Jean Paul
Selina oder über die Unsterblichkeit der Seele
Jean Paul

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[Zweite] Unterabteilung

[Advokat gegen Wiedersehen – gegen plötzliche Vollendung in Kenntnissen, Glück, Wert – Träume anderer Völker – Mangel an Gedächtnis zum Wiedersehen]

Den Frauen schienen die männlichen Ausfälle auf den Körper und dessen Betrauern nicht recht erfreulich und siegreich vorzukommen; »so streifen sie uns«, sagte Nantilde, »unsere Leiber wie eine Raupenhaut ab und lassen uns als nackte entkleidete Seelchen herumfliegen. Ich will sogar im Himmel meinen Körper behalten und mag die Nase meiner Selina nicht um eine Viertel-Linie gerader haben als sie ist. Ich lobe mir die Auferstehung, da bekommt man seine Nase wieder und eine verklärte dazu, lieber Alex!« – »Ein oder ein paar Jahrtausende hindurch dieselbe Nase zu sehen, das will ich noch aushalten,« versetzte er, »aber Ewigkeiten hindurch vermöcht' ich wahrlich nicht, Schwester!«

So waren beide Geschwister fast in nichts einig als in ihrer Liebe gegeneinander und gegen ihre Geliebten.

Die Frauen sehnten sich, vorzüglich etwas über künftiges Wiedersehen – den Fundamentalartikel ihres Herzens – von mir zu hören und überhaupt von den Verhältnissen der menschlichen Fortdauer. Der Gesandtschaftrat stimmte mit in ihre Bitte von seiner Seite; um so mehr, sagte er, weil er hierüber recht viele Zweifel und Fragen, die aufgelöset sein wollten, vorzubringen habe. Da ich wußte wie der kräftige Gang und die warme zusammenfassende Begeisterung durch das kalte Dazwischenkriechen feindlicher Einwürfe sich abmatte und verwirre und wie mühsam am Ende nur ein immer[?] aus seinen Fugen getrieben[es] Ganze übrigbleibe: so bat ich ihn, lieber alle seine Einwürfe auf einen Haufen hintereinander zusammenzustellen und sie geradezu als zeitiger Teufels-Advokat gegen die ganze Lehre anzuführen. Er versprach sein möglichstes.

1227 Die Gesellschaft ging gegen Abend wieder auf die schöne Gewitteranhöhe, wo Selina in ihren magnetischen Schlummer gesunken war. Nantilde und selber Selina freuten sich auf Henrions Erscheinung und sogar auf einige Worte gegen die Ansichten des Teufels-Advokaten. Aber wider Erwarten widerstrebten Selinas Nerven aller Einschläferung, weil vielleicht ihre Sehnsucht darnach und ihr Ideenfeuer zu heftig brannten, oder vorzüglich weil die liebe Sonne, bei deren Untergehen sie allemal erwachte, diesmal hinter ihren Wolken blieb. – Desto bequemer konnte Alex die seinigen, seine Einwürfe, über uns herziehen lassen. Er fing also an:

»Man verzeihe mir das Durcheinander, nicht bloß Prediger haben einen Freibrief dazu, auch Leute, die aus dem Stegreif sprechen. Sie selber haben, glaub' ich, irgendwo bemerkt, daß die meisten Unglaubigen an Unsterblichkeit durch die Unbestimmtheit und Dunkelheit gebildet werden, in welche sie, wenn man ihr nähertritt, zerrinnt. Ich behaupte aber, der anfangs von der Erde her noch glänzende weiße Nebel wird immer dicker und finsterer, je länger man in ihm geht, bis man zuletzt nichts mehr, nicht einmal sich selber mehr darin sieht. Ein Leben ohne Ende, ohne Ende, wie ist dies zu erfüllen, zu ertragen? Man will die Endlosigkeit der Zeit umgehen, indem man dafür die Ewigkeit setzt, als Aufhebung aller Zeit. Aber wie kommen wir Endliche, Eingeschränkte zum Besitze einer Schrankenlosigkeit, die nur dem Unendlichen gehört? Heißen denn wir Ewige, wie er allein der Ewige? – Ist ein Gehen in die Ewigkeit aus der Zeit denkbarer als eines aus der Ewigkeit in die Zeit? – Freilich wären wir nach einer so kurzen Spanne Zeit Ewige geworden, daß wir kaum je Zeitliche gewesen. Ferner zu einer Ewigkeit gehört ein Gott, ein Allvollendeter, ein Unveränderlicher; wie sollen denn wir mit unserer Leere in eine hineinpassen?

Gleichwohl gesellen die so scharfsinnigen Theologen diesen ewigen Geistern gar ewige Leiber zu, die sie noch dazu aus hiesiger, obwohl fein durchsiebter Erde backen, so wie sie alle inwohnenden Seelen, von den gemeinsten erdigen und hölzernen an, mit gleicher Ewigkeit begaben. So wird derselbe Leib und 1228 Madensack, den der geistliche Pöbel, das Mönchtum, in der ersten Welt nicht genug aushungern, durchgeißeln und beschneiden kann, in der andern mit Ewigkeit und Verklärung belohnt, obgleich ein frommer Madensack nicht mehr Moralität hat als ein ruchloser. Nur möcht' ich wissen, wie die mehr scharfsinnigen als polyhistorischen Theologen in der Wahl der Leiber entscheiden, welchen sie einem Menschen droben unter einem ganzen Kleiderschrank aussuchen und umhängen, da er nach den gewöhnlichen Physiologen alle 11 Jahre, nach Reil aber gar alle vier Jahre stück- und teilchenweise einen neuen ansetzt und aus der alten Krebsschale schleicht.

Und welche auferstandne Leiber laufen überhaupt in der zweiten Welt herum? Lauter solche von einerlei Statur; der alte Theolog Gerhardus teilt uns im achten Quartbande seiner locorum theologicorum hierüber alle seine und fremde Meinung[en] mit. Er selber aber nimmt die Statur an, die jeder beim Tode hatte, andere aber die der ersten Eltern – noch andere die, welche man im 32. Jahre und dritten Monate (wenn man so alt wurde) besaß – Bucklichte und Krüppel gehen ganz artig und wohlgebaut einher – verstümmelte Märterer wiedererzeugen nach dem h. Augustin wie Würmer der Naturforscher, jedes abgeschnittene Glied, doch die Narben werden ihnen gelassen als Ehrenzeichen – Kinder (die schon auf der Erde schnell wachsen) sind so lang und stark wie ihre Eltern nach demselben Augustin und von Embryonen, hienieden an die Stecknadel in Spiritus gespießt, wird der Kirchenvater dasselbe behaupten müssen, obgleich dann aus ihrem Flügelkleidchen von Leib so gut als gar nichts zu machen ist und ein ganz neuer Körper geschaffen werden muß – sogar halb menschliche, halb tierische Mißgeburten läßt der Kirchenvater auferstehen, nur aber trennt er das Tier vom Menschen ab und führt diesen menschlich aus.

Darüber sind sie aber alle eins, daß ein Seliger keinen Magen und kein Gedärme – wie mehre Schmetterlinge nach ihrer Entpuppung – bei sich trage, so auch keine Milchgefäße, Nägel, Haare und mehres. Dann aber riet' ich, auch die Blutgefäße, da diese ohne Milchgefäße nichts zu tun haben, und aus 1229 demselben Grunde auch die Lunge und aus wieder demselben auch das Herz wegzuwerfen und so den ganzen auferstandnen Menschen zu einem hohlen Wachsbilde auszuweiden oder zu einer ägyptischen Mumie, die schon vor der Auferstehung ausgeleert dasteht; und die Theologen könnten so die ganze körperliche zweite Welt bloß mit verklärten Häuten und Knochen bevölkern. Denn das eigentliche Stelldichein der theologischen Grillen ist droben in der Höhe hinter dem Tode, so wie für die Fledermäuse die Pyramiden als Begräbnistürme und unsere Kirchtürme an den Kirchhöfen. Denn von dem Kirchhof aus regieren sie alle Höfe vom fürstlichen an bis zum Bauerhof, er ist ihr Märzfeld und Territorium, und der Punkt außer der Erde, den Archimedes verlangte, um sie zu bewegen, ist eben die Erde des Grabhügels.

Setzen wir einmal den Leib beiseite und sehen zu, wie es drüben oder drunten oder droben mit dem Geiste steht. Unendlich vortrefflich, sagen sie. Wie Lavater den seligen Leib in Adelstand erhebt und zum Ritter aller Orden schlägt – denn der Selige kann ihn nach Belieben unendlich zusammenziehen, unendlich auseinanderdehnen, er kann von Sonne zu Sonne schreiten, er spricht in musikalischen Tönen und zwar in mehren zugleich, so daß jede Rede ordentlich ein Konzert ist – ebenso wird die selige Seele ausgestattet mit einer Tugendhaftigkeit ohnegleichen hienieden, mit einer Detto-Kenntnis, mit einer Detto-Seligkeit. Aber wie kann denn das bloße Ablösen und Abbrechen des Körpers von der Seele, das Abbrechen der Muschelschale vom Perlenwurm auf einmal und allein – denn weiter geschieht nichts am Menschen – eine bleibend-geadelte Seele, eine reinste Unionperle geben? Wie verwandelt ein Augenblick ohne sittliche Anstrengung einen gewöhnlichen Menschen in ein moralisches Wesen, in einen moralischen Helden und Sieger, wozu hier ein zehnjähriger Tugendringer sich nicht bilden, stärken und heben konnte?

Dasselbe Wunderwerk der Vollendung tut sich am verklärten Kopfe eines Seligen [auf], bloß weil er den irdischen eingebüßt. Eine solche Wissenschaft und Kenntnis für die ganze Ewigkeit 1230 hindurch entwickelt sich auf einmal im Geiste in einem Nu und Ruck, und mit solcher Pracht und Fülle bricht und platzt der Erkenntnisbaum wie eine Aloe mit ihren ein Halbjahrhundert verhakenen [Blüten] in einer Nacht, z. B. bei einem Handwerker, den Weltweise ein Leben lang beschämen konnten, in der Nacht des Sterbens auf – und die Irrtümer des Denkens sind dort nicht etwa so selten wie hier bei uns Wahrheiten, sondern alles Irren ist dort so wenig mehr menschlich und jeder Selige hat durch die Ewigkeit hindurch so unerwartet immerfort recht als eine vox populi oder eine Papst-Reihe – daß man den so scharfsinnigen Theologen, welche dies alles behaupten, ordentlich den Tod und Himmel wünscht, um nur an ihnen selber und diesen Behauptungen selber den besten Beweis zu sehen.

Nach den beiden unsterblichen Sprüngen (salto immortale) oder Sprungflügen zur himmlischen Frömmigkeit und zur himmlischen Einsicht wird der dritte getan, der zur himmlischen Seligkeit; und zwar wieder durch das Abwerfen des alten Elias-Mantels von Körper und das Ausbreiten des Faust-Mantels von einem verklärten. So versprechen sich nun alle arme Teufel von Völkern, jeder sich droben nach einem mit Freuden nur selten durchbrochnen Wolken-Leben [nicht] etwa ein paar Sonnenblicke mehr, sondern sogleich einen ganzen vollen Polar-Sonnentag, ein Höchstes und ein Längstes der Wonne. Da nun der Mensch in der Unterwelt nur eine Wiederholung und Verdopplung der Oberwelt antrifft, oder voraussetzt, so wie der aufgedeckte Meerboden unten die Berge, die Täler, den Grasboden und sogar die Quellen der Landoberfläche wiederholt: so setzt sich freilich bei dem Lappen der Himmel aus Renntieren zusammen und dem Grönländer aus Seehunden und dem Otaheiter aus Brotbäumen, an denen aber die Frucht schon gar und gut ausgebacken und zu essen ist – Welches ganz anderes Himmelreich bereitet sich dagegen der Jude, der eben an Festtagen reich ist wie der Christ an Fasttagen, vollends zu, nämlich durch den Lebensbaum im Paradiese, wovon er 500 000 köstliche Früchte brechen kann, und durch zwei besondere Himmel für jeden Weisen, worin ein Freuden-Extrakt von 310 Welten zu genießen steht. – 1231 Schwedenborg nimmt weit weniger Freuden seliger Geister an, nämlich nur 478 Gattungen. Und jede Jüdin gebiert dem Juden jeden Tag ein KindFlügges Geschichte des Glaubens an die Unsterblichkeit B. 1. – So zeigt [sich] hier wieder, wie ich schon bei ihrer Beschreibung ihres Nationalgottes angemerkt, ihre bettelhafte Phantasie in bloßen Dithyramben von bloßen Zahlen als wäre das dichterische Leben ein kaufmännisches., was bei der Menge der Tage in einer Ewigkeit schon eine bedeutende Nachkommenschaft und Judenschaft auswirft. Das tägliche Gegenteil der verklärten Jüdin wird die Houri des Türken, nämlich nicht eine Mutter sondern eine Jungfrau. Nur das Christenvolk hat einen farblosen durchsichtigen, die Erde nicht widerspiegelnden Himmel, der für [das] gemeine Christenvolk bloß die letzten Messiade-Gesänge voll Gesänge, Gebete und Langweile sein muß, oder die andere Welt ein Maskensaal voll Völker in lauter Andachtübungen. Daher auch mehr die Höllenscheu den gemeinen Mann abtreibt als die Himmellust anspornt, in der er seine hiesige Andacht mit unaufhörlicher droben belohnet antrifft und die er sich höchstens in seinem Glaubens-Wirrwarr noch durch die Hoffnung des ewigen Ausruhens versüßt. – Aber mit welcher Möglichkeit (und mit welchem Rechte) nehmen die sonst so scharfsinnigen Theologen eine höchste und noch dazu unaufhörliche Freude künftig an, da die menschliche Natur ihre größern Freuden nicht nach einer großen Freude, sondern nach einem großen Schmerzen empfindet? Die Erde bereitet uns eben nicht auf Aushalten der Freuden vor durch hiesige. Zum Glücke aber stellen die denkenden Leichenprediger die Seligkeit so unbestimmt, gestaltlos, so entfremdet dar, daß ihre Grenzenlosigkeit doch Platz im menschlichen Herzen finden kann; und nur eine einzige ewige Freude haben sie dem hiesigen Leben nachkopiert, das Wiedersehen und Fortlieben.«

– »Ach, diese Liebe und die Liebe zu Gott sind schon genug für die Ewigkeit«, sagte leise Selina, um nicht zu unterbrechen.

Der Gesandtschaftrat hatt' es gehört; fuhr aber unbefangen fort und sagte: »Besonders macht das Wiedersehen und Wiederlieben in den Fragstücken des weiblichen Glaubens-Katechismus den ersten Artikel, denn ihr Herz entwirft sie. Zum 1232 Wiedererkennen oder Wiedersehen gehört Wiedererinnrung, zu dieser Gedächtnis und dazu doch einiges Gehirn. Woher sollen [wir] aber, wenn schon bei Drücken, Überfüllen, Einschlafen und Verkleinern des Gehirns ein hiesiges Leben hier vergessen wird, irgendeine Gedächtnissäule in einer ganz andern Welt auftreiben, wenn alle vier Gehirnkammern eingestürzt sind und verstäubt? Jede große Umkehrung in einen neuen Zustand bedeckt mit ihm den vorigen, wie eine Oberfläche die Unterfläche, z. B. in den zahm gemachten Wildniskindern, ja schon in den europäisch gebildeten Wilden erlischt das Andenken ihrer ganzen Vergangenheit. Versandet nun die Erinnerung des hiesigen Lebens schon bei einigen Wellen des hiesigen selber: wie soll sie unbegraben durch das Totenmeer durchkommen und – in einer ganz fremden Welt ohnegleichen voll neuer unverbundner Zustände fortbestehen? Ebensogut könnte der feurige Jüngling sich seiner Lebens-Geschichte als Fötus und der frohen und trüben Tage erinnern, die er mit seinen Mit-Zwillingen durchlebte.

– Aber das Wiedersehen erfolge: so weiß ich nicht wie die meistens erbärmlichen Erdenherzen und Erdengesichter eine Ewigkeit lang auszuhalten. Immer vergessen die Leute bei der Verpflanzung ihrer vorüberschießenden Erdenverhältnisse in die zweite Welt die ewige Dauer, die sie dadurch diesen Eintagfliegen aufnötigen. Ebenso vergessen sie bei dem Übertragen und Verewigen ihres engen Lebenskreises und Lebenslaufs die Geistermillionen, die Weltenmillionen [und] ihr eignes erhöhtes Selbst.

Die Verdammten ließ ich bisher in meiner Teufels-Advokatur ganz aus; gibts keine Seligen, so fallen die Verdammten ohnedies weg. – So viel ist ersichtlich, je näher man der zweiten Welt, desto mehr verliert sie ihre Farbe und Gestalt, wie auch der physische Himmel sein heiteres Blau einbüßt, je näher man ihm auf Bergen zusteigt, bis er endlich als schwarzes Leichentuch sich über die Welt ausspannt.

Jetzo bin ich fertig«, sagte Alexis – Bei diesen Worten trat plötzlich die Sonne aus dem Wolkenhimmel und ging unter mit warmem Scheideblick auf uns. 1233

 


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