Jean Paul
Selina oder über die Unsterblichkeit der Seele
Jean Paul

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[Zweite Unterabteilung]

[Selinas Begebenheiten]

Man wird sich erinnern, daß ich, nachdem ich diese Untersuchung dem Gesandtschaftrate übergeben hatte, – um ihn dem Glauben an eine höhere Unsterblichkeit auf immer höhern Stufen zu nähern – die Morgengefilde voll Sehnsucht und Freuden-Erwartungen aufsuchte, damit ich die beiden lieben Freundinnen so früh als möglich, unter den Blumen und Ähren zu sehen und hören bekäme. Es war noch so viel über gestern zu reden übrig, über Henrions Herz und Schicksal und über allerlei aus dem Gartenkaffeehause. Auf meinem alten Umschau-Hügel sah ich wieder wie das vorige Mal Nantilde allein durch die Wiesen kommen, aber mit ungewöhnlicher Eile. Sie sei, sagte sie, ihrer Freundin 1156 ein bißchen vorgelaufen, um ein wenig mit mir allein zu reden. Selina besuchte nämlich alle Morgen eine alte Pfarrwitwe, die seit zehn Jahren in die Folterkammer der Gicht eingesperrt war und die darin so viele fromme Tage mit lauter Nächten einer Missetäterin beschloß. Spreche daher niemand von Krankheiten als Strafen, da gerade das enthaltsamere weibliche Geschlecht nach langen Nerven- und Gebärleiden endlich mehr als das männliche zu jener Gichttortur, härter und dauerhafter als die gerichtliche, zu Daumen- und Fingerschrauben, zu spanischen Stiefeln, zu Haarschnüren und Zangenzwicken und zu Krummschließen verurteilt wird. Besonders weh tat es der alten Pfarrwitwe unter ihren Schmerzen, daß sie nicht mehr, wie sonst auf die Knie fallen konnte zum Beten in ihrer liegenden Zusammenkrümmung – wiewohl diese ja auch ein Knien war, nur ein waagrechtes. Doch ließ sie wenigstens die knotenvollen Hände, obwohl durch fremde und unter harten Martern, sehr unvollkommen zusammenfalten zur Andacht. Bloß Selina war imstande, ihr die geschwollnen Finger ohne alle Schmerzen in- und auseinanderzulegen, ja die Kranke spürte unter dem Beten Linderung ihres Wehs und eine Erhörung der Seufzer. Selina blieb so lange bis sie ausgebetet, um dann die Finger schonend auseinanderzunehmen.

Beide guten Seelen irrten sich aber im Erklären des Gebens und Nehmens; denn Selina wirkte hier bloß mit magnetischen Kräften, mit welchen sie so wie mit dem ins Mitgebet gekleideten Willen die reißenden Tiere der Gicht besänftigte und so durch ihr Berühren heilte. Die Freundinnen leiteten freilich die Heilung höher ab.

Nach dem gestrigen Abend – dessen Rot die Farben für viele Festtage zu bereiten schien – hatt' ich die frohe Nantilde viel froher erwartet; aber sie erzählte mir nun, daß Selina, welche nach einem so funkelnden Sternenlichte ihrer Zukunft gar keine dunkeln Träume hätten drücken sollen, ihr schlafendes Leben sehr schwer geführt. Sie rief im Traum: »Ach Henrion, Henrion, du bist zu tief verwundet. Du wirst nicht zu uns wiederkommen. Wie leidet deine treue Brust mit der offnen Wunde!« So hatte sie öfter im Schlafe gerufen und die Wunde und den Ort genau 1157 beschrieben, wo ihm zwei Tage vor der Übergabe von Napoli di Romania eine Kugel die Lunge getroffen. Schon seit einigen Wochen, setzte Nantilde hinzu, habe ihre Freundin im Schlafe heftig geweint und geseufzet; und aus Angst sei sie im Mondschein an ihr Bette getreten, habe aber ihr Gesicht ganz verklärt, jedoch erblaßt gefunden. Diesesmal standen viele Tränen auf den Rosenwangen. Zum Glücke waren die Augen schnell getrocknet und aufgehellt, sobald sie solche aufschlug. Diesen Morgen vollends sei sie zu einer solchen Heiterkeit, wie von stillen Hoffnungen gestärkt, erwacht, daß ihre Freundin ihr auch nicht mit einem Schattenriß ihrer Traumgestalt den hellen Tag verdunkeln wollte, »ob ich gleich«, setzte Nantilde dazu, »es fast tun möchte, da ja Träume eben ihr Gegenteil bedeuten und traurige das Glück.«

Ich bat sie recht herzlich um ein Schweigen gegen die ganze Welt, gegen Selina am ersten; denn mir ging eine ganz neue Sternennacht auf, nämlich die des wachsenden Selbermagnetismus, in welcher Selina nach allen Zeichen sich befand – daher auch die magnetische Heilkraft ihrer Betfinger bei der Witwe –; in welcher das verzerrte Schreckbild der durchbohrten Brust sich erhob und näherte leider aus der Zukunft so lange, als es wie bei andern Hellseherinnen als Wahrheit dastand; nur daß sich ihr Selbermagnetismus erst unreif aus der Traumhülse entwickelte. Armes, armes Wesen, konnt' ich deiner Freundin, der ich nicht einmal den Grund meiner Bangigkeit und Bitte sagen durfte, das Gelübde des Schweigens feierlich genug auflegen, damit du einige balsamische und sonnige Tage für die Wunden schneidenden Nächte behieltest? –

Es gibt weibliche Wesen, von einer gewissen Heftigkeit bei aller Zartheit, mit einem schnellen Fieberpuls in allen Bewegungen, welcher Untergehen ankündigt; und so mußten Selinas Anstrengungen für alles Geliebte endlich in das körperliche, zu dünne Florkleid ihrer Seele Risse machen. So sucht das Ätherische immer den Äther, und nichts Zartes will bei uns bleiben.

Endlich kam Selina durch die Ähren geflogen; entschuldigte aber sehr ihr Verspäten mit dem späten Aufstehen ihres Vaters, den sie vorher sehen wollen und der ihr auch den herrlichen Brief 1158 aus dem Kaffeehäuschen noch einmal lesen müssen. Ihre Augen glänzten im vollen Vertrauen auf Henrions Glück und Wiederkehr, und sie fragte öfter, ob dieser blaue Morgen mit seinen glänzenden Wolkenschäfchen nicht der schönste im ganzen Jahre sei. Sie eilte mit uns den Freunden auf der Falkenburg zu. Vor dem Schlosse bat sie mich recht dringend, sie ja bei allen Untersuchungen über die Unsterblichkeit gegenwärtig sein zu lassen. Auch Nantilde wurde wieder so heiter wie gewöhnlich und vergaß über die Fröhlichkeit ihrer Freundin alle Drohgestalten der Nacht.

 

Streckvers auf den Kapitelplaneten Erde

Die Völker lassen auf dir, runde Wohnerde, die Seelen lange wie abgeschiedne Geister wandern, immer in neue Körper gekleidet; und deine Oberfläche wäre grün und blumig genug zu kurzen Spaziergängen, aber zu einer ewigen Zirkelreise um dich, wo dein Osten und dein Westen ewig ineinander schwimmen, ist kein Menschenherz gemacht; wenn nicht irgendwo auf dir eine Himmelleiter steht, die über die fernsten Sterne hinausträgt. – Aber deine Erdfälle, die uns den Himmel verdecken, erscheinen öfter als deine Anhöhen, die ihn uns entwickeln; und schon tust du dich hie und da auf dem blühenden Fußpfad auf, den die schuldlose Selina geht!

 


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