Jean Paul
Selina oder über die Unsterblichkeit der Seele
Jean Paul

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II.
Venus oder Morgen- und Abendstern

Flächeninhalt

Gang nach Wiana – Henrions Bild – Selinas Lieben und Leben – der Glanz des All – neueste Nachricht

Erste Unterabteilung

Der Weg nach Wiana – Selinas Erscheinung – Wilhelmis Wiedersehen – Selinas Leben und Lieben

Wie rein und wolkenlos war der Morgen – und jedes Gemüt! Nantilde trieb in allen Zimmern mit Spornrädern der Worte und Mienen zum eiligen Ausmarsch; die Sache war freilich, sie hatte 1130 schon vor tags eine Botschaft von meiner und von unserer Ankunft an Selina vorausgeschickt. Auf dem Hügel sah Nantilde ihre Freundin schon in den Ährenfluren gehen und flog ihr entgegen. Seltsam bewegte sie mein Inneres, als sie vor mir stand mit großen durchsichtigen, wie verklärten Augen – in ihrem blauen, unter dem Blau des Himmels lichtern Kleide glänzend so edel-schön wie ihre Mutter Gione, bloß etwas länger, mit reinem Glanze der Schönheit den Jüngling zugleich treffend, und von sich haltend, daß auch der edlere nicht wagte, sie laut zu lieben – und mit dem Blütenweiß der Wangen, zu welchem das ihnen nur aufgehauchte Blütenrot durch das Entgegeneilen verflogen war.

Als sie nun sagte und meine Hand ergriff: »Wir freuen uns alle recht über heute, lieber J. P.!« und ich völlig den Ton der mütterlichen Stimme hörte: so hob sich mir eine dunkel-blühende Vergangenheit wie eine alte Insel aus der Tiefe; und doch war mir immer, als müßt' ich mich noch etwas Tief-Versenkten erinnern. Aber ich erinnerte mich nicht, bis mir später Nantilde erzählte, daß Selina die Lieblingfarbe ihrer Mutter, das Blau, und alle Kleider derselben, soweit es nur angehe, immer vorziehe und trage: nun hatt' ich alles, Gione hatte auf der ganzen Tagreise durch das Kampanertal das blaue Kleid getragen. –

Wie wandelten wir alle so beglückt! Das Schloß Wiana lag mit seinen überlaubten Altanen schon im offnen Dorfe aufgedeckt vor uns, weniger ein Ritterschloß als Gartenhaus und mehr grün als weiß. Überall liefen Bäche und Steige und Baumreihen buntgemalten Dörfern zu und aus der Ferne sahen Kirchtürme und Maibäume her – und hinter den dunkeln Gipfelketten Wianas bewegten sich die weißen Segel der Fahrzeuge und die fernen Gebirge standen hell im dunkeln Blau. –

Der wehende Himmel umflutete uns mit seinem blauen Meere, und seine Wogen schienen uns zu tragen und zu heben; und wir sahen oft einander stumm und selig an . . . . Auf einmal war mein alter Freund Wilhelmi an meiner Brust, voll Wohlwollen und Ruhe zugleich.

– – Spätes Wiedergesehenwerden nach langen Jahren bekommt nur moralisch-wachsenden Menschen physiognomisch 1131 vorteilhaft. Auf das blühende Gesicht des Mädchen sind die Fehler nur unsichtbar mit sympathetischer Dinte geschrieben, welche durch die Wärme der Leidenschaften und Jahre endlich gelb und schwarz aufgetragen erscheinen. Die dem männlichen Gesicht als junger grüner Frucht eingeritzte Perlschrift schwillt später an manchem als ausgewachsenem Kürbis zur Grobmissalfraktur und unförmlichen Schramme auf. Durch gespannte Magerheit verliert im Alter das weibliche Gesicht, durch hangende Fülle das männliche.

Wilhelmis volles Gesicht vergrub keinen einzigen schönen Zug seiner Jugend, ob er gleich gute Gerichte – er war eben von seinem Trink- und Eßfrühstück auf dem Altan zu uns herabgeeilt – im Alter so sehr liebte als gute Menschen. Wohlwollen und Wohlbehagen blickten zusammen aus seinen Augen. Er hatte die ganze ökonomische und malerische Veredlung nicht bloß seiner Dörfer, sondern auch der rittmeisterlichen übernommen – mein Karlson, sagt' er, muß in seinen Büchern bleiben und höchstens daraus gehen in seine Pflanzungen und Gärten, wann ich sie fertig gebracht –; und Karlson ließ ihn gern, sogar in Falkenburg anordnen und beglücken und verschönern. Den Kirchweihen, die in manchen Staaten mehre Dörfer zugleich an einem einzigen Tage, gleichsam einem Allerseelentag, wegfeiern müssen, gab er durch Auseinanderrückung Zeit und Raum zur Lust; und letzlich impfete er den Maibäumen noch Sommer-, Herbst- und Winterbäume ein.

Wie süß schmeichelte Selina seiner Jagdlust nach fremdem Frohmachen durch die immerwährende Darstellung einer andern beredtern und flüchtigern Seligkeit, als sie in ihrer tiefsten Seele genoß und verhüllte! – Ich hatte mir sie früher so ernst wie Gione vorgestellt; dann später das Gegenteil für Harmonie mit Nantilden genommen, aber endlich als Einklang zum Vater gefunden. So tat sie ihm den Gefallen, recht hungrig zu sein, wenn sie mit ihm allein bei Tische saß, weil sie seine Schüsseln nicht bloß bereiten, auch genießen sollte.

Aber wie wurde sie rings umher geliebt! Karlson blickte als ein zweiter warmer Vater in ihr Auge und er konnte sie nicht oft 1132 genug in seinem Schlosse haben, bloß damit sie ihn recht oft hörte – über alles Große und Göttliche in den Wissenschaften. Auch die bestimmte, jedes Wort berechnende Josepha nannte sie nie anders als ihre Tochter Selina. Sogar der kühne Alex legte vor ihr am Morgen den logischen Reif nieder, wodurch er gern seine Disputiersprünge machte, und schritt etwas ruhiger zu Werk. Da ihm nun vollends bei ihrer Erscheinung ein Rot angeflogen war, als entzünd' eine aufgehende Sonne die nächste Wolke: so schloß ich, daß er sie liebe; aber eine untergehende macht die Wolke auch rot und mein Scharfblick wurde vom nächsten Zimmer widerlegt. Es war Selinas Zimmer, worein der Baron mich zu führen befahl, damit ich das so sehr gewünschte Bildnis Henrions zu sehen bekäme, dessen Farben über diese kleine warme Welt der Liebe als ein ferner unberührbarer Regenbogen hingen.

Mein Auge kam im Zimmer erst über eine breite Karte von Griechenland, die den Nähtisch bedeckte, zu des teuern Jünglings Bild an der Wand. »So muß der Sohn aussehen, der eines edeln, kühnen, hochgesinnten Vaters würdig ist«, dachte jeder bei dem Erblicken des Bilds. Ein blaues, aber trotziges, ja blitzendes Ritter-Auge – wie ja der Blitz nicht bloß aus der schwarzen Wolke fährt, sondern auch zuweilen aus dem hellen Blau – ein Blitz, der oft in den alten deutschen Wäldern aus blauen Augen auf die Römer schlug – eine gewölbte Dichter-Stirn und vordringende gebogne Nase und doch bei allem diesen zum Kampf gerüsteten Ernst des Lebens ein Gesicht voll weicher zarter Jugendblüten und einen üppigen Mund voll entgegenquellender Liebe! – Überall mehr dem Kopfe seines Vaters ähnlich als dem runden beweglichen seines Bruders. Als ich fragte, wer diese strenge Männlichkeit so treu wiedergegeben und abgemalt, antwortete nach einigem Schweigen Selina leise: »Mein Vater wünschte es von mir.« Wie aber eine weibliche Hand ein solches Kraft- und Ernstgesicht ohne alles Wegschmeicheln und Abglätten nachschaffen können, wurde mir erst später aus dem Wesen Selinas begreiflich, die das Schöne wie das Gute behandelte und bei jenem wie bei diesem jede Schein- und Gefallsucht verschmähte; so wie sie sogar ihrem Vater eine einzige Gabe versagen mußte, nämlich das gäng 1133 und gebe Knallsilber und Rauschgold der modischen Trillerzieraten bei ihrem Gesang, der mit seiner Bruststimme, oder Herzstimme vielmehr die Seele gewaltsam in Wehmut und Sehnsucht untertauchte. Sie sang schwach, rein, innig und schmucklos und man weinte, ohne zu loben. –

O wie sehnt' ich mich nach Selinas Geschichte ihres Lebens und Liebens! – Zum Glück sehnte sich Nantilde ebenso stark, sie mir zu geben – und so bekam ich sie noch denselben Vormittag. Sie erklärte der Gesellschaft, sie wolle als die jüngste flinkste im Schlosse – denn die feurig-tätige für Kranke wie für Gäste kochende Selina trug schon ihres Vaters wegen die Küchenschürze als eine weibliche Freimaurerschürze, obwohl mit honigreichern Rosen besetzte als die Schweigzeichen der Brüder Redner sind – mit mir alle reizenden Anlagen und Zulagen der beiden Rittergüter und Ritterparks kursorisch durchlaufen und dem guten Hans Paul jeden Zierwinkel und jeden Zierbengel von Bauer zeigen und doch zum Essen mit ihm pünktlich wiederkommen.

Aber wahrlich, ich nahm von dem breiten Garten voll kleiner Gärten, voll Wäldchen und Dörfer und dem ganzen besetzten Weihnachttische voll malerischer Schönheiten wenig wahr unter der Geschichte des seltenen, sich in der Küche opfernden Wesens. Gione starb ihrer Selina gerade im 15ten Jahre, wo das ganze Innere einer Jungfrau Traum ist und die Außenwelt nur Folie des Traums. Sinnig und verhüllt im eignen Herzen lebend, hatte sie mit ihrer Mutter fast bloß den Rittmeister und dessen philosophische Unterhaltungen, die sie den heitern leichtern des Vaters vorzog, besucht. Die letzte Erdenstunde, da Gione sich verklärte, hatte keinen Zeugen als Selina allein; Abschied, letzter Laut und Blick und letztes Ausatmen der schweren irdischen Luft, alles Letzte blieb ein Geheimnis der Tochter.

Aber mit der Mutter verklärte sich die Tochter, wiewohl auf irdische Weise; und wie man neben Raffaels Sarge seine letzte Kunstgeburt, die Verklärung aufstellte: so stand Selina neu erglänzend neben der Hülle ihrer Schöpferin. Sie, sonst so eingeschleiert und schweigend, wurde auf einmal heiter, belebt und 1134 aufgeschlossen, sogar es gegen Nantilde noch mehr als sonst. Ihr Träumen wurde lauter Handeln, und von der Küche ihres Vaters an nahm sie ihren täglichen Weg durch die Krankenstuben der Leidenden und durch die Arbeitstuben der Armut und hielt sich für glücklich in Vergleich mit Fürstinnen, denen an ihren Nähtischen so wenige Mühen für andere zugelassen sind. Aber ihre vordringende Phantasie und Kraft und ihr Dürsten nach recht vielen und schnellen Beglückungen, kurz eben ihr Charakter gaben ihr überall eine schöne, aber aufreibende Ungeduld und jeder kam ihr zu langsam vor, sogar sie sich. Heißes Vorstreben saugt mehr Kräfte auf als heftiges Ausführen, weil jenes geistig und unausgesetzt fortarbeitet. Die hochsinnige Jungfrau wurde darum zuweilen von dem Verdachte beleidigt, sie habe von der sterbenden Mutter die Hoffnung eines nahen Nachfliegens unter ihre überirdischen Schwestern empfangen und teile daher wie eine Abschiednehmende und wie eine Sterbende an die Zurückbleibenden unaufhörlich Geschenke aus. Die beste Widerlegung war ihr Fortblühen und Fortopfern von einem Jahr ins andere. Und doch grenzte der Verdacht an eine Wahrheit: Die scheidende Mutter hatte ihr versprochen, ihr zuweilen im Traume zu erscheinen und zwar so oft, als sie recht zufrieden mit ihrem Leben sei – Gione erschien recht oft. – Darum lebte die Jungfrau so freudig und tätig und öffnete die Arme für das gute Herz und die Hände für das bedürftige.

Der feuer- oder blitzhaltige Gesandtschaftrat Alexander fand bei seiner Rückkehr von der Gesandtschaft sie als eine ganz neue Zauberin im Zimmer seines Vaters – die frühere ernste zog ihren Fixsternweg zu hoch und fern von seiner Trabantenbahn – und die veränderte Selina allein führte den alten Unglaubigen an Weiber, in die seligmachende Kirche der echten Liebe zurück; aber er legte vor der Zauberin kein öffentliches Bekenntnis seiner Religionänderung ab; – denn ungleich andern Gesandten konnte er einen Korb hinnehmen, der weibliche wurde seinem Ehrgefühl ein Maulkorb zum Schweigen, so wie ein männlicher ein Schanzkorb zum Angreifen. Sein Welt- und Weiberblick nun fand bei ihr bloß die wärmste – Freundin eines Sohnes des 1135 Rittmeisters, und ihr ganzes jungfräuliches Wesen stand ihm so hoch und glänzend-rein, daß er einmal zu seiner Mutter Josepha sagte: »Gewissen jungfräulichen Seelen kann man so wenig die Liebe anbieten als Prinzessinnen den Tanz, sie müssen selber auffordern.« – Dagegen bewahrte er Selinen eine ewige Liebe, welches weniger die unerhörte, als die ungehörte ist.

Nun kam auf dem Wege von der hohen Schule, der des Lernens, nach der höchsten, der des Handelns, Alexanders Bruder Henrion in das väterliche Haus, jeden überraschend durch seine vollendete Aufblüte – noch länger und stolzer gebaut als selber sein Vater – mit Heldenfeuer gefüllt – glühend von Gesundheit, Kraft, Mut und Kriegerzorn – eine hohe Palme einfach ohne Prunkzweige, aber voll Stacheln zur Abwehre, und im Gipfel Palmenwein und Frucht; und für welche das Gewächshaus eines Schlosses zu enge war und nur ein März- und Schlachtfeld geräumig genug oder ein Berg.

Selina empfand für den ihrem geistigen Pflegevater Karlson so ähnlichen Jüngling Verehrung bis Demut; und dem Jüngling, der sie früher so oft an dem Herzen und Munde ihrer Mutter Gione gesehen, war Selina das Heiligtum, das ein hinübergeflogner Geist sich geweiht und welches nur fromme Hände anrühren durften. Und so lebten beide Seelen miteinander beinah vertraut beisammen, in Mitteilung der hohen Ansichten einander die edeln Herzen nur aufschließend, aber nicht anbietend. Nantilde suchte beide zu nähern, was oft bei solchen, die schon beisammen sind, entfernen heißt; und der weltkluge Alexander setzte schon den Austausch ihrer Herzen voraus und sagte zur Schwester: sie beten aneinander ihre gegenseitigen Eltern an.

Vor Henrions Abreise nach Griechenland drang Selinas Vater auf ein Bildnis von ihm; allein der Jüngling hatte nie einem Maler sitzen wollen; auch war keiner in der Nähe. Aber eine Malerin war zu finden, Selina. Die Tochter willigte zaghaft und schwer in den väterlichen Wunsch; Henrion folgte ihrem kindlichen Gehorsam; nur gab er statt des Vollgesichts bloß das Halbgesicht den Farben hin, wiewohl aus einem für manche Jünglinge unerwarteten Grund: nur die beschäftigte Zeichnerin, 1136 aber nicht der ruhige Gegenstand dürfe in seinem Müßiggange in einem fort anblicken, und gegen eine Selina sei ein genießendes Anschauen ohne den Zweck der Rede zu kühn. Vielleicht gab dieses Halbverstecken des Auges dem Urbilde den Schein eines Abwesenden und dadurch der Bildnerin die größere Freiheit und wärmere Phantasie der Behandlung.

In jedem Falle aber bleibt für zwei junge Herzen Malen und Sitzen immer etwas Gefährliches, und der Pinsel kehrt sich zu einem Amors-Pfeil um. Die herzüberfüllte Selina hatte an und in den Jüngling so lange geschaut wie in ein klares tiefes Meer hinab, in das man sich endlich zu stürzen schmachtet. Und Henrion, vor welchem das ihn anblickende, so nahe und doch ferne Wesen voll Liebe und Opfer gegen ihn mehr bloß im Geiste stand, hatte einen blauen Himmel voll unsichtbarer Sterne neben [sich], welche das Herz am Tage anbeten möchte. – Es war am Morgen, wo Selina ihrem Vater das Bildnis vollendet übergeben, kurz vor Henrions Abreise nach Griechenland, als beide von nichts begleitet als Schmetterlingen und Lerchen, – wider die auf dem Lande ungewöhnliche Polizeimeisterei des Anstandes – ganz allein miteinander durch die lauten Fluren und endlich der Hitze wegen in die stillen Wäldchen lustwandelten. Auf einmal wurd' es in einem Wäldchen finsterer und doch über den Gipfeln nicht dunkel im Blau. Plötzlich war in Osten ein schwarzes feuerspeiendes Ungeheuer von Gewitter erwacht und spie auf der Schwelle des Tags sein wildes Feuer neben der stillen blassen Sonne. Zur Freude für beide Menschen stand das Wetterhorn nicht weit vom Wäldchen. Henrion sah mit entzückten Augen in den feurigen Morgensturm, in die auflodernde Wolkenschlacht, zwischen deren Feuer die Sonne als Heerführerin vorleuchtete. »Dort in Osten«, rief er begeistert, »seh ich das Wetterleuchten der griechischen Waffen und höre Kanonendonner der Griechen über ihre Tyrannen rollen und niederfahren.« – Ein Sturm jagte aus dem weitgelagerten schwarzen Gewitterheerhaufen eine lange Wolke näher heran, die sich unaufhörlich entlud und lud, bis sie über der Blitz lockenden Kugel des Gewitterableiters stand. – »O könnt' ich einst sterben für die Freiheit, sobald ich nicht mehr streiten kann 1137 für sie. O Gott, wie schön ist der Tod, Selina, wenn er vom Himmel kommt als ein weißer blitzender Todes-Engel!« Da schoß eine Feuerschlange in zwei Sprüngen aus dem Schwarz auf die nahe Goldkugel und der Himmel strömte und alle Wolken donnerten unersättlich nach. – »Ach lieber Henrion!« rief Selina erschrocken aus; er sah sich um und fand ihr Angesicht mit Tränen bedeckt und ganz bleich. »Selina, weinst du, weil du mich liebst?« sagte er und sie neigte langsam den Kopf wie zum Ja, zur Trauer, aus Scham zugleich und hüllte das Gesicht durch das Trocknen der Tränen ein. »O, du himmlisches Wesen,« rief er, »du nimmst mich an? So bleib' ich dein, im Leben und im Tode, wenn ich falle, und wenn ich wiederkehre.« – »Ziehe nur froh deinen Weg,« antwortete sie, »mein Henrion, und Gott wird mit uns beiden sein.« – Die Sonne brach hervor, das Gewitter war regnend nach Westen geflohen, und ein hoher Regenbogen hatte sich über die Arme des Gebirges gespannt. – »Siehe, das Tor nach Griechenland ist aufgetan«, sagte Henrion, denn sein westlicher Weg nach Griechenland ging über Frankreich.

So schloß sich der Bund der beiden Seelen ineinander. Wie ganz anders sah ich, als ich mit Nantilden zurückkam aus den Gärten voll himmlischer Blumen und Früchte, Selina an, in deren heiliges Paradies ich im aufgedeckten Herzen nun blicken konnte. – Und ich mußte beiden Vätern eines solchen Paars glückwünschend die Hände drücken, als Nantilde, die aus nichts, selten aus einem Geheimnis eines machte, ihnen geradezu sagte: sie habe mir unterwegs alles gesagt. – »Nun soll Ihnen auch Selina«, sagte Wilhelmi, »den letzten herrlichen Brief von Henrion zu lesen geben, der mich durch seine heitern Ansichten des Daseins noch immer so innig erquickt.« – »Und mir ist«, sagte der Rittmeister, »sein Glauben und Beweisen der Unsterblichkeit am liebsten; ich wollte nur, Sie könnten meinen Alexander auch dazu bekehren.«

Bald darauf kam Selina eilig mit dem Briefe in der Hand und ihr Gesicht drückte nicht sowohl die Einwilligung in das Lesen als die Entzückung aus, daß nun eine gute Seele mehr in die Seele ihres Freundes schauen werde. Ich ging mit den Blättern hinaus 1138 auf den freien Altan und Selina folgte mir und stellte sich hinter meinen Stuhl, um jede Seite, wie sie sagte, noch einmal, mit mir ganz langsam obwohl im stillen, wiederzulesen.

 


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