Jean Paul
Titan
Jean Paul

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130. Zykel

Die meisten Zuschauer waren anfangs mehr der Zuschauer und Spieler wegen als des Spieles halber gekommen; aber bald wurden sie vom Geheimnis und der seltsamen Bühne selber angezogen. Die Bühne war auf der sogenannten Schlummerinsel des Prinzengartens, welche mit einer wilden dicken Vermischung von Blumen, Gebüschen und hohen Bäumen zugedeckt war. Ihre Morgenseite zeigte einen offnen freien Vorgrund, auf welchem gespielt werden sollte, mit einer weißen Sphinx auf einem leeren Grabmal tiefer im Grün. Die Kulissen waren die dunkeln Laubpartien; Parterre und Logen das jenseitige Ufer, das von der Insel sich durch einen See abtrennte, der so breit war als ein mäßiges Schiff. An zwei Bäumen der beiden Ufer gebunden, hing in die Mitte des Sees wie eine Laterne der Käfig der Dohle oder des Chors herab, um ihre dumpfe Stimme den Zuschauern zu nähern. »Ich bin in der Tat neugierig,« (sagte der Ritter zu seinem Sohne) »woher er das Tragische nehmen wird.« – »Doch!« (sagte Roquairol, der bisher schweigend und unruhig und auf den Boden schauend auf- und abgegangen war) »Nur muß ich allgemein um Vergebung des Aufschubs ersuchen. Da ich im fünften Akte den Mond anrede, so kann ich den wahren sehr gut brauchen, wenn ich nur gerade so anfange, daß sein Aufgang mit der letzten Szene zusammentrifft.«

Endlich stieg er blaß werdend in den Charons-Nachen, wie er sagte, und fuhr allein hinüber. Dann schifften die übrigen Spieler nacheinander fort. Alle verloren sich hinter die Bäume. Nun hob sich hinten in den zugelaubten Abend-Ländern der Insel die ewige Ouvertüre aus Mozarts Don Juan wie ein unsichtbares Geisterreich langsam und groß in die Lüfte.

»Diablesse!« rief darauf der Bruder des Ritters zur Dohle und klatschte dabei zum Zeichen in die Hände.

»Macht auf den Sarg« (begann dumpf das Tier, begleitet von einzelnen lugubern Tönen des Orchesters) »auf dem Gottesacker und zeigt zum letzten Male die Leichenbrust und Sein trocknes Augenlid, und dann drückt ihn zu auf immer.«

Jetzt traten Lilia (Chariton) und Carlos (Dian) heraus, zwei Liebende noch in der ersten Zeit der ersten Liebe – noch kein trüber Tränenregen verschwemmte den goldnen Morgentau – sie sind sich so treu. Lilia freuet sich mit ihm, daß jetzt ihr Bruder Hiort von seinen Reisen kommt und seinen Jugendfreund Carlos als ihren ewigen findet. »Vielleicht ist er auch recht glücklich«, sagte Lilia. »O so gewiß,« (sagte Carlos) »er ist ja sonst alles.« Zuweilen schwiegen beide im frohen Anblicken, dann gingen Töne aus dem verhüllten Abend der Insel und trugen die stumme Wonne in den Äther und zeigten sie ihnen schwebend und verklärt. Unter den Zuschauern breitete sich eine süße Teilnahme an Dians und Charitons zartem, aber mit südlicher Glut verwebtem Nachspielen ihrer schönen Wirklichkeit aus; man hörte und sah die Griechen. – Auf einmal entfloh Lilia hinter die Blumen-Gebüsche; denn ihr Feind Salera, Carlos' Vater, kam, von Bouverot gespielt.

Salera verkündigte dem Sohne zürnend die Ankunft seiner Braut Athenais. Carlos offenbarte ihm jetzt das Geheimnis seiner frühern Liebe und zeigte sich gewaffnet gegen eine ganze Zukunft. Salera rief erbittert: »Wäre Sie doch nicht schön, damit ich dich zwänge und strafte! Aber du wirst Sie sehen und mir gehorchen, und ich werde dich doch hassen.« Carlos versetzte: »Vater, ich habe schon Lilia gesehen.« – Salera ging mit zornigen Wiederholungen ab, und Carlos wünschte jetzt noch heftiger Hiorts Wiederkehr, um mit ihm die Schwester leichter zu entführen durch dessen Bereden und Begleiten zugleich. Hier schloß sich der erste Akt.

Der Bruder des Ritters rief zur Dohle: »Diablesse!« und scharrte zum Zeichen mit dem Fuße.

»Erscheine, blasser Mann,« (sprach das Tier) »die Uhr wiegt die Zeit, Mensch des Jammers, lande auf der stillen Insel an!«

Hiort trat blaß beschminkt hervor mit offner Brust, blickte das Grabmal an und sagte aus innerster Seele: »Endlich!« Die Musik spielte einen Tanz. »Jawohl Schlummerinsel – unser Tag endigt mit Schlaf«, setzt' er dazu. Jetzt kam sein Carlos: »Hiort, bist du tot?« rief er im Schrecken über die Leiche. »Ich bin nur bleich«, sagt' er. »O wie kommst du so aus der schönen bunten Erde zurück?« sagte Carlos. »Ausgeschöpft, Karl – mit totgebornen Hoffnungen – meine Gegenwart ist von der Vergangenheit enterbt – das Sinnenlaub ist gefallen – nicht einmal die schöne Natur mag ich mehr, und Wolken wie Gebürge sind mir lieber als wahre Gebürge –ich habe das bittere Unkraut auf dem Leben recht abgeerntet – und doch muß ich in dieser leeren Brust einen Würgengel herumtragen, der ewig gräbt und schreibt, und jeder Buchstabe ist eine Wunde – Rate nicht! Sie nennens das Gewissen. Aber ein wenig Schlaftrunk her auf der Schlafinsel, Karl!«

Man brachte Wein. Er erzählte nun dem Freunde sein Leben – seine Fehler, worunter er auch den aufführte, den er eben fortsetzte, das Trinken – seine sich wiedergebärende Eitelkeit sogar mit ihrem Selbst-Geständnis – seine Weiber-Siege, die ihn zu einem Magnet-Berge voll angeflogner Nägel zerfallner Schiffe machten – seinen Hang, wie Kardan Freunde zu beleidigen, ein eigenes oder fremdes Glück zu unterbrechen, wie schon als Kind den Prediger, oder im schönsten Spiel das Klavier zu zerschlagen und in einem Enthusiasmus das Frechste zu denken –

»Sonst hatt' ich doch noch zwei Ichs, eines, das versprach und log, eines, das dem andern glaubte; jetzt lügen sie beide einander an, und keines glaubt.« Carlos antwortete: »Schrecklich! Aber deine Trauer ist ja selber Hülfe und Gabe.« – »Ach was!« (versetzt' er) »Der Mensch verdammt weniger das Schlimme als die vergangne Lage, worin ers beging, indes er es in einer frischen wieder neu und süß findet und fortliebt. – Was dort kalt liegt, das ist mein Bild,« (indem er auf die Sphinx zeigte) »das bewegt sich lebendig in meiner blutigen Brust – hilf mir, ziehe das reißende Untier heraus!« –

Albano ergrimmte im Innersten über die frevelnde Wiederholung jener bekennenden zärtlichen Nacht mit ihmim 55. Zykel. »Er ist frech genug,« (sagte leise Gaspard zu Albano) »weil er, wie ich höre, wirklich sich selber spielen soll; aber da er sich so sieht, ist er doch besser, als er sich sieht.« – »O,« (sagte Albano) »so dacht' ich sonst! Aber ist denn das Schauen auf den schlechten Zustand ein guter? Ist er nicht desto schlechter, daß er dieses Bewußtsein erträgt, und wird desto schwächer, daß er einen unheilbaren Krebsschaden an sich wachsen sieht? Das Höchste hat er ohnehin verloren, die Unschuld.« – »Eine flüchtige Wiegen-Tugend! – Ein helles, keckes Reflektieren hat er doch«, sagte Gaspard. »Nur weichliche, ehrloser zweideutige, vielseitige Mattigkeit des Herzens hat er; spricht von Kraft und kann nicht die dünnste Lust-Schlinge zerreißen«, sagte Albano.

»Karl,« (sagte Hiort weich, als antwortete er jenen) »ja, noch eine Hülfe gibts. Wenn am Leben eine frische Farbe nach der andern verschießet – wenn das Dasein nun nichts wird, kein Lust-, kein Trauer-Spiel, nur ein fades Schau-Spiel: so ist dem Menschen noch ein Himmel offen, der ihn aufnimmt, die Liebe. Schließet sich dieser zu, so ist er ewig verdammt. Carlos, mein Carlos, ich könnte noch glücklich werden – denn ich habe Athenais gesehen – aber ich kann noch unglücklicher werden, denn sie liebt mich nicht. In meinem Herzen liegt dieser prangende, aber scharf fortschneidende Demant, an dem es blutet, sooft es schlägt.« – Überall ließ jetzt Roquairol Lindas Bild mitspielen. Hier brachte anfangs Carlos den Freund mit der Nachricht in Aufruhr, daß Athenais von seinem Vater zu seiner Braut erlesen sei und bald komme; aber er stillte ihn, da seine Schwester Lilia erschien, indem er schnell ihre Hand nahm und sagte: »Nur diese lieb' ich.« – Sie sprachen über die Hindernisse von seiten des alten Salera, den Carlos ein Eisfeld nannte, das unter keiner Sonne trüge und nicht anzubauen wäre. »Stehe mir bei, Karl,« (sagte Hiort) »denke, was du mir geschrieben: wie zwei Ströme wollen wir uns vereinigen und miteinander wachsen und tragen und eintrocknenEine Stelle aus Albanos Brief an Roquairol im 47. Zykel.« – So verständigten, verketteten und erhoben die drei Menschen sich einander wechselseitig, alle hatten ein Ziel, das gemeinschaftliche Glück. – Carlos beschwor ewigen Widerstand gegen seinen Vater, Hiort den Schutz seiner Schwester und rief. »Endlich gießet das leere Füllhorn der Zeit, das bisher nichts gab als Klänge, wieder Blumen aus – O die Weiber! Wie gemein und alltäglich sind fast alle Männer! Aber fast jede Frau ist neu!« – Lächelnd sagte Gaspard: »Das Umgekehrte sagen die Weiber von uns und sich.« – Froh und friedlich schloß der zweite Akt.

»Diablesse!« rief der Spanier und streckte seine Rechte hoch in die Luft.

»Flüchtig« (fing die schwarze Dohle unter Tönen an) »ist der Mensch, flüchtiger ist sein Glück, aber früher stirbt der Freund mit seinem Wort.« –

Der dritte Akt drang sofort nach und hob durch die ununterbrochne Fortsetzung des Kunst-Zaubers – welche jedem Schauspiel und jedem gelesenen Kunstwerk gebührte – alles prosaische kalte Erstaunen auf, sogar das über das wunderbare Sprechen der Dohle auf dem See. Eine große schöne stolze Frau erschien – Athenais (von der Kaufmannsfrau, Roquairols Nebengeliebte, gespielt), voll Hoffnung auf ihre alte Freundin Lilia, die sich »die kleine Athenais« nannte, und süß nachträumend den Traum der vorigen Zeiten. Lilia sinkt in ihre Arme mit doppelten Tränen; in ihrer Hand trägt Athenais ja drei Himmel und drei Höllen. »Wie schön kommst du wieder! – Mein armer Bruder!« sagte Lilia leise. – »Nenn ihn nicht,« (sagte sie stolz) »er kann für mich sterben, aber ich kann nicht für ihn leben.« – Hier fliegt Carlos herein zu seiner Lilia – erstarrt im Fluge – fasset sich und nähert sich Lilia. Diese sagt: »Graf Salera – Athenais« – er wurde blaß, diese rot. Eine peinliche enge Verwirrung verstrickte sie drei; jeder Honigtropfen wurde aus einer Dornhecke geholt. Lilia wird schaudernd immer stärker Athenais' plötzlichen Sieg über ihr Glück und Lieben gewahr. Athenais ging ab. Beide Liebende sehen sich lange zitternd an: »Hab' ich recht?« fragt Lilia. »Hab' ich schuld?« sagt Carlos. »Nein,« (sagt sie) »denn du bist ein Mensch und, was noch schlimmer, ein Mann.« – »Was soll ich denn tun?« versetzt Carlos. »Du sollst« (sagte sie feierlich) »nach einem Jahr in einen Garten auf einer Höhe gehen und dich umsehen und mich suchen im Garten – im Garten – unter den Beeten – tief unter einem – ich weiß nicht wie tief« – Sie eilte wie wahnsinnig davon und sang: »Vorüber, vorüber, das Lieben und Leben!«

Carlos stand einige Minuten mit dem wilden Blick am Boden und sagte dumpf. »Du tusts, Gott!« und ging ab – begegnete seinem Freund, der ungestüm und froh ausrief. »Sie ist da!« – eilte aber stolz weiter und rief nur zurück: »Jetzt nicht, Hiort!« Zu diesem kam weinend Lilia und führte ihn fort: »Komm,« (sagte sie) »sieh das Grabmal nicht an, wir sind beide zu unglücklich.«

Da trat der alte Salera auf mit Athenais – vergriff sich zwischen Eis und Brand und nahm seine kalte Münze für warme – lobte männlich sie, und väterlich den Sohn – und sagte wie in einem Schauspiel: da kommt er selber. »Hier stell' ich dir, Sohn,« (sagt' er) »dein Glück vor, wenn du es verdienen kannst.« Carlos hatte Lilias Herz verloren – der Wunsch des Vaters, die Macht der Schönheit, die Allmacht der liebenden Schönheit stand vor ihm, seine Sehnsucht und der Gedanke der Grausamkeit gegen diese Göttin und endlich eine Welt in ihm, die so nahe an ihrer Sonne stand, siegten über eine doppelte Treue – er sank aufs Knie vor ihr und sagte: »Ich bin schuldlos, wenn ich glücklich bin.« – Das Paar geht auf der einen Seite ab; Salera auf der andern und trifft auf Lilia, deren Hand er mit den Worten nimmt: »Sie als eine Freundin meines Hauses und Sohnes nehmen gewiß den innigsten Anteil an dem neuesten Glück desselben durch Athenais.« – So schloß sich der dritte Akt, der Albano durch ungerechte, alles verdrehende Anspielungen mit dem erbitterten Wunsche des Endes entflammte und fühlte, bloß um Roquairol über dieses meuchelmörderische Zücken des tragischen Dolchs zur Rede zu stellen. »Der Patron« (sagte lachend Gaspard) »glaubt mich auch hereinzumalen; ich wünsche aber, daß er derbere Farben nehme.«


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