Wilhelm Jensen
Auf dem Vestenstein
Wilhelm Jensen

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Erstes Kapitel.

Fuchs und Wolf konnten an dem fast rundum senkrechten Absturz des Felspfeilers nicht hinauf, höchstens mocht es da und dort Luchs und Wildkatze gelingen. Aber die versuchten's nicht und hatten's wohl nie getan, denn für ihr Gelüst gab es droben nichts zu holen. Von Menschen, die tollkühn ihren Hals daran gewagt, berichtete nichts; war's je geschehen, so wußte vermutlich nur das weißüberschäumte Steingeblöck tief unten im Gaidener Bach davon, auf das die Sinnlosen heruntergeschlagen, um ungesehen und ungehört in der wilden Schlucht liegen zu bleiben, bis einmal im Frühling Wasser der Schneeschmelze das von ihren Gebeinen Übriggebliebene in die strudelnde Etsch davongetragen. Vorbei neben dem am Ausgang der dunklen Felskluft, den Häusern des Dorfes Andrian unweit gegenüber, linksseitig vom Bach nur wenig über ihr erhöht aufsteigenden alten Gemäuer, das von alters den Namen Wolfsturm trug und mit seinem verödeten Innenraum einem Bauern des Dorfes nur gelegentlich zur Nutzung diente; selbst wüßte er nicht, wann und wie ein Vorfahr von ihm einmal zu dem wertlosen Besitz geraten sei. Jener wohl schon seit unvordenklicher Zeit an der Südseite von der Wand des Gebirgsstockes abgelöste Pfeiler war eigentlich nur eine Felsnadel, über deren Spitze sich ostwärts nächstbenachbart ein busch- und baumbedeckter Bergrücken weiter aufwölbte; aus Westen her sah der breitgestreckt hochmächtige »Gantkofel« seltsam abgestaffelt und -gestuft, dicht und drohend nieder, hielt alles unter ihm Liegende gleichsam mit ungeheuren Steinfittichen umklaftert und schloß nach der letzteren Richtung den Halbkreis mit einer unübersteiglichen Schranke ab. Auf seinem Grat und an seinen Schroffen hausten allein Gemsen, Geier und Adler, für alles sonstige Leben ragte er einem unnehmbaren Throne gleich über der zerklüfteten Berg- und Waldwildnis, in der sich nur eine einzige Menschenwohnstätte, die kümmerliche Ansiedlung Gaid mit einigen weit auseinander gestreuten Hütten befand. Am Gipfelkamm des Gantkofels bemessen, lagen sie tief unten, doch für den Ausblick aus der düsteren Schlucht des nach ihnen seinen Namen führenden Gaidener Baches hoch oben; zahlreiche Almweiler hatten mutmaßlich schon in frühen Mittelaltertagen dort zur Niederlassung von Sennhirten verlockt und allmählich zur Begründung eines Weilers im einsamen Gebirg Anlaß gegeben. Ein zur Not gangbarer Pfad führte von ihm nordwärts nach dem stattlichen Dorfe Nals im Etschtal hinüber und hinunter; gen Osten blickten ein paar der ärmlichen Häuser von Gaid nach der abgesprengten Felsnadel hin, doch von ihr durch eine breite, bis zum Bachgrund niederfallende Schrunde getrennt. Alles ringsum trug das Gepräge unwegsam, wildzerrissener Alpenwelt.

Die Nadel aber erwies in der Nähe ihr Oberende nicht als spitz auslaufend, sondern als eine kleine Felsplatte, immerhin jedoch von solchem Umfange, daß ein menschliches Bauwerk auf ihr Platz gefunden. Wann und von wem dies hergestellt worden, wußte niemand mehr; eine Ritterburg war's oder war's eigentlich gewesen, die den gering beschränkten Raum nach jeder Richtung wie bis auf Zollbreite auszunutzen verstanden. Ihre Umfassungsmauern erscheinen als eine Fortsetzung der Felsschroffen, aus diesen aufgewachsen, nur wenige und zumeist winzige Wohngelasse im Innern umgebend; an der Nordseite führte über den schwindelnden Abgrund eine schmale Zugbrücke nach dem höheren, waldigen Bergrücken hinüber. In die Weite dagegen dehnte sich der Blick nach Osten aufs breite Etschtal, die zerstreuten Häusergruppen von Turilan und Siebeneich nieder mit den jenseitigen hohen Burgwänden darüber; auf ihnen vorgelagerten Anhöhen wurden die Burgen Neuhaus und Greifenstein, besonders im auffallenden Sonnenlicht, deutlich erkennbar. Dann folgten noch mehr nach rechts im weiten Kesselgrunde die alte häuserreiche Stadt Bozen, von den phantastisch-gigantischen Zacken, Zinnen und Türmen der Schlern- und Rosengartenkette überragt und umrahmt. Dagegen waren, von einem Vorsprung des Steinbergs verdeckt, die zunächst belegenen Burgen des Eppaner Geländes, Hoheneppan und Boymont, sowie die uralte gewaltige Feste Formigar, die ihren Namen seit einem halben Jahrhundert in Sigmundskron umgewandelt, nicht sichtbar; der Steinberg schied sie mit unwirtsamem Dickicht von der Felsennadel über dem Gaidener Bache ab.

Die auf dieser errichtete Burg hieß »der Vestenstein«; auch der Ursprung ihrer Benennung war nicht mehr bekannt, ob der Erbauer sie damit als den »festen Stein« bezeichnen gewollt oder nach uns vielfach bräuchlich gewesener Weise sich eine Zurufs-Namenbildung »Faß-den-Stein!« darunter verberge. Am meisten entsprach's der Wahrscheinlichkeit, daß die Gründung der kleinen Burg von dem Grafen von Hoheneppan herstamme, dem vormals mächtigsten Geschlecht in Tirol, bis es auf Gebot des Hohenstaufenkaisers Friedrich Barbarossa durch den Herzog des Bayerlandes Heinrich den Löwen aus seiner hochfahrend stolzen Anmaßung, die Oberherrschaft über allen auszuüben, herabgestürzt worden. Wenigstens hatten in den letzten Jahrhunderten nachweislich Eppansche Lehensträger den Vestenstein im Besitz gehabt, die Edlen von Villanders, dann die von Sporenberg, deren letzter ihn an den Erzherzog Sigismund verkauft. Von dem waren im Jahre 1500 Paul von Lichtenstein und Cyprian von Särntein gemeinsam belehnt worden. Im tirolischen Lande gab es von alters fast unzählbare Geschlechter. Manche mit wunderlichen Namen, die sich zu den Edlen zählten und als solche anerkannt wurden, ob sie vielfach auch kaum anders als Bauern zwischen verfallenem Gemäuer in Dürftigkeit hausten. Zumal das Etschtal von Meran bis Bozen bildete ein dicht von »Adelssitzen« bedecktes »Ritterland«, deren Insassen nicht selten ebenso absonderlicher und fragwürdiger Art waren, als ihre Schlupfwinkel zwischen halsbrecherischem Gestein und Gestrüpp.

Außer Frage aber stand, daß der Vestenstein schon manches Menschenalter lang eine Raubburg, und zwar schlimmster Gattung gewesen sei. Über die Zugbrücke waren ihre wechselnden Inhaber gleicherweise aus dem Felshorst wie niederstoßende Geier auf draußen schutzlos vorbeiziehende Handelbetreibende hinuntergefahren, mußten Weg- und Stegmöglichkeit bei Tag und Nacht an den Abstürzen gekannt haben, um ihre Beute wieder hinaufzubringen und droben oftmals mitgeschleppte Kaufleute zur Erpressung schwerer Lösegelder in ein Aushungerungsloch der Felsschrunden unter ihren Gemächern hineinzuwerfen. Klüglich vergriffen sie sich nicht an Angehörigen der größeren Burgherren in der Nachbarschaft und wurden deshalb von diesen, die obendrein bei günstigen Gelegenheiten zumeist dem nämlichen Gewerbe oblagen, in ihrem Betrieb ungestört gelassen. Ausübung eines adligen Berufes und Rechtes war's, dem »edlen Waidwerk« gleichstehend.

Wie's dann einmal geschehen ist, berichtet keine Niederschrift, doch muß es sich nicht lange nach jenem Jahre 1500 zugetragen haben; vermutlich durch Bürger der Stadt Bozen, die endlich der beständigen Schädigung ihres Handels an der Etsch aufwärts überdrüssig geworden und eines Tags mit Hakenbüchsen und sonstigen Erfordernissen ins Mittelgebirge unterm Gantkofel ausgezogen, um das Raubnest von der Felsnadel wegzutilgen. Jedenfalls gelang's denjenigen, die sich das Verdienst daran erworben hatten, denn im Jahre 1503 redet gelegentlich eine Urkunde von dem »verbrannten Burgstall Vestenstein«. Seine Bewohner waren verschwunden, lagen wahrscheinlich, da sie nicht wie Geier Flügel ausspannen gekonnt, drunten zwischen dem Schaumgeblöck des Gaidener Baches; die Zeit war nicht danach angetan, darüber weitere Erkundigung einzuziehen. Doch hatten sich Trümmerreste des alten Bauwerks noch ziemlich erhalten, der, ob auch nur niedrige, kräftige viereckige Bergfried und mancherlei sonstiges Mauerwerk; romanische Fensterbogen und Türstöcke darin aus Granit und Porphyr legten Zeugnis ab, die kleine Burg sei dauerhaft und sogar mit einem gewissen Schmuckaufwand erbaut gewesen; auch die runde Zisterne zeigte sich, mit Wasser gefüllt, unversehrt, aber das Holzwerk war überall von gefräßigen Flammen weggezehrt oder schwarz verkohlt worden. Einen vorzüglichen Aufenthaltsplatz boten die Überreste so für Geschöpfe, welche der gleichfalls verbrannten Zugbrücke nicht zum Hingelangen bedurften, für Falken, Habichte und Eulen.

Aber falls solche sich dort angesiedelt gehabt, geschah`s nur vorübergehend, da binnen nicht langer Frist danach wieder ein ungeflügelter Ankömmling von den Überbleibseln des Vestensteins, und zwar auf rechtsgültige Weise, Besitz nahm. Freilich würde es ihm wohl kaum jemand streitig gemacht haben, wenn er sie sich auf eigne Faust zugeeignet hätte, doch zog er vor, für Erlegung eines geringfügigen Kaufschillings vom derzeitigen Landesherrn, Kaiser Maximilian dem Ersten, sich damit belehnen und die Verstattung zum Wiederaufbau der Burg zuteilen zu lassen. Vom letzteren machte er zwar nur in äußerst bescheidenem Maße Gebrauch, beschränkte sich eigentlich darauf, dem Himmel und den Wolken durch neue Auflagerung von Gebälk auf die Mauern den Einblick ins Innere wieder zuzudecken und aus diesem den Brandschutt herauszubefördern. Ein paar Knechte leisteten ihm dazu Beihilfe, fällten in einem jenseits der abtrennenden Schlucht mitangekauften Waldstück Bäume zur Gewinnung des Holzes für die Herstellung der Dächer, und die Zugbrücke schwang sich an zwei Tannenstämmen von gewaltiger Länge wieder über den Abgrund; solch gewichtige Schutzvorkehrung zweckentsprechend zu bewerkstelligen, waren die Söhne der Zeit wohlbewandert. Der neue Inhaber des Vestensteins hieß Hans Übelhör und gehörte trotz dem wenig vornehmen Klang des Namens einem der edlen Geschlechter des Landes an; vielleicht war einer seiner Vorfahren einmal wegen mangelnden Gehorsams so mit einem Übernamen benannt worden und dieser den Nachkommen verblieben. Wie Hans Übelhör in die notdürftigst ausgebesserte Ruine einzog, mochte er am Ende der Dreißiger stehen, brachte eine wohl um mehr als ein Jahrzehnt jüngere, sehr schöne Frau, des Rufnamens Maddlena und zwei erst seit ein paar Jahren auf den Füßen herumlaufende Töchter Katharina und Helena mit sich. Blondhaarig und helläugig, trug er ein entschiedenes Gepräge deutscher Abkunft, während die Frau mit schwarzem Haar und braunen Augensternen mutmaßlich auf Herstammung aus südtirolisch-italienischem oder aus altladinischem Volksstamme hinwies; von den beiden Schwestern war die erstere dem Vater, die zweite der Mutter nachgeartet. Diese machte in gewisser Weise den Eindruck eines eigentümlichen Doppelwesens, in dem sich etwas scheu Schweigsames mit einer darunter verborgenen Lebhaftigkeit zusammenmischte; selbst sprach sie ihren Gatten fast niemals an, antwortete ihm nur auf sein Befragen und Anweisen. Wenn er aber abwesend war, sang sie manchmal halblaut ein italienisches Volkslied, um das die Katharina sich nie bekümmerte, dagegen hörte die kleinere Helena stets, von ihrem Betreiben ablassend, aufmerksam darauf hin; doch sobald der Niederfall der Zugbrücke draußen erklang, verstummte der leise Gesang sofort. Die Hausgenossen auf dem Vestenstein lebten nicht in dürftigsten Umständen, zum mindesten waren Mittel zur Befriedigung des Hungers vorhanden; meistens zwar beschränkte ihre Nahrung sich auf Dinge, die sie unweither aus den Hütten des Weilers Gaid beziehen konnten, Milch, Käse und Brot. Indes brachte Hans Übelhör dazu öfter eine Jagdbeute aus dem Gebirge heim, stieg dann und wann auch nach Tals und Terlan hinunter, von dortigen Händlern Gewürze und sonstige Küchenbedürfnisse heraufzuholen. Gewöhnlich kehrte er dann auch mit irgendwelchen kleinen Leckerbissen an Früchten oder süßem Backwerk für den Kindermund zurück, doch hauptsächlich oder beinah ausschließlich für seine Tochter Katharina, während die kleine Helena aus seiner Hand kaum jemals etwas davon zugeteilt bekam. Im Kellerloch lagerten ihm ständig einige Fässer Terlaner Weins, dazu mußten die Mittel ebenfalls ausreichen. Der lang mit Glutsonne über dem Etschland brütende Sommer erzeugte nicht nur drunten im Tal, auch auf der Felsnadel Durst, und während der winterlichen Jahreszeit tat das lange Nachtdunkel ein gleiches. Wenigstens verbrachte Hans Übelhör auch dann die Abendstunden gemeiniglich bei der Weinkanne, allein in einem der kleinen Gelasse sitzend; die Zeit gab solchem, mit vorgeschobenem Erker versehenen Gemach den Namen »Pechnase«, weil sein Fensterausbau die Ermöglichung des Hinunterschüttens von siedendem Pech auf die Köpfe feindlicher Angreifer bezweckte. Doch war der jetzige Burgherr kein Trunksüchtiger, setzte nur hin und wieder den Weinbecher kurz an die bärtigen, seinen Mund unerkennbar lassenden Lippen und sah dann auf das Wechselspiel von Licht und Schatten, das ein in altem rostigem Eisengriff an der Wand steckender Kienspan um ihn her warf. Draußen summte und winselte oder fauchte und heulte der Wind, stieß durch Spalten und Fugen der klappernden Holzluke des alten Bogenfensters, ließ die züngelnde Flamme unruhig flackern. Kalt drang die Luft vom verschneiten Gebirge in den engen Raum herein, sichtlich überlief's den Insassen der Kammer manchmal mit einem frostigen Gefühl; dann griff er nach dem Becher, sich durch einen Zug daraus zu wärmen. Wenn der Span zu erlöschen begann, entzündete er zuweilen am verglimmenden Rest einen neuen, meistens indes nicht, sondern blieb noch eine Zeitlang im Dunkel sitzen, bis er aufstand, die Lücke öffnete und noch einen Blick in die Nacht hinauswarf, die das Etschtal drunten mit toter Finsternis überdeckte. Sie durchglomm nur an zwei Stellen noch ein Lichtschein, der eine fiel aus der Burg Neuhaus her, nah über Terlan, der andere kam weiter nach rechts höher herab von der uneinnehmbar auf jähen Felswänden thronenden Burg Greifenstein. Dann streckte Hans Übelhör sich auf seine niedrige, bäurisch einfache Lagerstätte und zog ein schwarzzottiges Fell über sich. Der Bär hauste noch vielfach in den Gebirgswäldern; er hatte selbst einen erlegt und sich aus seinem Pelz eine wärmende Decke herrichten lassen.


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