Jean Paul
Titan
Jean Paul

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83. Zykel

Wer denkt, daß Schoppe unterwegs für Albano ein fliegendes Feldlazarett des Trostes – ein antispasmoticum – eine Struvische Not- und Hülfstafel – eine gepülverte Fuchslunge gegen die Hektik des Herzens u. s. w. gewesen und daß er auf jedem Meilenstein eine Trostpredigt gehalten, wer das denkt, den lacht er aus.

»Was tut es denn,« (sagt' er) »wenn das Unglück den jungen Menschen derb durchknetet? – Das nächstemal wird er den Schmerz, der ihn jetzt in der Gewalt hat, in der seinigen haben. Wer nichts getragen, lernt nichts ertragen.« Was das Weinen anlangt, so war er als ein Stoiker wohl am wenigsten davon ein Feind; Epiktet, Antonin, Kato und mehr solche weniger aus Eis als Eisen gebildete Männer, sagt' er so oft, hätten sehr gern dem Leibe dergleichen letzte Ölungen des Schmerzes eingeräumt, falls nur der Geist darhinter sich trocken erhalten hätte. Es ist echte Trostlosigkeit, sagt' er, Trost zu wünschen und anzunehmen; warum will man denn nicht einmal den Schmerz rein durchdauern ohne alle Arzenei?

Allein seine Ansicht und sein Leben wurde ohne sein Zielen über den Grafen mächtig, den alles Große nur vergrößerte, wie es andere verkleinert. Schoppe saß als ein Kato auf Ruinen, aber freilich auf den größten; wenn der Weise die Barometerröhre am Äquator sein muß, in der selber der Tornado wenig verschiebt, so war er dergleichen. Zufällig riß er in einem Wirtshause dem Grafen durch den Hamburgischen Unparteiischen Korrespondenten, den er da vorfand, die verklebten Flügel auf. Schoppe las zwei weite Schlachten daraus vor, worin wie durch einen Erdfall Länder statt der Häuser versanken und deren Wunden und Tränen nur der böse Genius der Erde konnte wissen wollen; darauf verlas er – nach den Totenmärschen ganzer Generationen und nach den aufgerissenen Kratern der Menschheit – mit fortgesetztem Ernste die Intelligenz-Anzeigen, wo einer allein auf ein unbekanntes Gräblein steigt und der Welt, die ihm sonst kondoliert, ansagt und beteuert: »Fürchterlich war der Schlag, der unser Kind von 5 Wochen« – oder: »Im bittersten Schmerz, den je« – oder: »Bestürzt über den Verlust unsers einundachtzigjährigen Vaters etc.«

Schoppe sagte, das sprech' er für recht, denn jede Not, selber die allgemeine, hause doch nur in einer Brust; und läg' er selber auf einem roten Schlachtfelde voll gefällter Garben, so würd' er sich darunter aufsetzen, falls er könnte, und an die Umliegenden eine kurze Trauerrede über seine Schußwunde halten; so habe Galvani bemerkt, daß ein Frosch, der in elektrischen Verbindungen stehe, so oft zucke, als der Donner über der Erde nachrolle.

Bei diesem Satz blieb er auch im Freien. Er führt' es tadelnd an, daß Matthison es als eine reisebeschreibende Notiz annotiere, wie man im jetzigen Avenches in der Schweiz an den Stellen der von den Römern zermalmten helvetischen Hauptstadt Aventicum in den dünnern Streifen des Grases den Abriß der Straßen und Mauern finden könne; indes ja offenbar dieselben stereographischen Projektionen der Vergangenheit überall lägen auf jeder Wiese – jeder Berg sei das Ufer einer verschwemmten Vorzeit – jede Stelle hienieden sei ja 6000 Jahre alt und Reliquie – alles sei Gottesacker und Ruine auf der Erde – besonders die Erde selber; »Himmel,« (fuhr er fort) »was ist überhaupt nicht schon vergangen, Völker – Fixsterne – weibliche Tugend – die besten Paradiese – viele Gerechtsame – alle Rezensionen – die Ewigkeit a parte ante – und jetzt eben meine schwache Beschreibung davon! – Wenn nun das Leben ein solches Nichtigkeits-Spiel ist, so muß man lieber der Kartenmaler als der Kartenkönig sein wollen.«

Ein kräftiger, stolzer Mensch – wie Albano – wird dann schwerlich mitten unter dreißigjährigen Kriegern – Jüngsten Tagen – wandernden Völkern – verstäubenden Sonnen sein Kleid ausziehen und sich oder dem Universum die zerrissene Ader vorzeigen, die auf seiner Brust ausblutet.

So stand es, als beide abends eine halfoffne Waldhöhe erstiegen, von der sie ein wunderbares Glorien-Land unter sich sahen, so freundlich und ausländisch, als sei es übrig geblieben aus einer Zeit, da noch die ganze Erde warm war und ein immer grünes Morgenland – es schien, so weit sie vor den Bäumen und vor der Abendsonne sehen konnten, ein aus der zusammentretenden Berg-Ecke unabsehlich nach Westen auseinanderlaufendes Tal zu sein – eine vor der Sonne mit den breiten Flügeln umschlagende buntgemalte Windmühle verwirrte das Auge, das das Gedränge von Abend-Lichtern, Gärten, Schafen und Kindern sondern wollte – an beiden Abhängen hüteten weißgekleidete Kinder mit lang nachflatternden grünen Hutbändern – eine gefleckte Schweizerei ging im Wiesengrün am dunkeln Bach – auf einem hochgewölbten Heuwagen fuhr eine wie zum Hochzeitmahle gekleidete Bäuerin, und nebenher gingen Landleute im Sonntagsputz – die Sonne trat hinter eine Säulen-Reihe von runden Laubeichen, diesen deutschen Freiheits-Bäumen und Tempel-Pfeilern – und sie schwebten verklärt und vergrößert hoch im goldnen Blaue aufgezogen. – Jetzt sahen die betroffnen Wanderer das nahe beschattete holländische Dorf unten – wie aus zierlichen, bemalten Gartenhäuschen zusammengerückt, mit einem Linden-Zirkel in der Mitte und einem jungen, blühenden Jäger nicht weit davon, oder eine Amazone, die mit der einen Hand ihren Hut voll Zweige abnahm und mit der andern den Balken-Arm mit dem Eimer über den Born hoch aufsteigen ließ.

»Mein Freund,« (fragte Schoppe einen ihnen mit Botenblech und Ranzen nachkommenden Amtsboten) »wie nennt Er das Dorf?« – »Arkadien«, versetzt' er. – »Aber ohne alles dichterische Weißglühen und Kulminieren gesprochen, mein poetischer Freund, wie schreibt sich eigentlich die Ortschaft unten?« fragte Schoppe wieder. Verdrüßlich antwortete der Amtsbote: »Arkadien, sag' ich, wenn Ers nicht behalten kann – es ist ein altes Kammergut, unsere Prinzessin Idone (Idoine) hält sich da auf, jahraus, jahrein, für beständig – und macht da alles nach eignem Pläsier, was will man mehr?« – »Ist Er auch in Arkadien?« – »Nein, in Saubügel«, antwortete der Bote sehr laut, schon fünf Schritte weiter vorn, zurück.

Der Bibliothekar, der seinen Freund bei der Botenrede in großer Bewegung sah, tat ihm freudig die Frage, ob sie ein besseres Nachtquartier hätten treffen können als dieses, ausgenommen dieses selber im Maimond. Aber wie erstaunt' er vor Albanos Zurücksturz in die Vorhölle, die das Gewissen und seine Liebe anzündeten! Idoinens täuschende Ähnlichkeit mit Lianen war plötzlich vor ihn gezogen: »Weißt du,« (sagt' er, in der Erschütterung durch den Abendzauber heftiger fortbebend) »worin Idoine Ihr unähnlich ist? – Sie kann sehen,« setzt' er selber dazu, »denn sie hat mich noch nicht gesehen. O vergib, vergib, fester Mann, ich bin wahrlich nicht immer so – Sie stirbt jetzt, oder irgendein Unglück zieht ihr nahe; wie ein Dampf vor der Feuersbrunst steigts düster und in langen Wolken in meiner Seele auf – ich muß durchaus zurück.«

»Glauben Sie mir,« (sagte Schoppe) »ich werde Ihnen einmal alles sagen, was ich jetzt denke – gegenwärtig aber will ich Sie schonen.« Auch das verfing nichts, er kehrte um; aber am ganzen andern Reisetag blieb sein Leidenskelch, den Schoppe so glänzend gescheuert hatte, naß und schwarz angelaufen. Sie konnten erst abends ankommen, da ein Zauberrauch von Zwielicht, Mondlicht, Dampf, Dunst und Wolkenrot die Stadt fremder machte. Albanos Adlerauge teilte den Rauch entzwei, und er – entlief. Die blinde Liane allein sah er auf dem hohen welschen Dache gegen die Statuen laufen oder zum Abgrund hin. Wild ohn' einen Laut rannt' er durch die tiefern Gassen – verlor den verbaueten Palast und lief grimmiger – er glaubte, er finde sie auf dem Steinpflaster zertrümmert – er sieht die weißen Statuen wieder, sie hält eine umschlungen, und der alte Gärtner des cereus serpens steht mit dem Hute auf dem Kopfe vor ihr. – Als er endlich ganz unten am Palaste ankam, stand oben ein fremdes Mädchen bei ihr, und unten sahen zusammengelaufne Weiber hinauf, einander fragend: »Gott, was gibt es denn?« – Liane blickte (wie es schien) an den Himmel, worin nur einige Sterne brannten, und dann lange in den Mond, und darauf herunter auf die Menschen; aber sogleich trat sie von den Statuen zurück. Der Gärtner kam aus dem Hofe und sagte vorübergehend seiner fragenden Frau: »Sie sieht.« – »O, guter Mann,« (sagte Albano) »was sagt Er?« – »Gehen Sie nur hinauf!« versetzt' er und schritt emsig weiter. Jetzt kam Bouverot zu Fuße – Albano trat ihm mit einem kurzen Verbeugen und Gruße in den Weg – Bouverot sah ihn ein wenig an: »Ich habe nicht die Ehre, Sie zu kennen«, sagt' er wild und eilte davon.


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