Wilhelm Jensen
Auf dem Vestenstein
Wilhelm Jensen

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Drittes Kapitel

Demgemäß teilten die Schwestern ihr Besitztum im kleinen untereinander, wie's einst der Herzog Friedrich und sein Bruder Ernst mit ihren Fürstentümern im großen getan, oder vielmehr sie bewohnten gemeinsam die zur Notdurft hergestellten Burgüberbleibsel auf der Felsnadel. Was sie teilten, war der Inhalt eines von ihnen in einem Mauerloch aufgefundenen alten Kastens, dessen Öffnung Unerwartetes zutage förderte, eine erhebliche Anzahl von goldenen und silbernen Guldenstücken unter einer dichten Schicht drübergeschütteter Tiroler Etscherkreuzer und anderer kleinerer, mannigfach fremdländischer Münzen. Überraschend sah der Fund aus und zeigte, daß Hans Übelhör ausreichende Mittel besessen habe, seine Vestenstein-Behausung wieder völlig in ihren ehemaligen Stand zurückzuversetzen. Aber alle Bequemlichkeit und augengefällige Ausstattung der Räume um ihn mußten ihm gleichgültig gewesen sein; er hatte nichts als das Unerläßliche getan, sie zur Schutzunterkunft gegen Wind und Wetter brauchbar zu machen, den reichhaltigen Geldvorrat zu keinerlei Verannehmlichung seiner Lebensführung benutzt, höchstens dazu, sich den Wein für seinen einsamen abendlichen Trunk zu beschaffen.

Bei seinem Tode stand Katharina im achtzehnten Jahr, Helena mochte um zwei bis drei Jahre jünger sein. Nach ihrer äußeren Erscheinung hätte niemand sie für Schwestern angesehen; die erstere war groß und starkknochig, dickes, grobsträhnig geflochtenes Blondhaar hielt ihren Kopf mit der Farbe von reifen Maiskolben überdeckt und wasserfarbig blaßblaue Augen sahen aus einem breitbackigen Gesicht. Sie mochte manches von ihrem Vater Übermacht bekommen haben, dessen Züge indes unter dem dichten Bartwuchs nicht deutlich erkennbar geworden; schön gebildet waren auch sie wohl nicht gewesen, doch einem Manne besser angepaßt, so daß sie bei ihm nichts Auffälliges ausgeprägt hatten. Helena dagegen war auf den ersten Blick der Mutter nachgeartet, von kleinerer und feinerer Gestalt, zartgliedrig und dunkel in Augen und Haar, das ihr anmutig auf eine alabasterhelle und -glatte Stirn herabnickte. Im Nacken trug sie's, anders als sonst ein Mädchen im Etschtal, zu einem weichen Knoten verschürzt; gesehen hatte sie's so nirgendwo und auch von niemand gelernt, war aus sich selbst drauf geraten.

Wenn aber das Äußere nicht auf den geschwisterlichen Zusammenhang zwischen den beiden hinwies, tat dies ebensowenig ihr Verhalten gegeneinander. Sie hatten schon von früh auf wechselseitig keine Zuneigung gehegt, nicht nach Art von Schwestern gelebt, waren niemals über die Zugbrücke zu gemeinsamem Kinderbetreiben nach Matten und Waldbusch hinübergelaufen. So bestand's bis zum Ableben des Vaters und dauerte danach weiter, auch darin, daß Katharina als die ältere ihren Willen der jüngeren überordnete und diese sich ihm, wie sie's stets getan, fügte, ob aus freiwilliger Zustimmung oder einem Gefühl, die leiblich Schwächere zu sein, ward nicht erkennbar. Denn sie tat's schweigsam, ließ sich an dem engen Gemach genügen, das die andere ihr zuteilte, während Katharina die übrigen Räume für ihre Bedürfnisse und Zwecke nutzte und zum hauptsächlichen Aufenthaltsplatz ein Gelaß im Oberschoß des unversehrt gebliebenen Bergfrieds für sich auswählte. Dort saß sie, wie als alleinige Herrin des Vestensteins auf die unteren Gemäuer niederblickend, verbrachte auch die Nacht droben und zog, eh' sie sich zum Schlafen legte, die bewegliche Hakenleiter, an der sie hinaufgestiegen, hinter sich drein, so daß niemand zu ihr emporgelangen konnte. Die beiden Knechte, die ihr Vater gehabt, hatte sie nach seinem Tode alsbald, vermutlich aus Sparsamkeit, als überflüssig entlassen, da gegen eine Bedrohung von außenher die unerklimmbaren Felswände und die aufgezogene Fallbrücke vollständig sicherten, und nur die Ursula, eine schon mit ihren Eltern heraufgekommene, gemach zur »alten Urschel« gewordene Magd bei sich behalten. Die besorgte alle Wirtschaftsnotwendigkeiten, holte täglich Brot, Milch und Eier von Gaid herüber und kochte in der von Jahrhunderten verrußten, fast lichtlos düsteren Feuerstelle die kargen Speisen zurecht oder mehr schlecht als recht zusammen. Mit ihr stand Katharina, wie von jeher, auf vertrautem Fuß, die Schwestern dagegen kamen fast nur am Mittagstisch in dem zum Essen bestimmten Raum flüchtig miteinander in Berührung, die sich indes einzig darauf erstreckte, daß sie gemeinsam die Mahlzeit einnahmen; ihre Augen begegneten sich nie, und kaum ward dann und wann einmal ein kurzes Wort zwischen ihnen gewechselt. Ihr schweigsames Beisammensitzen erinnerte an das stumme Nebeneinanderleben ihres Vaters und ihrer Mutter, anscheinend wie eine Fortsetzung desselben; sie hatten nichts gemein, schieden sich vielmehr jede von der andern ab. Wie eine lautlose Kriegführung zwischen ihnen war's, doch merkbar nicht von Helena gewollt und ausgegangen, sondern ihr aufgedrungen. Sie verhielt sich untätig, wehrte allein die Angriffe der Schwester ab, die freilich nicht offen hervortraten, nur als sich in ihren Gedanken verborgen haltend, fühlbar wurden. Aber ab und zu einmal gab ein flackernder Blick der Augen Katharinas von der verschwiegenen Feindseligkeit in ihr Kunde.

So vergingen einige Jahre, während derer jenseits der Schneeberge drüben im Reich sich etwas Unerhörtes bereitete und zum Ausbruch kam. Ganz neuartig zwar war's nicht mehr; schon vor einem Jahrzehnt hatten sich stellenweise am Oberrhein und im Schwabenlande die Bauern erhoben, zusammengerottet und als »Bundschuh« und »Armer Konrad« nach einem alten Sprichwort »den Spieß umgekehrt«, das hieß, sich nicht länger von den adligen Herren und geistlichen Herrschaften bedrücken und bis aufs Blut aussaugen lassen, sondern sie waren mit Spießen und Kolben vor Burgen, Klöster und Abteien gezogen, sie zu erstürmen und in Brandschutt zu legen. Doch war damals dieser Aufstand der »Hörigen« ziemlich rasch niedergeschlagen worden, jetzt aber brach er, zehn Jahre lang unterirdisch weitergeschwelt, fast in allen deutschen Landen plötzlich mit lodernden Flammen aus dem Boden wieder herauf, brachte Seltsames mit sich, denn sogar Edelleute und Städte schlossen sich ihm an. Die Not der unvorbereitet überraschten zahllosen Reichsgrafen, Reichsfreiherren und Äbte, selbst auch der größeren Fürsten und Bischöfe ward groß, einem Weltuntergang ähnlich, schien es alle zu bedrohen. Zum Schein Unterhandlungen anknüpfend, rüsteten die Landesherren und Reichsstädte im geheimen hastig ihre Streitkräfte gegen die siegestrunken wilden Mordbrennerhaufen, die an der Donau abwärts sich über Bayern und die österreichischen Erzherzogtümer verbreiteten, in die Alpen nach Salzburg und Tirol hineinwälzten. Im letzteren erhob der Bauernführer Jakob Geißmayer die Bundschuhfahne, durchstürmte mit ihr alle Täler und Berge der nördlichen Hälfte und rief die Insassen jeder entlegensten Almhütte zum Befreiungskampf gegen die Leibeigenschaft, die adligen Grundherrn und den Erzherzog Ferdinand zu den Waffen auf. Zwischen den Mauern Innsbrucks saß, rings von aufständischen Massen umschlossen, macht- und hilfslos die Landesregierung, zu nichts weiterem als mühevoller Verteidigung der Stadt fähig.

Um diese Zeit in einer stürmischen Augustnacht wachte auf dem Vestenstein Helena aus dem Schlaf auf. Ihr war's, ein Geräusch habe sie geweckt, doch vernahm ihr horchendes Ohr nichts mehr, die Fensterluke ihrer Kammer hatte wohl im Wind geklappert. Wieder einschlafen aber konnte sie nicht und ward zuletzt von einer Unruhe getrieben, aufzustehen und sich behutsam an die Zugangstür der Burg hinauszutasten. Da stieß ihr durch diese Zugluft entgegen, schweres Wolkendunkel bedeckte alles, doch Wetterleuchten zuckte daraus hervor und ließ sie wahrnehmen, daß jenseits des offenen Tors die Zugbrücke niedergelassen lag. Jemand mußte sie zum Hereinkommen benutzt haben, das konnte nicht ohne Wissen und Willen ihrer Schwester geschehen sein, und unwillkürlich wandte sie sich, lautlos huschend, dem Bergfried zu, von seinem Zugang auch in ihn hineinzusehen. Tote Finsternis erfüllte sein Inneres, indes ebenfalls kam ihr hier ein bläulicher Wolkenschein zur Hilfe, machte möglich, zu unterscheiden, die zum Gemach Katharinas hinanführende Hakenleiter sei nicht wie sonst in die Höhe gezogen, sondern gleich der Fallbrücke draußen bis zum Boden herabgelassen. Das ließ kaum in Zweifel, droben bei ihrer Schwester befinde sich jemand, doch wer und zu welchem Zweck wußte sie sich nicht zu deuten, war ihr im Grund auch ganz gleichgültig. Im Wind und Dunkel indes überlief's sie mit einem unheimlichen Gefühl, daß sie sich hastig nach ihrer Kammer zurücktastete und drinnen den Riegel vor die Tür schob. Nun vernahm sie nichts mehr, schlief wieder, und als der Morgen gekommen, trug sie nur noch eine verschwommene Erinnerung in sich, während der Nacht aufgestanden zu sein. Im hellen Licht war auch alles wie immer, das Burgtor geschlossen und die Fallbrücke aufgezogen, und ungewiß befragte sie die Ursel, ob die nichts gehört habe, erzählte ihr, was mit Tor und Brücke und der Hängeleiter im Bergfried gewesen sei. Doch die Alte antwortete grinsend: »Das hast du im Traum gesehn und ohn' Besinnung gewandelt; sieht man's dir auch nicht an, du bist in die Zeit gekommen, wo die Nachtmar den Dirnen auf die Brust drückt. Glaubst, der Junker Voland wär' im Wolfshemd zu uns herein, die Kai zu besuchen? Der brauchte die Brück' und Leiter nicht, könnt' als Fledermaus durch die Luft. Und wozu sollt' er's, was hätt' er mit der Kai?«

So war Katharina von ihrem Vater genannt worden und tat's die alte Ursel fort. Sie lachte zu ihren letzten Fragen, wie jemand über ein einfältiges, noch zu keinem Begreifen fähiges Kind lacht, und Helena mußte ihr recht geben, sie habe töricht etwas nur von ihr Geträumtes wirklich zu hören und sehen gemeint. Selbst hatte sie sich ja auch gefragt, wen Katharina denn bei Nacht zu sich hätte hereinlassen sollen und zu welchem Zweck, und ebenso hatt's die Ursel mit spöttischem Grinsen gesagt; nur ein ganz unsinniger Traum konnt's gewesen sein, wie er zuweilen so kam und sonderbare Bilder in der Vorstellung festhakte, daß man nachher nicht begriff, er habe sie aus nichts als Einbildung geschaffen. Trotz dieser Erkenntnis blieb von der Antwort der Alten in Helena etwa Unruhvolles zurück, daran hauptsächlich die Zeit schuld trug, die allerorten bösartige Elben, Kobolde und Wichte, in Tiergestalt verwandelte Menschen und spukende Geister von Toten umgehen ließ; unter ihnen nahm der »Höllenwolf« oder »Raffezahn« oder »Junker Voland«, als der schlimmste von allen, den obersten Rang ein. Er war der »böse Verderber«, den die geistlichen Herren drunten in den Kirchen von Andrian und Terlan den »Teufel« benannten, der in mancherlei Gestalt, oft in die eines vornehmen Junkers verkleidet, als »Hinkefuß« – denn sein linker Fuß war der eines Bockes – unablässig umsuche, wen er in seine Gewalt bringen könne. Und die Ursel hatte gesagt, er verstand's, durch die Luft zu fliegen, gegen ihn sicherte keine aufgezogene Brücke und kein Mauerwerk; Helena erinnerte sich, schon vor langer Zeit war's ihr zu Ohren gekommen, er konnte als Fliege sogar durch die kleinste Lukenritze hereinkriechen. Und wach war ihr geworden, daß sie als Kind einmal die Alte gefragt, wo ihre aus dem Hause weggeschwundene Mutter geblieben sei, und jene darauf Antwort gegeben, der Teufel habe ein Recht an sie gehabt und sie fortgeholt.

Im noch nicht siebzehnjährigen Kopf Helenas ging das um, schwächte sich wohl unter tags ab, doch war nicht auslöschbar, sondern kam bei Nacht zurück und trieb ihre Hände dazu, wenn sie draußen ein Geräusch zu hören glaubte, ihre Ohren fest zuzudrücken. So vernahm sie zwar nichts mehr wirklich, empfand indes trotzdem allnächtlich, die Fallbrücke werde jetzt wieder heruntergelassen, und lag, wechselnd heiß und kalt überlaufen, mit geschwind klopfendem Herzen, denn ihr ward's beinah gewiß, es müsse Übles auf der Burg vorgehen. Allmählich aber steigerte sich dies unheimliche Gefühl so hoch in ihr an, daß sie's einmal machte wie einer, der aus Angst, in ein reißendes Wasser zu stürzen, geradezu hineinspringt; sie stand in einer Nacht, die durch den Lukenspalt einen Mondstrahl in ihre Kammer einfallen ließ, wieder auf und schlüpfte hinaus. Da gewahrte sie in der weißen Lichthelle alles so, wie's ihr damals vor Augen gestanden, das Tor offen und die Brücke dahinter über dem Abgrund liegend. Es war also doch kein Traum gewesen, sondern jemand auf dem Vestenstein, der in jeder Nacht wiederkam, aber fliegen konnte er nicht, mußte zu Fuß über den Fallsteg gehen. Fast ohne zu wissen, was sie tat, kauerte Helena sich seitwärts vom Bergfried in schwarzem Schatten zu Boden und blieb dort unbeweglich wohl stundenlang hocken, wenigstens rückte der Mond um so viel weiter, daß sie ein paarmal, um nicht aus dem Schatten zu geraten, an der Mauer hin mitrücken mußte. Dann indes erscholl einmal im Innern des Turmes ein knarrender Ton, es kam etwas von der Hängeleiter herunter, und gleich darnach trat ein großgewachsener Mann, deutlich sichtbar werdend, in die Helle heraus. Sie ließ erkennen, daß ein schwarzer Bart sein weißfarbig von ihm abstechendes Gesicht umgab, auf dem Kopfe trug er eine enganliegende Eisenkappe und unter einem die lange Gestalt umhüllenden Überhang auch wohl ein eisernes Rüstkleid, denn ein leises Geklirr tönte davon her. Helena duckte sich noch niedriger zusammen, sie meinte, ihr Herzklopfen müsse hörbar werden; nun knatterte am Bergfried etwas, eine Fensterluke wurde geöffnet und die Stimme Katharinas sprach gedämpft herunter: »Komm gut heim ins Eulennest, Junker Stott, morgen nacht wart' ich wieder auf dich und die Brücke liegt nieder. Das Schwert besorg' ich für dich beim Platner in Bozen, dazu hab' ich's in der Truhe; keiner soll's wie du am Gurt tragen. Geh' sacht, daß du die schwarzfedrige Gans nicht aus dem Schlaf störst, sie hat schon einmal von dir geträumt; ich tu's anders, weiß und spür's, daß du leibhaftig bei mir warst. Die Ursel hört dich und zieht auf, wenn du hinaus bist.« Jetzt ging der von droben her Angesprochene, und die im Schatten Verborgene sah, daß er beim Ausschreiten den linken Fuß ein wenig nachzog; außer Zweifel war's der »Junker Voland«. Junker hatte auch ihre Schwester ihn benannt. Reglos wartete sie noch, bis ihr das Aufziehen der Brücke zu Gehör gekommen, begab sich dann geräuschlos in ihre Kammer zurück.

Am Morgen stand Helena mit einem festen Entschluß auf, sie wolle keine Angstnacht mehr auf dem Vestenstein zubringen. Als sie am Mittagstisch mit der Schwester zusammentraf, sah die ihrem Gesicht etwas Verstörtes an und richtete ungewöhnlicherweise ein paar Worte an sie: »Hat der Alp dich heut' nacht gedrückt? Ich glaube, du schläfst in deiner Kammer nicht richtig, und habe der Ursel geheißen, dein Bett in die Erkerstube zu schaffen, wo immer mein Vater geschlafen.« Eine überraschende Fürsorge der Sprecherin gab sich darin kund, deren Gesicht von einer vollroten Farbe strotzte, so daß die Unschönheit seiner Züge heut von' ihr etwas verdeckt ward. Helena erwiderte: »Bin ich dir nicht weit genug vom Turm weg und störe dich bei Nacht? Gewiß, das will ich nicht mehr.« Doch abbrechend setzte sie rasch hinzu: »Aber warum sagst du dein Vater, nicht unser?« – »Weil er meiner war, nicht deiner; mit dir hatte er nichts zu tun.« – Das hörte die Jüngere zum erstenmal, verstand's nicht und antwortete: »Wenn er etwas mitbrachte, gab er's freilich immer dir, und ich bekam nichts.« – »Er wußt's gut, warum, du hattest ihm nicht sein Haar, seine Augen und was sonst an ihm war, mitgebracht, da gab er dir auch nichts.«

Aus den Lidern Katharinas glimmerte hervor, sie habe außer der Haar- und Augenfarbe noch etwas von ihrem Vater mitbekommen, das er zwar stets schweigsam im Innern verborgen hatte. Bei ihr aber brach sein verschwiegener Haß heraus, als Erbteil von ihm setzte sie den lautlosen Kampf, den er gegen seine Frau geführt, gegen die Tochter derselben fort; zum erstenmal war's ihr unverhohlen über die Lippen geraten. Doch die andere begriff immer noch nichts davon und sprach zurück: »Was liegt denn daran, wie man aussieht, und könnt' ich für mein Gesicht? Das gab doch dem Vater kein Recht dazu, aber unsere Mutter hat mich dafür mehr lieb gehabt.«

Jetzt fuhr der Schwester höhnisch heraus: »Willst du von Recht sprechen, die keines hat? Gar keins und an nichts! Du bist eine Gans, sieh deine schwarzen Federn im Wasser an, die sagen's dir. Du hast sie von einem welschen Hahn drüben hinter Gantkofel, die Ursel weiß auch, wer's gewesen. Aber ich stamm' von meinem Vater her, und deine Mutter ging mich nichts an. Von der hab' ich nichts; alles, was Menschen gefällt, von ihm, Haar, Augen und Gesicht. Pfui über dich! Verkriech' dich in ein Unkenloch, daß keiner dich sieht!«

Sehr selbstgewiß, zuversichtlich war's gesprochen, aber auch recht unvorsichtig, denn einen Zuhörer, der ihre plumpe Häßlichkeit mit den feinen Zügen Helenas vergleichen gekonnt, hätt's zum Lachen aufreizen müssen. Und auch der letzteren flog's auch nun halb unbewußt von den Lippen, zum erstenmal, daß sie ihrer Schwester eine derartige Antwort zu entgegnen wagte: »Ich will dem Hinkefuß ja nicht gefallen. Doch tauschen möcht' ich mit dir auch nicht, mit deinem Mund. Bei unserm Vater kam's nicht zutag; ich glaub', er hatte wohl den gleichen, nur hielt's der Bart zugedeckt. Aber deiner sieht aus, als könntst du von der Maultasche herstammen, wie's die Leute reden, daß sie's so gehabt hat und ihr darum den Namen geben.«

Das war von ihr gleicherweise unvorsichtig gesagt, und sie erschrak vor dem Blick, der ihr aus den wässerigen Augen Katharinas ins Gesicht schoß. Die stieß nur kurz dazu durch die Zähne: »Da trüg' ich hochedles Blut in mir fort«, sprang vom Tisch auf und verschwand aus dem Gemach. Helena fühlte, daß die Schwester ihr eben unverhohlen tödliche Feindschaft kundgetan habe; das befestigte den Vorsatz, mit dem sie am Morgen aufgewacht war, noch mehr, denn bei dem Gedanken, noch in der Burg zu sein, wenn der nächtliche Besucher Katharinas wiederkomme, lief's ihr grausig über den Rücken. Aber wie eine Taube, die von der Furcht klug gemacht wird, duckte sie sich still in eine Ecke, daß von ihrem Vorhaben nichts merkbar ward, bis der spätere Nachmittag herangekommen. Da trat sie in die Küche, nahm das Holzschaff, drin die Ursel täglich aus Gaid die Milch holte und sagte, sie wolle selbst heut' dazu hinübergehen. So ließ die Alte den Fallsteg herunter, und die Junge schritt eilig drüber weg nach dem Bergrücken. Doch als sie den Waldbusch erreicht, bog sie nicht nach links zum Weiler um, sondern ging, daß Gefäß von sich werfend, zur Rechten am Felshang abwärts. Wohin sie solle und wolle, wußte sie nicht, nur irgendwo zu Menschen, denn die hinter ihr auf dem Vestenstein waren keine Menschen, auch die Ursel nicht, standen mit einem bösen Unhold im Verband. Ihre Füße hatten keinen Weg noch Steig unter sich, und gefährlich schossen oft Steinwände senkrecht vor ihr ab; aber sie war leichtfüßig und behend, schwang sich manchmal fast wie ein Vogel weiter oder klammerte sich an Gezweig und Wurzeln, daran niederzuklettern. Ein paarmal ging's wohl um ihr Leben. Doch nicht so schlimm, als wenn sie die Nacht droben geblieben wäre, denn dann wußte sie sicher, hätte sie den Morgen nicht mehr wiedergesehen. Sie besaß dort kein Recht an etwas, weil ihr Haar dunkel und ihre Augen braun waren, und der letzte Blick Katharinas hatte gesprochen, sie habe auch kein Recht, länger zu leben. Hier bangte ihr vor dem Tode durch einen Absturz nicht, aber vor dem in ihrer Kammer schüttelte es sie mit Grausen. Sie fühlte, niemand hätte ihr drin etwas anzutun gebraucht, der Atem wäre ihr vor unheimlicher Angst von selbst stillgestanden.

Doch unverletzt kam sie zum Etschtal hinunter, wußte im ersten Augenblick nicht wo, bis sie erkannte, der Gaidener Bach schäume sein Wasser nah vor ihr aus der dunklen Schlucht heraus, und ein alter viereckiger Bergfried mit ziemlich hoher Umfassungsmauer drumher sei das, wovon sie gehört, daß es »Wolfsturm« genannt werde. Nach rückwärts sah die senkrecht aus der Kluft aufsteigende Felsnadel des Vestensteins drauf nieder; vor dem zerscharteten Zugang des Gemäuers stand der Andrianer Bauer, dem es von Vorfahren her als Besitz zugefallen war, im Gespräch mit einem anderen, der, ein kurzes Schwert am Gurt tragend, beim Vorüberkommen neben ihm angehalten hatte. Das waren ein paar Menschen, und das Mädchen ging auf sie zu und fragte den älteren, ob ihm der Turm angehöre. Da er mit dem grauen Kopf nickte, fuhr sie rasch fort, ob er's ihr erlaube, bei Nacht drin zu schlafen, sie wolle ihm gern dafür am Tag Magddienst tun. Dazu aber schüttelte der Bauer jetzt verwundert den Kopf und versetzte danach, er wohne nicht im Wolfsturm, habe sein Haus drüben überm Bach in Andrian und darin keine Magd nötig als seine Tochter. Doch nun fiel der andere neben ihm ein: »Wisset Ihr den Steig zum Vestenstein hinauf nicht, Jungfrau, oder scheuet Euch, ihn allein zu gehen, da will ich Euch geleiten.« Aus den Worten ging hervor, Helena mußte ihm von Angesicht bekannt sein, und ihr geriet unwillkürlich vom Mund: »Woher wißt Ihr, daß ich von dort bin? Ich habe Euch doch noch niemals gesehen.« Ein noch jüngerer, schlank hochwüchsiger Mann, wohl um die Dreißig, war's mit offenem Gesicht und Vertrauen weckenden ruhigfreundlichen Augen; er antwortete: »Es ist ein anderes, ob ich Euch sehe oder Ihr mich. Ich nahm Euch einmal über den Absturz hin gewahr, als ich nach Gaid wollte; da standet Ihr neben Eurer Schwester unterm Tor und waret sehr verschieden an Aussehen von ihr, daß man euch kaum für Schwestern halten mochte.« Darüber erschrak Helena, und unbedacht entfuhr's ihr: »Wenn's wieder so geschah, da verratet Ihr nicht, daß Ihr mich hier angetroffen habt.« Das ließ über die Züge des Fremden einen Ausdruck gehen, der sich aus einem Staunen wie zu dem eines aufwachenden Verständnisses umwandelte, er schwieg einen Augenblick, eh' er erwiderte: Mich führt nichts nach dem Vestenstein. So gedenkt Ihr heut abend nicht mehr zu ihm hinauf, Jungfrau?« Im Gesicht der Befragten stand deutlich ein »Nein« zu lesen, und er fügte nach: »Aber hier könnt Ihr nicht bleiben, der Wolfsturm ist nicht bewohnt. Wenn ihr euch nicht scheut, noch zwei Stunden Wegs –«

Doch beim letzten Wort stockte er und brach ab, als ob ihn selbst eine Scheu befalle, auszusprechen, was ihm auf der Zunge gelegen. Statt dessen redete er, sich abkehrend, unvernehmbar sacht zu dem Bauern, dessen Kopf willfährig nickte; dann wandte er das Gesicht wieder gegen Helena und sagte: »Es soll geschehen, Jungfrau, wie Ihr's wollt; morgen früh könnt Ihr im Sonnenlicht mit Euch ratschlagen, wohin Ihr zu gehen gedenkt. Ich muß jetzt meinen Weg fortsetzen, damit ich vor dem Nachtdunkel heimkomme.«

Er neigte seinen Kopf dabei leicht zu einem Gruße, der nicht von bäurischer Art war, schritt rasch der Bergwand zu, von der das Mädchen herabgeklettert, und stieg, ein wenig weiter talauf, an ihr empor, augenscheinlich auf einem wohl steilen, doch gangbar nordwärts zur Höhe des Mittelgebirges hinanführenden Pfade. Der Bauer setzte nun gleichfalls den Fuß vor, auf einer Steinfurt über den Bach nach Andrian davonzugehen, aber Helena hielt ihn mit der Frage an, wer der andere gewesen sei. Darauf ward ihr Antwort: »Der Utz war's, Ulbert Siekmoser, der ober Nals die Burg Payrsberg für die Herren auf Boymont hütet. Das tut not, denn dem Teitenhofener auf Kasatsch traun sie nicht über den Weg. Er selber ist auch ein Herr, ob er zwar nicht anders heißt, als ich. Aber wir sind's nicht geblieben, die Maultasch oder der mit der leeren Tasche hat's wohl so gemacht. Seid Ihr vom Vestenstein? Da haben auch lang arge Leut' gesessen, so wie der Stott Teitenhofen, und der letzte hat seine Frau umgebracht. Aber Ihr seht nicht schlimm aus; wartet hier, meine Tochter kommt zu Euch herüber, wie's der Utz mich geheißen.«

Der Alte kreuzte jetzt über den Bach, und Helena setzte sich auf einen Stein am Zugang zum Wolfsturm. Drüben glänzten die hohen Steinwände über Terlan noch in der Abendsonne; wenn sie den Kopf umwandte, stieg rückwärts hinter ihr die Felsnadel aus der düsteren Kluft empor, doch das Gemäuer darauf war, von einem Vorsprung des Waldhangs verdeckt, nicht sichtbar. Wie ein junger Vogel, der von da droben aus dem Nest heruntergefallen, saß sie; in ihrem Kopfe ging's etwas verworren zu, aber nur wunderlich, nicht unheimlich. Trotz der Einsamkeit um ihren Sitz her fühlte sie sich in einer Geborgenheit, hätte um nichts wieder auf dem Vestenstein sein wollen. Einiges von dem, was zu ihr gesprochen worden, hatte sie begriffen, doch das meiste nicht; sonderbar lag ihr der Name »Stott Teitenhofen« im Ohr. So, als »Junker Stott« hatte Katharina in der Nacht vom Bergfried herunter ihren davongehenden Besucher angeredet, und so kürzte man im Volk oft, wie auch mit Stoffel, den Namen Christoph ab. War er denn nicht der »Junker Voland«? Freilich, durch die Luft zu fliegen ward ihm nicht möglich. Aber wenn er ein Mensch wie andere war, weshalb kam er dann bei Nacht über die heruntergelassene Brücke in die Burg? Der Bauer hatte gesagt, dem traue man nicht über den Weg und danach sah er auch aus. Warum traute Katharina ihm denn? Es war doch wohl nicht der Stott Teitenhofen, sondern ein anderer.

Hin und her gingen die undeutlichen Gedanken durch den Kopf Helenas und mählich schwand die Sonne vom Terlaner Felskamm ab. Dagegen machte sich ihr etwas bisher nur dumpf Empfundenes nachdrücklicher bemerkbar; sie hatte den ganzen Tag fast nichts an Nahrung zu sich genommen, und es hungerte und durstete sie. Da kam von Andrian her über die Steinfurt eine Bauerndirne auf sie zu, allerlei Sachen auf den Schultern und in den Händen tragend; kräftig gewachsen und blondköpfig, konnte sie an Katharina erinnern, doch ihr Mund war keine Maultasche und in ihren Augen lag nichts feindselig Böses. Nur neugierig-verwundert sah sie die Unbekannte an und sagte: »Der Vater hat mich geheißen, Euch das zu bringen und die Nacht bei Euch im Wolfsturm zu bleiben.« Sie lud ein paar härene Decken ab und stellte einen Milchkrug und Brot vor die Sitzende hin, der als Erklärung dafür aufging, ihr das zu schicken, habe der Ulbert Siekmoser den Bauern beauftragt. Dankbar griff sie mit Begehrlichkeit nach den ihr nottuenden Stärkungsmitteln, trank und aß, und es mundete ihr besser, als jemals etwas bei den gemeinsamen Mahlzeiten mit ihrer Schwester. Die junge Dirne begab sich in den Turm hinein, und nach einer Weile ihr folgend, sah Helena sie dort mit den Decken und Heu, das im Innern aufgestaut lag, eine Lagerstatt herrichten. Ein im ganzen recht wohlgebildetes Mädchen war's, das, wie's der Zuschauenden ins Gedächtnis kam, auch den Namen Siekmoser führen mußte, aber durch eine grobe Art ihrer Züge nicht in Zweifel darüber beließ, es sei eine Bauerntochter. So war sie von gleicher Abkunft mit dem, der ebenso hieß, und doch so verschieden von ihm; wie das geschehen konnte, fiel nicht leicht zu begreifen. Freilich, der Alte hatte gesagt, der andere wäre ein Herr geblieben; das sah man ihm trotz seiner einfachen Kleidung auch an. Es mußte wohl so vorkommen können, sogar bei Schwestern, denn Verschiedeneres an Aussehen als Katharina und sie ließ sich auch kaum denken.

Doch dachte Helena nicht weiter darüber nach, die Augen waren ihr sehr müde geworden, sie befragte das Mädchen, wie es heiße, und erwiderte auf die Antwort: »Sefferl Siekmoser« nur noch: »So schlaf gut, Sefferl«; danach streckte sie sich auf die Lagerstatt und fiel rasch in Schlaf. Das eingebrochene Dunkel deckte sich über sie, wohl manche Stunden lang, aber dann erwachte sie doch einmal. Wovon, kam ihr nicht gleich zum Bewußtsein. Ein Ton war's wohl gewesen, und nun erkannte sie's auch; unweit von ihr lag Josefa Siekmoser laut schnarchend auf dem Heu.

Daß sie die nicht allein hörte, sondern auch sah, hatte Seltsames an sich, doch nur kurz, denn ihr ward's schnell dadurch verständlich, eine Helligkeit falle in den Wolfsturm herein. Der Mond war wie in der letzten Nacht wieder gekommen und trieb sie unwillkürlich an, aufzustehen und vor den Zugang des alten Bauwerks hinauszutreten. Wie gestern auch lag das weiße Licht vor ihr und zeigte ihr ebenso wieder in einiger Entfernung draußen eine dunkle Mannesgestalt, die langsam neben dem Bach hin und her schritt. Einen Augenblick schaute Helena nach der hinüber, kehrte dann in den Turm zurück und legte sich wieder auf ihr Lager. Ein Gefühl überkam sie, diesmal habe ihr's wohl wirklich nur geträumt, aufgestanden zu sein und aus dem Schatten hervor ins Mondlicht hinausgesehen zu haben. Doch heut war's ihr gar nicht unheimlich dabei geworden; sie schlief nach ein paar ruhigen Atemzügen aufs neue ein und dann stellte ihr ein Traumbild abermals einen schlank-hochwüchsigen Mann vor Augen, der draußen die Nacht hindurch vor dem Wolfsturm auf und nieder wanderte.


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