen, und eigentlich fühlte sie sich im Innern davon niemals wirklich beunruhigt, sondern nahm es als ein freundliches Geschenk des Himmels auf, über das man nicht nachdenken müsse, und entwickelte sich zusehends aus einer anmutigen Knospe, der sie bisher geglichen, mehr und mehr zu einer Blüte von ungewöhnlicher Lieblichkeit.

Denn es verrann geraume Zeit so, nicht Wochen, vielmehr Monate, der Sommer schwand, und auch der lange Herbst ging in den Winter über, soweit die Sonne über dem Etschtal einen solchen zuließ. Draußen änderte sich an den schlimmen Zuständen nichts zum Bessern, sondern der Bauernaufruhr nahm noch weiter an Verbreitung und Kraftwachstum zu, besonders im Eisack- und Talfertal, wie am Ritten fielen ihm mannigfach kleinere Burgen in die Hände, und auch auf den größeren sah man allgemein mit steigender Sorgnis der immer höher anschwellenden Bedrohung entgegen. In der nördlichen Hälfte Tirols hatte strenge, die Kampflust lähmende Kälte eingesetzt, dagegen bereitete die südliche ihr keine damit vergleichbare Witterungsschwierigkeit, dann und wann fallender Schnee schwand stets hurtig wenigstens aus den Talgründen und von den sie begrenzenden Geländen wieder ab. Jakob Geißmayer richtete deshalb sein Augenmerk jetzt hauptsächlich nach Süden, auf die Eroberung Bozens, gebot gleichzeitig auch erfolgverheißende Anstürme gegen die größeren Burgen im Umkreise der Stadt zu unternehmen. Und in einer Januarnacht fuhr Helena jählings, von wildem Getöse aufgeschreckt, aus dem Schlaf; eine wohl beinahe tausendköpfige Bauernmasse war raubend drunten in Nals eingebrochen und hatte sich, von dort zahlreiche Leitern mitschleppend, nach Payrsberg heraufgewälzt. Ein erster Anschlag wider eine der starken Etschburgcn war's, mit allem dazu Erforderlichen ausgerüstet und merkbar von einem ortskundigen Ratgeber geleitet, denn die Mehrzahl der Angreifer wandte sich gleich der Seite zu, wo die Ringmauer, wenngleich nicht minder hoch und fest, als rundum, doch unweit einem höheren Berghange zugekehrt, von oben her mit Armbrüsten und Feuerrohren bestrichen werden konnte. Dadurch bot sie an dieser Stelle ihren schwächsten, am meisten gefährdeten Abschnitt, und der Anführer des großen Haufens sah es augenscheinlich darauf ab, diesen Vorteil möglichst auszunutzen. Aber auch Ulbert Siekmoser war hier auf besondere Verteidigungsmittel bedacht gewesen und nicht unvorbereitet überrascht worden; die auf den angelegten Leitern Emporkletternden wurden zunächst von solchen Strömen ihnen entgegengeschleuderten siedenden Pechs empfangen, das sie geblendet, bis zu den Knochen verbrannt, heulend und brüllend von den Sprossen in die Tiefe zurückstürzten. Mit Sand gefüllte Säcke gaben auf dem Mauerrande vor den Bolzen und Kugeln ziemlich Deckung. Vom Bergfried herab antworteten ein paar Bombarden mit zerhackten Blei- und Eisenstücken auf die feindlichen Geschosse. Etwas Mondhelle durchsetzte die Luft, verhalf indes zu keinem deutlichen Unterscheiden, nur an den Stellen, wohin von den Belagerern angezündetes Föhrenreisig seinen Flammenschein warf, ward flüchtig dies und jenes genauer erkennbar. Denn man sah, daß der Burgwart selbst sich unablässig an der Gegenwehr beteiligte, bald hier, bald dort auftauchte, Überschau zu halten suchte, Anweisungen gab, auch mit eigener Hand seine Waffe führte. Seinen Leuten zum Beispiel zu dienen, setzte er sich furchtlos überall der größten Gefahr aus, doch flog ihm einmal plötzlich ein Schreckenston vom Munde, und er stieß den Ruf aus: »Ihr hier, Jungfrau? Um des Himmels willen, wie könnt Ihr solche Unvorsichtigkeit begehen! Bergt Euch rasch im Turm!« Und von seiner sonstigen ruhigen Art verlassen, griff er so heftig nach dem Arm Helenas, die aus ihrem Gemach ins Freie hinausgeeilt war, daß er ihr beinahe Schmerz verursachte, und zog sie hurtig in den Bergfried hinein. Stundenlang tobte der Kampf in gleicher Weise fort, drohte durch die gewaltige Überzahl der Bauern, die ihre Verluste stets zu ersetzen vermochten, die Kräfte der Verteidiger schließlich doch erlahmen zu lassen und mit einer Erstürmung der Burg zu enden. Doch gesellte sich den letzteren ein Beistand: die Angreifer hatten vorher in Nals alle Weinfässer, deren sie habhaft werden gekonnt, ausgeleert, waren mehr als zur Hälfte betrunken, und die Wirkung des Weines steigerte sich in ihren Köpfen noch höher an. Sie wurden unbotmäßig gegen ihre Anführer, begannen, der Erfolglosigkeit müde, untereinander zu schimpfen und zu hadern, manche taumelten begierig zum Dorf zurück, nach noch unentdeckten Fässern zu spüren. Vergebens schrie der, welcher merkbar ihr oberster Hauptmann war, sie ingrimmig an, griff zuletzt selbst nach einer Leiter und erstrebte augenscheinlich, sie durch sein Vorbild zu vernunftmäßigem Handeln zu bringen und sich nachzureißen. Ein kühn verwegenes Beginnen war's, wenn er auch, sichtlich kein Bauer, durch ein eisernes Rüstkleid und eine Helmkappe mit herabgelassenem Fallgatter besser als die anderen vor Hieb und Stich geschützt wurde; mit richtiger Umsicht wählte er einen Punkt aus, wo die Mauer gerade von Wehrmännern entblößt schien und in dunklem Winkel ein unbemerktes Gelingen seines Vorhabens verhieß. Nur Ulbert Siekmoser hatte achtgegeben und traf im Augenblick, wie der Kopf des Aufkletternden über den Rand tauchte, diesen mit so wuchtvollem Schwertstreich, daß er den Halt verlor und umschwenkend von den Sprossen zwischen die ihm Nachfolgenden hinunterkollerte. Das brachte eine jähe Sachwendung mit sich; der Abgestürzte ward drunten von den Nächsten unter lautem Geschrei weggeschleppt, und der übrigen bemächtigte sich eine in die Runde umlaufende Entmutigung. Sie gaben offenbar ihr aussichtslos gewordenes Unternehmen auf, trafen Anstalt zum Abzug; diese Wahrnehmung zeitigte im Kopfe des Burgwarts blitzschnell einen Entschluß, er ließ plötzlich die breite Fallbrücke niederfallen und brach mit seiner nur kleinen, doch schwergewaffneten Mannschaft unvorgesehen in die Flanke der zu Tal davonziehenden Bauern hinein. Damit versetzte er die Trunkenen in völlige, auch die Halbnüchternen ansteckende Kopflosigkeit; von panischem Schrecken gepackt, rannten alle, ihre Massenhaftigkeit vergessend, die Spieße und Eisenkolben von sich werfend, blindlings wie ein von Hornissen überfallenes Viehrudel abwärts. Die aufmerksam gewordenen Bewohner von Nals scharten sich rasch mit Hacken und Grabscheiten den Flüchtenden entgegen, von denen viele ohne Widerstand niedergeschlagen wurden, wohl gleiche Anzahl über die steilen Schluchtwände des Grissianer Baches hinunterpolterte, und kaum die Hälfte des tausendköpfigen Haufens gelangte, hierhin und dorthin zerstreut, lebend ins Etschtal zurück.

Der erste Anschlag auf eine der stärkeren Burgen war, hauptsächlich jedenfalls durch die Tüchtigkeit ihres Hüters, mißraten, und frohgemut kehrte dieser im Morgengrauen wieder heim. Er traf Helena in unruhvoller Erwartung seiner Rückkunft an, und ihr geriet vom Munde: »Ihr habt mich in der Nacht gescholten, dazu habe ich wohl mehr Grund, denn Ihr begingt unaufhörlich ganz andere Unvorsicht, als ich.« Er antwortete: »Das war meine Pflicht, Jungfrau, die Ihr nicht hattet, sondern eine ganz andere, als ich.« Das verstand sie nicht und fragte: »Welche sollte ich haben?« Darauf versetzte er lachend: »Die Pflicht, am Leben und unversehrt zu bleiben,« und rasch abbrechend, fügte er nach: »Ich wollt', Ihr könntet mir sagen, wen mein Schwert im Eisenwams auf der Leiter getroffen hat. Der Anführer des Haufens war's und er wußte, was ihm am besten gelingen konnte, aber seine Kappe und das Dunkel ließen nichts von ihm erkennen. Gut wär's, wenn's Jakob Geißmayer selbst gewesen, denn er ist nicht mit heiler Haut weggekommen. Gehabt Ihr Euch wohl bis zum Abend, Jungfrau, und holt Eure gestörte Nachtruhe nach! Es gibt für mich viel Umschau zu halten, wo die Mauern geschädigt worden sind und schleunig der Besserung bedürfen.« Dazu begab er sich jetzt rasch fort und Helena blickte ihm mit weitoffenen Augen nach. Die Nacht hatte ihr ein völlig anderes Bild von Ulbert Siekmoser als bisher gezeigt, keines der Schüchternheit und beinah Furchtsamkeit, wie wenn er in ihrem Gemach mit ihr sprach, sondern er könne auch von allen der Unerschrockenste, Todesmutigste und Tapferste sein.

Die Behauptung Payrsbergs war für dies selbst und die Herren von Boymont natürlich von höchster Bedeutung, fiel indes für die südliche Hälfte Tirols nicht schwer ins Gewicht; der Bauernaufstand wurde dadurch keineswegs gelähmt, nur angespornt, sich vor der Wiederholung derartiger Angriffe in reichlicherem Besitz grober Geschütze zu versetzen. In allen Niederungen dauerte seine Herrschaft fort, und die Burgbesatzungen blieben überall auf sorglichste Bewachung ihrer Schutzwehren beschränkt, vermochten nirgendwo helfend einzugreifen; die allgemeine Lage gestaltete sich vielmehr von Woche zu Woche bedrohlicher und hilfloser, und die vertierte Wildheit der plündernd, brennend und mordend umgreifenden Horden steigerte sich immer höher an. Wo sie eine Adelsfeste in ihre Gewalt brachten, verfielen die Frauen und Mägde noch schlimmerem Los als die zumeist nach der Erstürmung sogleich niedergemachten Männer; entsetzenerregende Gerüchte davon liefen um und ließen, wenn sie Ulbert Siekmoser zu Gehör kamen, manchmal sonderbar über sein Gesicht einen Schreckausdruck fahren, der in keinem Einklange zu dem von ihm bewiesenen Mute stand. Er schlief nicht mehr bei Nacht, sondern umschritt unablässig Wacht haltend, Ohr und Auge anspannend, bis zum Morgen die Mauern, streckte sich nur im Tageslicht ein paar Stunden zum Ausruhen hin. Doch ward der Ansturm auf Payrsberg nicht erneut; die Wochen wuchsen zu Monaten an. Das erste Grün schimmerte vom Etschtal herauf, und bald hielt der zauberische Frühling Südtirols, die letzten kalten Winde davontreibend, siegreich seinen Einzug. Blühende Mandelbäume streuten blaßrötliche Flocken drüben zwischen die Rebenpflanzungen um Terlan, und mit tieferem Farbengeleucht folgten rasch Pfirsiche nach; aus der Ferne nicht wahrnehmbar, bargen sich neben ihnen vermutlich blaue Veilchen am Boden. Auf dem Vestenstein hatte Helena nie ein Trieb, Blumen zu suchen, angerührt, doch zum erstenmal überkam sie nach diesem Winter ein Verlangen, Veilchenduft einzuatmen, und sie sprach's bei der abendlichen Unterhaltung mit dem Burgwart einmal aus. Indes er erlaubte ihr nicht, durchs Tor und über die Fallbrücke hinauszugehen, nur seltsam kamen seitdem die Veilchen von draußen zu ihr herein, denn sie fand täglich in ihrem Wohngemach einen lieblich duftenden Strauß von ihnen vor. Da aber brach eines Tags, wütendem Nordsturm ähnlich, jählings über den Brennerpaß ein ungeheures Frühlingsgewitter ins Eisacktal herunter. Nur fuhr's nicht durch die Luft daher, sondern auf Pferdehufen und Menschenfüßen über den Erdboden, denn sein Urheber war der Feldhauptmann des »Schwäbischen Bundes« Herr Georg von Frondsberg, der mit seiner Aufgabe im Reich fertig geworden und sich jetzt anschickte, hier ihren Rest zu vollbringen. Er kam mit dem eisernen, von ihm selbst zusammengeschweißten und geschmiedeten Besen seiner für unüberwindlich geltenden Landsknechtfahne und fegte damit über die Täler Südtirols bis zu den schwindelnd-steilsten Schroffen und immer schneeweißen Firnhängen hinauf. Ein Kampf hob an, in dem auch die zahlreichste ungeschulte Masse der Bauern wider ihre Gegner nichts auszurichten vermochte, sie sanken vor diesen zu Boden, wie von Sensenschnitten umgemähte Halmschwaden, und keine Zuflucht, nicht Fels, Kluft und Wald sicherte sie vor der Verfolgung. Die Frondsberger Söldner waren drüben in Deutschland auch zu Meistern im Ausspüren von Verstecken geworden und bildeten sich hier noch weiter drin aus, zugleich jedoch auch in ihrem schonungslosen Haß und Grimm gegen die Bundschuhrotten und Karsthansen, vergalten diesen mit der nämlichen Unerbittlichkeit die von ihnen verübten Greuel und blutlechzenden Grausamkeiten. Jetzt wurden die Bauern zum gehetzten, nirgendwo Schutz und Erbarmen findenden Wild; in den entlegensten Bergwildnissen loderten die Hütten, Höfe und Dörfer aller, die sich an dem Aufruhr beteiligt, in Flammen auf, die Anstifter, Leiter und Rädelsführer desselben verfielen, wo es gelang, sie lebend zu ergreifen, martervollster Hinrichtung. Ein paar Wochen reichten aus, die Sachlage aufs vollständigste umzukehren, den Schrecken mit noch stärkerem Schrecken zu dämpfen; Jakob Geißmayer und was von seinen Anhängern übriggeblieben, suchte in atemloser Flucht gegen Süden Stellung und der aufgelöste Schwarm ward zum größten Teil noch in der Veroneser Klause vernichtet, von Frondsberger nach Italien versprengt, wo dieser seine Fahne dem Heere des Kaisers Karl V. zum Beistand gegen die Streitmacht des Königs Franz I. von Frankreich zuführte und jenem zu dem großen, entscheidenden Siege bei Pavia verhalf. Über dem ganzen Lande Tirol aber hinterließ er eine Grabesruhe; gleich den Stämmen eines vom Windbruch umgestürzten Waldes lag die aufständische Landbevölkerung hingeschmettert, sich nicht mehr emporzurichten und zum andernmal zu ihrem Verderben betören zu lassen. Dagegen atmeten die Städte, größeren wohlhabenden Dorfschaften und Burgherren von einem langen, schweren Alpdruck erlöst auf; Ordnung und Sicherheit waren zurückgekehrt, und die Regierung in Innsbruck fahndete, wieder die Macht in Händen haltend, eifrig nach den Aufwieglern und Anführern, die sich nicht über die italische Grenze zu retten vermocht, sondern vielleicht noch da und dort in einer schwer zugänglichen Felsöde verborgen hielten. Bald nach dieser gründlichen Umwandlung der Dinge aber begab sich eines Abends auf Payrsberg Merkwürdiges. Ulbert Siekmoser saß redend mit Helena zusammen und trug, wie er's die letzten Monate hindurch beständig getan, im Schwertgurt noch einen kleinen nadelscharf zugespitzten Dolch, der dem Mädchen Anlaß gab, einmal zu sagen: »Den habt Ihr nicht mehr nötig und könnt ihn jetzt abtun.« Er versetzte: »Ja, ich habe ihn jetzt nicht mehr nötig; wollt Ihr Euch seiner bedienen, damit Blumen zu schneiden, so mache ich ihn Euch gern zum Geschenk.« Helena nahm dies dankbar entgegen, betrachtete ihn und erwiderte: »Ich habe nie recht begriffen, wozu Ihr eine so kurze Waffe, die halb nur wie ein Spielzeug erscheint, bei Euch führtet; in einem ernstlichen Kampf wäre sie doch nicht brauchbar gewesen.« Darauf antwortete er etwas stotternden Mundes: »Nein, das wäre sie nicht, Jungfrau – Ihr sagt's, sie war nur ein Spielzeug – das eines Gedankens in mir. Aber doch lang genug – wenn es den wilden Tieren gelungen wäre, in unsere Burg einzudringen – da hätte ich – ehe sie mich niedergemacht – hätte ich zuvor – Euch, Jungfrau, mit dem Dolch ins Herz getroffen – damit Ihr nicht –«

Weiter indes gelangte er nicht, sondern stand mit rot verfärbtem Gesicht, erschrocken über das, was seinem Mund entfahren war, hastig auf und verließ das Gemach. Und um ein paar Wochen später folgte noch Seltsameres nach, denn der Pfarrherr drunten in Nals verzeichnete in seinem Kirchenbuch, daß der edelgeborene Ulbert von Siekmoser, derzeitiger Burgwart auf Payrsberg, mit der edelgeborenen Jungfrau Helena von Übelhör, Anerbin auf dem Vestenstein, einen Ehebund geschlossen habe, sich wechselseitig in Liebe zu stützen und zu fördern und Treue zu bewahren, bis daß der Tod sie scheide. Der Hochzeitsfeier wohnten die Herren von Boymont bei, die den Neuvermählten aus alten Zeiten her als halb zu ihrem Hause gehörig betrachteten und ihren großen Reichtum nicht kargen ließen, aufs freigebigste das hohe Verdienst zu belohnen, das er sich um sie durch die Bewahrung ihrer Burg während des Bauernaufstandes erworben. Zwar versetzten sie ihn dadurch in eine Selbständigkeit, die ihm ermöglichte, einem ihrer Wünsche nicht zu entsprechen; doch konnte bei der jetzt verbürgten vollen Sicherheit im Lande auf Payrsberg auch ein anderer gutberufener Burgwart genügen, und die Boymonter Herren bestanden nicht darauf, ihr Verlangen demjenigen ihres bisherigen Dienstmannes überzuordnen. Das junge Paar verbrachte noch den Sommer auf Payrsberg, aber während dieser Zeit ward unablässig drüben an der Ausmündung des Gaidener Baches von Maurern, Zimmerleuten und Schreinern geschaffen, und als gegenüber in Terlan die Trauben gekeltert wurden, zog Ulbert Siekmoser mit seiner jungen Frau im gesichert und wohnlich wiederhergestellten Wolfsturm ein. Den hatte er von seinem zum Bauern gewordenen Namensvetter in Andrian um ein Geringes angekauft, zwar nur eine ziemlich engbeschränkte Wohnstätte, doch er konnte sich als Burgherr und Wiedererneuerer des ehemaligen freien Standes seiner Vorfahren darin fühlen. Und ihm war kein Platz zu dieser unabhängigen Lebensführung lieber, als der, wo er das erste Wort mit seiner jetzigen schönen Gefährtin gewechselt hatte und vierzehn Nächte hindurch als Wächter der Schlafenden hin und wieder geschritten war, die er eher mit eigener Hand getötet, als sie lebend den Schandtaten der Bauern hinterlassen hätte. Jetzt verstand sie klar das damals nur undeutlich aus seinen gestotterten Worten in ihr Aufgedämmerte und war gleichfalls zu einem Verständnis vorgeschritten, weshalb ihre Schwester die Zugbrücke des Vestensteins für den, der sie nächtlich aufgesucht, niedergelassen habe.

Der verfallene Burgstall auf der Felsnadel war während des Umhertobens der Aufständischen völlig unbeachtet geblieben, sie mochten den Anstieg nach ihm als zu beschwerlich und das droben zu Erbeutende als nicht des Mühaufwandes wert angesehen haben; nur auf Nachsuche im Mittelgebirg umschweifende Frondsbergsche Landsknechte hatten einmal Einlaß gefordert, doch beim Anblick der dürftigen Zustände auf die Aussage der alten Ursel, ihre Herrin, deren Mann todkrank zu Bett liege, sei von edlem Stande, sich rasch wieder davonbegeben. Die sonderbare Mitteilung der Alten kam niemand drunten im Tal zu Ohren, und jeder hatte zu der Zeit auch noch vollauf anderes zu tun gehabt, als sich darum zu bekümmern, was auf dem Vestenstein vorgehe. Als aber der Sommer schon seit Monaten die neue Friedlichkeit der Dinge übers Land gelegt, so daß die gesicherte Ruhe wieder zur Gewohnheit geworden, ward in Nals einmal ruchbar, die Katharina Ubelhörin habe in ihrem Burgstall einen Mitbewohner, welchen der davon Berichtende aus einiger Weite über die Schlucht hin selbst mit Augen gesehen, denn er konnte ihn als einen Mann schildern, der mit dem linken Bein zu hinken und am rechten Arm zu lahmen scheine. Das rief bei den Hörern im Dorf große Lachlust wach; ihnen war's gleich außer Zweifel, es müsse ein Buhlfreund der Katharina auf dem Vestenstein sein, die keinen anderen zum Liebhaber als einen Krüppel habe kriegen können. So befaßte sich beim neuen, wohlgeratenen Weinmost ein Weilchen das Gerede mit ihr; ein paar ältere Leute, die ihren Vater gekannt, wußten anzugeben, das Geschlecht der Übelhör stamme von einer der vielen Liebschaften der Margarete Maultasche her, jener habe auch, nur vom Bart zugedeckt, ein sonderbares Mundwerk gehabt und dies seiner Tochter so weitervererbt, daß man in ihr wohl ein heutiges Ebenbild der Maultasch sehen könne, desgleichen sei ihr vermutlich die Mannstollheit von der zugefallen. Kurz ward auch ihrer Schwester Helena Erwähnung getan, die keine wirkliche Tochter Hans Übelhörs, sondern eines italienischen »Nobile« am Gardasee gewesen, wo jener mit seiner jungen, gleichfalls aus Italien hergestammten Frau gewohnt, eh' sie auf den Vestenstein gekommen. Die Maddalena hätt's wohl zu spät mit Widerwillen vor der Maultascherbschaft ihres Mannes befallen, daß ihr's zu arg nicht zu verübeln wäre; wo sie geblieben, habe nie jemand erfahren. Aber so sei die eine Tochter ganz nach dem Vater und ihrer Ahne, die andere wohl zu begreifen nach der Mutter geschlagen, aber auch nach ihrem Vater, der wohl ein Vornehmer gewesen, denn ihr Gesicht habe noch feinere Art an sich, als das der Maddalena, daß man sich's leicht erklären könne, aber von Siekmoser habe keine andere als sie zur Frau gewollt. Damit wandte sich die Rede diesem zu, der zu Nals in höchstem Ansehen wegen der Vergeltung stand, die er an dem raubend ins Dorf eingebrochenen Bauernvolke geübt, und der flüchtigen, durch die Nachricht von der Katharina Übelhör und ihrem lahmen Liebhaber verursachten Belustigung wurde nicht mehr gedacht. Als das junge Ehepaar seit einigen Wochen in dem wohnlich wiederhergestellten Wolfsturm eingezogen war, gerieten indes die vom Vestenstein nochmals in den Mund der Leute, denn es ward kund, daß in der Kirche zu Terlan eine zweite eheliche Verbindung, die der Katharina Übelhör mit ihrem »Bräutigam«, geschlossen werden solle. Das gab neuen Anlaß zum Lachen und zu Bemerkungen, die darin übereinkamen, der Auserwählte der Maultasche müsse ein gar armer Schlucker sein, der sie mit der Drohung, sie sonst von Dach und Kost wieder fortzuschicken, dahin gebracht habe, sich mit ihr zur lebenslänglichen Zugehörigkeit zusammentun zu lassen. Das bestätigte sich auch und dazu in einer hochüberraschenden Weise, wie das Brautpaar zum Kirchgang von der Burghöhe herabkam, denn ein völliger »Habenichts« war's in der Tat, Christoph Teitenhofen von Kasatsch, der seit einem Jahrzehnt oder länger in seinem zerborstenen Eulenturm am Hungertuch genagt hatte. Er ging, wie von jeher, mit ein wenig nachschleppendem linken Fuß, dagegen war von einer Lähmung seines rechten Armes nichts bemerkbar, darin mußte der Berichterstatter, der ihn nur von weitem wahrgenommen, sich getäuscht haben oder sie war seitdem verschwunden. Neben ihm schritt seine »Hochzeiterin« breitschultrig und hoch aufgerichtet, und auffällig war's, welche Ähnlichkeit ihre Gesichtszüge mit dem eines aus der Trümmerstatt des Schlosses Maultasch aufgegrabenen und an die Kirchenmauer geratenen Steinbildwerks zeigten; an ihrer Gestalt jedoch fiel ebenso in die Augen, daß sie gewichtigen Grund gehabt habe, ihre Eheschließung nicht länger verzögern zu lassen. So wurde der edle Christoph von Teitenhofen, Herr zu Pfeffersburg, und die edle Katharina von Übelhör, Herrin zum Vestenstein, rechtsgültig vermählt, kehrten von Terlan zum letzteren, wie's nicht anders möglich war, über Andrian zurück, doch schlugen dabei einen kleinen unnötigen Umweg ein, der sie dicht unter dem Wolfsturm vorüberführte. Die neuen Bewohner desselben nahmen dies mit Überraschung gewahr, glaubten, daß die Herankommenden bei ihnen vorzukehren beabsichtigten, und traten ins Tor hinaus. Aber die beiden hielten den Fuß nicht an, Katharina Teitenhofen drehte nur im Gehen den Kopf der Wolfsturmseite zu, spuckte vor ihrer Schwester aus, und genötigt, auf mehrstündig langer Schlinge die gradauf nur so kurze räumliche Entfernung zurückzulegen, setzten sie den Weg zur Ersteigung ihrer Felsnadel fort.

Das hatte genugsam kundgetan, auf welchen Fuß sich die Vestensteiner zu den Wolfsturmern stellten, wie's die letzteren auch nicht anders erwartet gehabt, weder Helena noch ihr Mann, von dem sie jetzt erfuhr, woher das Zerwürfnis zwischen ihm und dem Teitenhofener stamme. Der hatte sich einmal mit Gewalttat eines Mädchens bemächtigen wollen, dessen Siekmoser sich als Beschützer angenommen; zwischen ihnen war deshalb ein Ringkampf entstanden, bei dem Ulbert ihn schließlich derartig über eine Steinwand niedergeworfen, daß ihm, ob auch nur unbedeutend, ein Schaden am linken Fuß davon verblieben. Das betraf einen Vorgang, von welchem der Burgwart auf Payrsberg seiner jungen Schützlingin nicht erzählen gekonnt, weil sie nicht begriffen hätte und er es ihr noch weniger hätte erklären können, was der Teitenhofener dem Mädchen anzutun willens gewesen sei. So aber bestand zweifache Feindschaft zwischen dem Vestenstein und dem Wolfsturm; die Frau droben hegte tödlichen Haß gegen die Frau hier unten, wie der Mann gegen den Mann. Doch nach Ablauf einiger Zeit begab Siekmoser sich eines Tages zum Vestenstein hinan; er war ein furchtloser und ruhig entschlossener Mann, und bezweckte droben die Forderung zu stellen, daß Katharina an Helena die ihr zugehörige Hälfte der väterlichen Hinterlassenschaft aushändige. Aber auf seinen Zuruf ward die Felsbrücke nicht herabgelassen, nur die alte Ursel erschien unter dem Zugangstor, fragte nach dem Anlaß seines Kommens, berichtete davon im Innern und kehrte mit der Antwort zurück: »Ein Siekmoser hat hier nichts zu suchen und zu holen.«

Das besagte klar, die Teitenhofnerin wolle der, welche sie nicht als Schwester anerkannte, nichts von der Erbschaft zukommen lassen, und habe es mutmaßlich aus dieser Absicht darauf angelegt gehabt, Helena von der Felsnadelburg wegzutreiben. Um etliche Tage nachher erwachten die Wolfsturmbewohner in der Nacht von einem sonderbaren Geräusch; es war, als ob sich an der Bergwand über ihnen Felsstücke ablösten und klatschend in den Gaidener Bach herunterstürzten. Das geschah wohl am Winterausgang dann und wann, doch lag dazu gegenwärtig in der frost- und regenlosen, ruhigen Herbstzeit kein Grund vor, und Ulbert Siekmoser ging, um Nachschau zu halten, ins Freie hinaus. Da sausten, sich mehrmals wiederholend, hoch aus der Luft her, große Steine in die Bachschlucht hinunter und beließen keinen Zweifel über ihre Herkunft. Auf dem Bergfried des Vestensteins mußte eine Wurfmaschine hergerichtet sein, die von dort über die vorspringende Bergnase Felsbrocken nach dem Wolfsturm herüberschleuderte. Doch sie vermochten die Richtung nach dem unsichtbaren Ziel nicht zu treffen, und wahrscheinlich war die Entfernung doch auch zu beträchtlich, denn sie schlugen alle unschädlich, nur ratternd und knatternd, in ziemlicher Weite schon auf das Geblöck des Wassers herunter.

Nicht lange danach kam auf dem Vestenstein ein Kind männlichen Geschlechts zur Welt, das dem ehelichen Stande der Mutter gemäß den väterlichen Namen erhielt; sie selbst aber benannte man unten im Etschtal, wenn ihrer einmal Erwähnung geschah, nicht die Teitenhofnerin, sondern die Übelhörin oder die Maultasch. Im Wolfsturm dagegen stellte sich erst nach rechtmäßigem Zeitablauf, als im Frühling die Pfirsichblüten zwischen den Rebhängen um Terlan zu leuchten anhuben, ein Nachkomme ein, doch kein Sohn, sondern eine Tochter, die in der Kirche zu Andrian als Luitgard Siekmoser getauft wurde.


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