Jean Paul
Die unsichtbare Loge
Jean Paul

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Gustav trug, so kalt wie der Tote, den Eingeschlafnen aufs verlassene Lager – ohne Träne, ohne Laut, ohne Gedanken setzte er sich ins verhüllte Mondlicht und ins herflimmernde Leichenlicht – der starre Freund ohne Bewegung lag ihm gegenüber – Amandus war eher als die Mondkugel aus dem Erdschatten geflogen – Gustav sah nicht auf den Toten, sondern auf den Mond (in der dichtesten Trauerstunde sieht man vom Gegenstande weg auf den kleinsten hin): »Streife nur hin,« dacht' er, »Schatten der Kugel aus Staub, du liegst noch über mir.... aber ihn erreicht deine Spitze nicht.... alle Sonnen liegen nackt vor ihm.... o Eitelkeit, o Dunst, o Schatten, wo ich noch bin.«... Plötzlich schlug die Flötenuhr ein Uhr und spielte ein Morgenlied des ewigen Morgens, so aufrichtend, so herübertönend aus Auen über dem Mond, so schmerzenstillend, daß die Tränen, unter denen sein Herz ertrank, den Schmerzendamm umbrachen und sanftern, weniger tödlichen Empfindungen ein Bette ließen.... Es war ihm, als läge sein Körper auch ausgeleert neben dem kalten und seine Seele flöge auf der breiten, durch alle Sonnen gehenden Lichtstraße der vorausgeeilten nach.... er sah sie vorausziehen.... er sah durch den Dunst der paar Jahre, die zwischen ihr und ihm selber lagen, deutlich hindurch....

Und mit seiner Seele im Gesicht trat er aus dem Totenzimmer in das Zimmer des Vaters und sagte mit irdischer Wehmut im Auge und himmlischer Heiterkeit im Angesicht: »Unser Freund hat unter der Mondfinsternis ausgekämpft und ist dort.«

– Ach sein Leben in seinem wurmstichigen Körper war ja eine wahre totale Mondfinsternis; sein Austritt aus dem Leben war der Austritt aus dem Erdschatten und sein Verweilen im Schatten nur kurz.

Gustav war durch kein Zureden im Trauerhause zu erhalten. Wenn dem Herzen der Körper zu enge ist: so wird es ihm auch die Stube. Er ging nach Marienhof. Unter dem blauen Gewölbe, an dem kristallisierte Sonnentropfen hängen, und unter dem kämpfenden Monde, der wie er von seiner Beschattung rot glühte, begegneten ihm Gedanken, die über die menschlichen Farben erhaben sind so wie über die Erde. Wer in solchen Stunden nicht die Kahlheit dieses Lebens und das Bedürfnis eines zweiten so lebendig fühlt, daß das Bedürfnis feste Hoffnung wird: mit diesem streite keiner über das Höchste unsers tiefen Lebens.

Unter dem Getümmel des Sterbetages, der ihn sonst in eine ganz dunkle Einsamkeit fortgetrieben hätte, ging er doch nach Marienhof; der Verstorbene hatte ihn gebeten, es zu machen, daß er sein Winterlager für seine Gebeine auf dem Eremitenberg bekäme, den er so oft bestiegen hatte und dessen Erscheinungen uns bekannt sind. Gustav hofft' es leicht von der Residentin auszuwirken, da sie ohnehin selten und nur gewisse Partien des stillen Landes betrat. Oefel sagte aber – am Morgen, wo er ihn bei seiner Bitte zu Rat zog, – gerade umgekehrt, wenn ihr um den Park und dessen bauliche Würden zu tun wäre: so müßte sie da etwas recht gern begraben lassen, weil es den besten englischen Gärten an Toten und wahren Mausoleen so sehr fehlte, daß sie bloß nachgemachte Vexier-Mausoleen hätten. Oefel erbot sich, einige Verzierungen in einem Geschmacke, daß sie der Hof goutierte, für das Grabmal zu entwerfen. Gustav war bloß heute zu weich, ihn heute zum ersten Male zu verachten. Wie ganz anders hörte die Residentin seiner Bitte und gedrängten Stimme zu, ob er gleich kein Zeichen seines Schmerzes zu geben arbeitete! Wie teilnehmend – mit einer Miene, als legte sie leise eine Rose in des Toten Hand – schenkte sie dem letzten das Stückchen Erde zum Ankerplatz! Wie schön begleiteten ihre vollen Augen dieses Geschenk mit dem Geschenk aus ihrem weichen Herzen! Und als der fremde Kummer seinem eignen den Sieg wiedergab: mit welchem schönen Trost – nie ist die weibliche Stimme schöner als im Trösten – bestritt sie ihn! – Er fühlte hier den Unterschied zwischen Freundschaft und Liebe lebendig; und er gab ihr die erste ganz. Er war froh, den Gegenstand der letzten nicht da zu finden, weil er die Verlegenheit der ersten Blicke scheuete. Beata lag krank.

Er sperrte sich ein; er machte seine Brust jenem Schmerze auf, der nicht wohltätige blutende Wunden in sie schneidet, sondern ihr dumpfe Schläge gibt, jenem nämlich, der in dem Zwischenraum zwischen dem Todes- und dem Begräbnistage bei uns ist. Der letzte war am Sonntage, wo ich meinen Sektor betrübt bloß mit Ottomars Briefe ausfüllte und wo ich so traurig schloß. Ich tats gerade in der Stunde, wo der Entschlafne aus dem kleinen Sterbebette ins große Bette aller Menschen getragen wurde, wie die Mutter die auf Bänken entschlummerten Kinder in die größere Ruhestätte legt. Sonntags floh Gustav aus dem Schlosse, wo die lärmenden Staatswägen und Bedienten gleichsam über sein Herz gingen, mit eingehüllten Sinnen hinaus. Er fühlte zum ersten Male, daß er auf der Erde nicht einheimisch sei, das Sonnenlicht schien ihm das in unsere Nacht gewebte Dämmerlicht eines größern Monds zu sein. Ob er gleich jetzo seinem weggerückten Freunde sich auf dieser Erde weder nähern noch entziehen konnte: so sagte sein Schmerz doch, es würde ihm, wenn er auch nicht den Leichnam, nicht den Sarg, sondern nur das Grabes-Beet umfaßte, das auf diesen Samen einer schönern Erde drückte, es würde ihm Tröstung werden; und er stellte sich daher auf einen entfernten Hügel, um zu sehen, ob noch Leute auf dem Eremitenberge wären.

Sein Auge begegnete gerade dem größten Jammer, den es an diesem Abend für ihn hienieden gab: der durch den Abend hindurch blinkende weiße Sarg wurde herausgehoben – eine entzweifallende Rose, eine durchlöcherte Puppe, ein sich ausspannender Schmetterling, der jene als Würmchen zernagt hatte, waren auf die Sargpuppe gemalet und kamen mit ihren beiden Urbildern unter die Erde – der kinderlose Vater stützte sich mit Hand und Kopf an die Pyramide und hörte hinter seinen verhüllten Augen jede Erdscholle wie den Flug eines niederbohrenden Pfeiles – der kalte Nachtwind kam vom Totenberg zu Gustav herüber – Zugvögel eilten wie schwarze Punkte über sein Haupt davon, und der Naturtrieb, nicht die Länderkunde führte sie durch kalte Wolken und Nächte zu einer wärmern Sonne – der Mond arbeitete sich aus einem Blutmeere von Dünsten ohne Strahlen herauf – endlich verließen die Lebendigen den Berg und den Toten – bloß Gustav blieb auf dem andern Hügel bei ihm, die Nacht ruhte schwer hingestreckt um beide.... Genug!

Schenkt mir diese Totengräberszene! Ihr wisset nicht, welche herbstliche Erinnerungen dabei mein Blut so leichen-langsam machen wie meine Feder: ach in diese Geschichte schreib' ich ohnehin ein Blatt, ein Trauerblatt, dessen breiter schwarzer Rand kaum den Zügen und Klagen mit Tränen eine weiße enge Stelle lässet – ich schenk' euch diese Szene auch; denn ich weiß auch nicht, Leser mit dem schönern Herzen, wen ihr schon verloren habt, ich weiß nicht, welche liebe dahingegangne Gestalt, deren Grab schon so eingesunken ist als sie selber, ich gleich einem Traume wieder auf ihrer Grabplatte in die Höhe richte und eueren tränenden Augen von neuem zeige, und an wie viel Tote ein einziges Grab erinnere!

Verschwundner Amandus! in dem großen breiten Heer, welches das Leben dem feindlichen Tod von Jahrhundert zu Jahrhundert entgegenschickt, gingest du wenige Schritte mit, er verwundete dich oft und bald; deine Kriegkameraden legten Erde auf deine großen Wunden und auf dein Angesicht – sie kämpfen fort, sie werden dich von Jahr zu Jahr unter ihrem Kriege mehr vergessen – in ihre Augen werden Tränen kommen, aber um dich keine mehr, sondern um Tote, die erst begraben werden – und wenn deine Lilien-Mumie sich auseinander gebröckelt hat, so denkt man nicht mehr an dich; bloß der Traum lieset noch deine in den Erdball gemengte Pastell-Gestalt zusammen und schmücket mit ihr im graugewordnen Kopfe deines Gustavs seine hinter dem Leben ruhenden Jugend-Auen, die wie der Venusstern am Himmel des Leben-Morgens der Morgenstern und am Himmel des Leben-Abends der Abendstern sind und flimmern und zittern und die Sonne ersetzen.... Ich mag nicht zu deiner Seelen-Scheide, zum Leichnam, sagen: Amandus! liege sanft. Du lagst in ihr nicht sanft; o noch jetzo dauert mich dein unsterbliches Ich, daß es mehr in seinem knappen Nervengebäude als im weiten Weltgebäude leben mußte, daß es den edeln Blick nicht zu Sonnenkugeln aufheben, sondern auf seine quälenden Blutkügelchen einkrümmen und für die große Harmonie des Makrokosmus seltner Wallungen fühlen als für die Mißlaute seines Mikrokosmus! – Die Kette der Notwendigkeit schnitt tief in dich ein, nicht bloß ihr Zug, auch ihr Druck führte dich Narben zu.... So jämmerlich ist der Lebendige! Wie können von ihm die Toten ein Andenken verlangen, da er schon, indem er darüber redet, ermattet....

Als nun Gustav zu Hause war, setzte er einen Brief an den Doktor auf; der ringende Kummer, worin dieser sich an die Pyramide gelehnt und gehalten hatte, bewegte ihn unaussprechlich; und er fiel im Briefe ihm an diese zersplitterte wunde Brust und mehrte ihre Schmerzen durch seinen Liebedruck, indem er ihn bat, ihn zum Sohne anzunehmen und sein väterlicher Freund zu werden.

Mit der hohen Flut der Traurigkeit entschuldige man es, daß Gustav, der bisher immer die Paroxysmen seiner Empfindungen zum Besten des andern versteckte, sie hier auf Kosten eines andern hervorbrechen ließ. Sein Schmerz ging so weit, daß er vom Vater den Alltagrock und Hut des Seligen statt seines Kniestückes begehrte; er fühlte wie ich, daß Alltagkleider die besten Schattenrisse, Gipsabgüsse und Pasten eines Menschen sind, den man lieb gehabt und der aus ihnen und dem Körper heraus ist. – Die Antwort des Doktors lautet so:

 

»Ich habe mich oft an die Polster meines medizinischen Wagens gelehnt und mir vorgestellt und vorgenommen, wenn ich einmal graue Augenbraunen und Kopfhaare oder gar keine mehr habe – wenn mir alle Jahrzeiten immer kürzer und alle Nächte darin immer länger vorkommen, welches vor der Annäherung der längsten vorausgeht – wenn ich dann in den ersten Frühlingtagen ins stille Land hinausgehe, um meinen kalten interpolierten Körper zu sonnen – wenn ich dann außen die klebenden treibenden Knospen sehe, unter denen ein ganzer Sommer steckt, und in mir innen das ewige Abblättern und Umbeugen, das kein Erdenfrühling heilt – wenn ich mich dann doch an meine eigne Jugend erinnere, an meine Spazier-Gallopaden um Scheerau, an die in Pavia und an die Leute, die mit mir gingen – wenn ich mich dann natürlicherweise nach denen umsehe, die mir vom gefallnen Tempel meiner Jugend noch als hohe Ruinen stehen geblieben – und wenn mich dann, weil ich mich umdrehe, um zu schauen, ob keiner aus Wäldern, über Wiesen, von Bergen an einem so schönen Tage zu mir gegangen kommt, der Gedanke wie Herzklopfen anfällt, daß nach allen vier Welt-Ecken, wohin ich mich gedrehet, Gottesäcker und Kirchen liegen, in denen die, die mich jetzo trösten und begleiten sollen, unter der undurchsichtigen Erdrinde und ihrem Blumenwerk mit geraden Armen versteckt und gefangen liegen, und daß bloß ich allein außen geblieben und den Herbst in meiner Brust hier im Frühling herumtrage: so werd' ich gar nicht ins stille Land gehen, sondern einsam nach Hause gehen und mich einschließen und meinen Kopf auf den Arm mit den Augen legen und wünschen, daß mir das Herz breche, so gut wie meinen Bekannten; ich werde sagen, ich wollt', es wäre vorbei. Dann, geliebter Sohn, geliebter Freund (der du als der Jüngste meiner Freunde mich schon überleben wirst), wird deine Gestalt vor meine satten müden Augen treten, dann werde ich sie auswischen und mich an alles erinnern, und deine Hand wird mich doch ins stille Land hinausführen, ich werde den Frühling der Erde so lange genießen, als ich ihn besehen kann, und ich werde dir mit drückender Hand ins Gesicht sagen: es tut mir heute recht wohl, daß ich dich vor vielen Jahren zum Sohne angenommen....

Morgen will ich kommen, um meinen Freund zu einer Reise auf die nächsten Tage mitzunehmen, damit wir den vergangnen aus dem Wege gehen.« – Am andern Morgen geschahs.


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