Jean Paul
Selina oder über die Unsterblichkeit der Seele
Jean Paul

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

[Dritte] Unterabteilung

[Beweis des Gedächtnisses]

Ich hob des Gesandtschaftrates freimütige Entschiedenheit in seiner Rolle und dessen Trotz gegen alles Nachbeten und Vorbeten absichtlich hervor, um den Teufels-Advokaten ein wenig für die schlechten Advokaturgebühren zu entschädigen, die er sich von dem Schweigen der Frauen versprechen konnte. »Gerade als er aufhörte,« sagte Nantilde, »wurd' es hell und die Sonne kam ein bißchen.« – Allmählich hatte sich der ganze Wolkenhimmel zurückgezogen und in Osten aufeinandergefaltet und der Halbmond stand hell über uns und ließ die Sterne recht nah an sich kommen, ohne ihnen das Licht zu nehmen. Selina blickte ihn freudig an und sagte: »Nun kommt er bald, mein lieber . . . . . Vollmond.« Sie wollte sagen Henrion; denn dieser wollte ja an seinem Geburttage, am nächsten Vollmond zurückkommen.

»Unser Freund Alexis«, fiel Wilhelmi ein, »hat sich des Teufels als des Fürsten der Finsternis in der Wolkenzeit recht wacker angenommen; jetzo zerstreuen Sie uns, lieber J. P., ein wenig sein Werk der Finsternis, da Ihnen wenigstens der Halbmond Licht gibt.« – Ich versetzte: »Auch sein Licht kommt von der Sonne, und nur auf einem kleinen Umwege zu uns. Aber zuerst, um bei dem Ende den Anfang zu machen, hat der H. Gesandte und Advokat über das Gedächtnis, womit er uns zugleich das Wiedersehen nehmen will, ganz etwas anderes als recht. Wer bekommt und trägt denn eigentlich die ganze immer wachsende Welt von Erfahrungen? Offenbar kann sie nicht auf und in die Gehirnkugel wie Städtenamen auf einen Erdglobus aufgetragen sein. Enthält der Klumpe von weichen Kügelchen eine Sammlung der Wörterbücher eines Gelehrten und mit welchen Spuren, da das gelehrteste Gehirn aussieht wie das ungelehrteste? Wie entsteht geistige Ordnung und Verbindung durch den organischen Brei? – Und da der Sehnerve alle seine Bilder z. B. gedruckter Wörter auf der nämlichen Stelle des Gehirns absetzt und sozusagen aufschlichtet: so müßte irgendeine verständige Kraft die Bilderschichten in Bildergalerien auseinanderlegen und geordnet 1234 und gereiht ausbreiten. Doch der ganze Widersinn eines sich selber erinnernden Gehirns ist ja längst niedergemacht.

Aber ein Stück von ihm erhält sich an der natürlichen Erscheinung lebendig, daß das Gedächtnis durch Wunden, durch Krankheiten, durch Alter des Gehirns sinke und schwinde. Aber man hat ja die Erscheinung noch näher und alltäglicher: der Traum reicht uns im Schlaftrunk eine Lethe für das Wachen; das Wachen schenkt wieder eine für die Träume ein; und so vergessen wir zweimal täglich, einmal den Tag, einmal die Nacht. Ist denn aber darum dem Geiste der Inhalt ebensooft entschwunden und ebensooft wiedergekehrt? So hätte also z. B. eine gänzliche Bewußtlosigkeit meine ganze Seele ausgeleert und ein einzelner Augenaufschlag die geplünderte man weiß nicht wie wiederum angefüllt? – Ist und hat denn der Geist selber nichts?

Aber er hat eben allein alles, nur kann er die Weltkugel von Ideen, auf der er wohnt, wie jede andere Kugel nicht übersehen, sondern nur umschiffen. Dem Vielwisser treten von allen seinen Millionen Ideen in jedem Augenblicke nur ein paar in den Gesichtkreis, alle übrigen bleiben unsichtbar unter dem Horizont, bis auch sie aufgehen. Oder eigentlich passender: aus dem gleichsam mit Ideen gestirnten Himmel unsers Geistes rückt in jedem Momente nur ein Stern oder Gedanke in das Feld unsers innern Sehrohrs; die andern bedeckt die Nacht. – Nun, wenn manche Wörter- und Namen-Reihen oft jahrelang oder gar nicht mehr, oder wie zuweilen erst kurz vor dem Tode wieder in die Erinnerung treten: wurzeln sie denn deshalb weniger im Geiste als das ganze Reich ruhender Vorstellungen? –

Nur das Gehirnorgan, womit die Seele an der Erinnerung dagewesener Gedanken arbeitet, ist bei der Vergeßlichkeit gelähmt oder verletzt. Denn in jener unerklärlichen Linkerhand-Ehe zwischen Seele und Leib, worin entweder alles oder gar nichts verbunden ist, und worin der erhabenste Gedanke so gut Körperteilchen bewegt als der niedrigste Trieb, wirken Gedächtnis und Gehirn so zusammen wie Leidenschaften und Blut; aber das Werkzeug ist darum nicht der Werkmeister, so wie das Gehirn so wenig eine Reliquiensammlung von Eindrücken darstellt als das 1235 Herz, das alle Empfindungen nachschlägt, eine von frohen und trüben. Aber obgleich die Muskelbewegung nicht das Wollen ist, wodurch wir sie erzeugen: so fühlen wir doch geistige Anstrengung, wenn wir sie verstärken; und ebenso empfinden wir ein Einwirken auf das Gehirnorgan, wenn wir uns, besonders vergeblich, zu erinnern suchen.

Wenn jenem Prediger der auswendig gelernte Virgil, den er 30 Jahre lang vergessen hatte, auf ein[mal] wieder ins Gedächtnis kam; oder wenn jene Jungfrau nach einem unnatürlichen Schlafe alles vergaß und alles Bekannte von Buchstaben an bis zu Freunden wieder kennen lernen mußte; wenn sie nach einigen Monaten in einem zweiten neuen Langschlafe wieder vergaß, aber bloß das nach dem ersten Erlernte, hingegen auf alles vor ihm Gewußte sich wieder besann; und wenn dieser Gedächtnis-Umwechsel mehre Jahre dauerte: so tut ja dies alles dar, daß gerade die Seele den Gedächtnis-Inhalt aufbewahrte, ihn aber nach den Wechseln des Organs bald mobil machen konnte, bald unbeweglich lassen mußte; und besonders die Jungfrau glich einem Klavierspieler, der in Tauschlähmungen der rechten und der linken Hand bald nur Baß-, bald nur Diskantsaiten anschlagen kann.

Bleiben die Blumen der Kindheit im Gedächtnis sogar bis ins kalte Alter noch unverwelkt und lebendig, indes der Greis die Saat der spätern Jahre um sich verdorret erblickt: so wird dieses Immergrün nicht durch den weichen Boden des Gehirns erhalten, der ja nicht in dem verhärteten des Alters mit stecken kann, sondern im kindlichen, hungrigen, empfänglichen, unbesetzten Geiste voll Adams-Erde schlugen alle Empfindungen die Wurzeln tiefer und weiterlaufend. In spätern Jahren fehlt das ursprüngliche Interesse; allein ein Interesse kann doch nur der Geist, nicht ein Körper haben.

Endlich erscheint die Hellseherin mit ihrem Wundergedächtnis und fragt uns, woher denn ihr Erinnern so wie ihr Vergessen komme, jenes, das in die Fernen und Nächte ihres Lebens, in die tiefsten Kinderjahre und tiefsten Ohnmachten reicht, und ihr Vergessen, da nach dem Schlafe sich das Auge wie eine Theaterversenkung oder wie ein Erdfall auftut und alle die neuen Reiche 1236 des Lebens verschlingt. Aber ist das Erinnern und Heraufholen untergesunkner Zeiten aus dem Meerboden der Vergessenheit nicht ein Beweis, daß es gleichsam noch ein ätherisches zweites Gehirn gibt, das bloß vom schweren drückenden des Tags befreit zu sein braucht, damit es den feinern ätherischen Anregungen des Geistes folgsam sich bequeme?

Und nun zuletzt jene damit verwandte Erscheinungen, wo kurz vor dem Sterben wie dem Wahnsinnigen die Vernunft, so dem Kranken das jahrelang eingesunkne Reich des Gedächtnisses wiederkehrt und wiederblüht! – Löset sich nicht der absterbende Körper mit seiner dicken steifen Borke von einem Ätherleibe ab, der sich beweglicher nach den Anstrengungen des Geistes bequemt?«

 


 


 << zurück