Jean Paul
Die unsichtbare Loge
Jean Paul

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Siebzehnter Sektor

Abendmahl – darauf Liebemahl und Liebekuß

O geliebter Gustav! die ausgewinterten Tage unserer Liebe schlagen in meinem Dintenfasse wieder in Blüten aus, indem ich sie vorzeichne! Hast du, Leser, irgendeinen Frühling deines Lebens gehabt, und hängt noch sein Bild in dir. so leg es im Wintermonat des Lebens an deinen warmen Busen und gib seinen Farben Leben, wie Erwärmung das unsichtbare Frühlinggemälde des Ofens enthüllt und belebt – denk dir alsdann deine Blumentage, wenn ich unsere zeichne..... Unsere vier kleinen Wände waren die Staketen eines reichern Paradieses, als sich durch einen Augarten ausstreckt, unser Kirschbaum am Fenster war unser Dessauisches Philanthropinwäldchen, und zwei Menschen waren glücklich, ob sie gleich befahlen und gehorchten. Das Maschinenwerk des Lobes, das ich in dem Regulativ meinem Hofmeister so sehr anpries, legt' ich beiseite, weil es nicht an einen, sondern an eine ganze Schule anzusetzen ist: mein Paternosterwerk war seine Liebe zu mir. Kinder lieben so leicht, so innig; wie schlimm muß ders treiben, den sie hassen! Auf der Skala meiner Strafen-Karolina oder Theresiana standen – statt der pädagogischen Ehren- und Leibesstrafen – Kälte, ein trauernder Blick, ein trauernder Verweis und die höchste, das Drohen, fortzugehen. Kinder von zartem Herzen und von einer immer durch den Wind aufgehobnen Phantasie wie Gustav sind am leichtesten zu wenden und zu drehen; aber auch ein einziger falscher Riß des Lenkseils verwirrt und verstockt sie auf immer. Besonders sind die Flitterwochen einer solchen Erziehung so gefährlich wie die in der Ehe mit einer feinfühlenden Frau, bei welcher ein einziger kakochymischer Nachmittag durch keine künftigen Jahr- und Tagzeiten wieder auszutilgen ist. Ich wills nur bekennen: eben einer solchen sensitiven Frau wegen bin ich Hofmeister geworden. Da die Weiber (hieß es in mir) in einem auffallenden Grade alle Vollkommenheiten der Kinder haben – die Fehler derselben schon weniger –: so kann ein Mensch, der an den so weit auseinanderstehenden Ästen der Kinder sein Gespinste anzukleben und anzuziehen weiß, d. h. der sich in Kinder schicken kann, so sehr schlimm unmöglich fahren als andre, wenn er – heiratet.

Wo der Tadel das Ehrgefühl des Kindes versehrte, da unterdrückte ich ihn, um meine Kollegen in der Runde durch das Beispiel zu lehren, daß das Ehrgefühl, das unsere Tage nicht genug erziehen, das Beste im Menschen sei – daß alle andre Gefühle, selbst die edelsten, ihn in Stunden aus ihren Armen fallen lassen, wo ihn das Ehrgefühl in seinen emporhält – daß unter den Menschen, deren Grundsätze schweigen und deren Leidenschaften ineinanderschreien, bloß ihr Ehrgefühl dem Freunde, dem Gläubiger und der Geliebten eine eiserne Sicherheit verleihe.

Sieben Tage früher, als recht war, kommunizierte mein Gustav; denn das Konsistorium – die Ferne der Pfarrherren, die Pönitentiaria der Gemeinden und die Widerlage der Regierung – schickte uns mit Vergnügen als geistige Fastendispensation oder Alters-Erlaß (venia aetatis) diese sieben Tage, um welche sein Kommunion-Alter zu leicht war, für ebensoviel Gulden geschenkt aufs Schloß heraus. Mein Zögling mußte also – der geschickteste Religionlehrer saß vergeblich zu Hause – wöchentlich zweimal zum dummen Senior Setzmann in Auenthal abmarschieren, der zum Glück kein Jurist wie ich war und in dessen Pfarrwohnung ein Rudel Katechumenen die Schnauzen in geronnene Katechismus-Milch stecken mußten – Gustav brachte statt des Tier-Rüssels einen zu kurzen Mund mit.

Gleichwohl war der Senior Setzmann nicht übel; auf einem Parlaments-Wollensack hätt' er sich zu einem Redner gesessen, d. h. zu einem Ding, das unter den Personen, die ihm anfangs nicht glauben, zuerst seine eigne überredet – Ein Redner ist so leicht zu überreden, als er überredet – Der Senior war jeden Sonntag in den ersten Stunden nach der Predigt fromm genug; er kann zwar verdammt werden, aber bloß Mangel an Predigten würd' es tun und der an Bier. Eine vernünftige Betrunkenheit kommt beides dem aszetischen und dem poetischen Enthusiasmus unglaublich zustatten. Die Leser sind meine Freunde nicht, welche sagen, aus bloßem Ärger und Neid – daß mein Gustav seine Stunden hörte – schrieb' ich es hier in die Welt hinaus, daß der Keller die Pauls- und Peterskirche des Seniors war – daß seine Seele, wie geflügelte Fische, nur so lange emporflog, als die Schwingen eingeölet waren – daß er immer betrunken und gerührt zugleich erschien und eher nicht in den Himmel hineinbegehrte, als bis er ihn nicht mehr sehen konnte. Hermes und Oemler sagen, ich würde Ärgernis vermeiden – obgleich das Beispiel Setzmanns ein größeres geben muß als der Spaß darüber –, wenn ichs lateinisch vortrüge, daß die aquae supra coelestes seiner Augen allemal seine zwei Schuh tiefern humores peccantes begleiteten.

Gustav ging an wehenden Frühlingnachmittagen auf jungem Grase zu ihm und freuete sich unterwegs auf zwei hübsche Dinge –: erstlich auf diesen Missionar der heidnischen Dorfjugend selber, dessen schwärmerischer Atem Gustavs Ideen, deren jede ein Segel war, wie ein Sturmwind bewegte und der besonders in der letzten, sechsten Woche, wo er die jungen Sechswöchner über den Leisten des sechsten Hauptstücks schlug, meines Gustavs Ohren so verlängerte, daß zwei Flügel daraus wurden, die mit seinem Köpfchen davongingen. – Zweitens spitzte dieser sich auf eine breite Binde über einem breiten Halstuch und dergleichen Schürze, welches alles noch dazu so blütenweiß war wie er und am schönsten Leibe in der ganzen Pfarrei saß – an Reginens ihrem, welche darin sich auf das zweite Kommunizieren vorbereitete. So etwas, mein Gustav, machte dich ganz natürlich aufmerksamer als zerstreuet – und wenn mir das Scholarchat nur eine halbe solche Muse statt des Bauchkissens meines lecken Konrektors auf dem Lehrstuhle entgegengestellt hätte: Himmel! ich würde gelernt haben, ferner memoriert, ferner dekliniert, desgleichen konjugiert, und endlich exportiert! – Deshalb war es zweitens eben keine Hexerei, Gustav – da bloß dein Ohr der Windseite vom Pastor entgegenlag, das Auge aber der Sonnenseite von Reginen –, daß du wenig dir aus der halben Stunde machtest, die der Senior darüber gab, um sein Gewissen zum Narren zu haben. Er hielt, um den Frais- und Zentherrn und Feimer im Herzen, das Gewissen, stille zu machen, seine Kinderlehren eine halbe und seine Predigten dreiviertel Stunden länger als die ganze Diözes. Der Mensch tut lieber mehr wie seine Pflicht als seine Pflicht.

Da Gustav nicht wußte, daß Mädchen nichts übersehen und alles überhören: so war ihm der ganze Katechismus ein Liebebrief, in dem er sich mit ihr unterredete. Wenn sie dem Senior zu antworten hatte: wurd' er rot; »der Senior«, dacht' er,»kann sein Fragen und Quälen nicht verantworten«, und sein Sehnerve wurzelte auf ihrem Gesichte.

Da die Falkenbergischen kein besonderes Kommunizierzimmer mit samtnen Dielen hatten: so ging meine Pate, der Rittmeister, an der Spitze ihrer Lehnleute um den Altar; also auch Gustav.

Am Beichtsonnabend – O ihr stillen Tage meiner frömmsten Entzückungen, geht wieder vor mir vorüber und gebt mir euere Kinderhand, damit ich euch schön und treu beschreibe! – Am Sonnabend ging Gustav nach dem Essen – schon unter demselben konnt' er vor Liebe und Rührung seine Eltern kaum ansehen – die Treppe hinauf, um nach einer so schönen Sitte den Seinigen seine Fehler abzubitten. Der Mensch ist nie so schön, als wenn er um Verzeihung bittet oder selber verzeiht. Er ging langsam hinauf, damit seine Augen trocken und seine Stimme fester würde, aber als er vor die elterlichen kam, brach ihm alles wieder, er hielt lange in seiner glühenden Hand die väterliche, um etwas zu sagen, um nur die drei Worte zu sagen: »Vater, vergib mir«; aber er fand keine Stimme, und Eltern und Kind verwandelten die Worte in stille Umarmungen. Er kam auch zu mir... in gewissen Verfassungen ist man froh, daß der andre in der nämlichen ist und also unsre vergibt... Ich wollt', Gustav, ich hätte dich jetzt in meiner Stube. – Wenn Kinder sich Gott – nicht wie Erwachsene als ihresgleichen, nämlich als ein Kind, sondern – als einen Menschen denken: so ist das für ihr kleines Herz genug. Gustav ging nach diesen Abbitten wankend, zitternd, betäubt, wie wenn er das sähe, was er dachte – Gott –, in die verlassene Kindheithöhle hinab, wo er unter der Erdrinde erzogen wurde und wo seine ersten Tage und ersten Spiele und Wünsche begraben lagen. Hier wollt' er knien und in dieser zerbrochnen Andachtstellung, worin der Genius der Sonnen und Erden in jener vielleicht frömmsten Zeit unsers Lebens alle gefühlvolle Kinder erblickt, seine ganze Seele in einen einzigen Laut, in einen einzigen Seufzer verwandeln und sie opfern auf dem Dankaltar; aber dieser größte menschliche Gedanke riß sich wie eine neue Seele von seiner los und überwältigte sie – Gustav lag, und sogar seine Gedanken verstummten... Aber die Stimme wird gehört, die in der Brust bleibt, und der Gedanke gesehen, der zurücksinkt unter den Strahlen des Genius; und in der andern Welt betet der Mensch seine hiesigen verstummten Gebete hinaus. – – –

Am Abende dieses heilig-seligen Tages trug eine wiegende Ruhe auf ihren sichern Händen sein überfülltes Herz; er schlug nicht gewaltsam die kurzen Kinder- und Menschen-Arme um die Freude, sondern diese schloß die Mutterarme leis' um ihn. Dieser Zephyr der Ruhe wehte – anstatt daß der Orkan des Jauchzens den Menschen durch und wider alles reißet – noch am Pfingsttage spielend um sein Leben voll kleiner Blüten, und sein Wesen lag wie auf einer sanft tragenden Wolke, da die heitere Pfingstsonne ihn fand; aber als der Blumengeruch der geschmückten Brust, das Gefühl des pressenden, rauschenden Anzugs, das Glockengeläute, dessen fortlaufende Töne wie goldne Fäden um alle einzelne Auftritte liefen und sie in einem verbanden, der Birkenduft und das grüne Helldunkel der Kirche, sogar das Fasten, da all dies seine Gefühle und seine Blutkügelchen in fliegende Kreise warf: so stand in seiner Brust eine angezündete Sonne; das Bild eines tugendhaften Menschen brannte nie in so großen, über die Wolken hinaustretenden Umrissen vor ihm als da! – –

Aber der Abend! – Die kleinen Kommunikanten spazierten da mit leichterem Herzen und vollerem Magen in sittsamen Gruppen herum und fühlten Essen und Putz. Gustav – von dessen Flammen das Abendessen einiges überleget hatte, wiewohl sich noch eine sanfte Glut verhielt – wandelte seinen Garten, da sein Kopf kein Tanzplatz, sondern eine Moosbank froher Gefühle war, langsam auf und ab und zog die eingeschlafnen Tulpenblätter auseinander, um aus diesem Blumenkerker manches verspätete Bienchen loszulassen. Endlich lehnte er sich an den Türstock des hintern Gartentürchens und sah sehnend über die Wiesen ins Dörfchen hinab, wo die gereiheten Eltern zusammen plauderten und den Kindern mütterlich-eitel nachschaueten, welche heute zum ersten und wohl zum letzten Male spazieren gingen, weil Bauern und Morgenländer nur Sitzen lieben. Da rückte ein scheues Bauerkinder-Pikett behutsam um die Gartenmauer herum, weil dasselbe den alten Starmatz, den Gustav heute mit seinem Bauer ins Freie getragen, gern näher hören wollte in seiner echt-ironischen Laune voll derber Schimpfwörter. Kinder sind in fremden Kleidern und an fremden Orten sich fremd; aber Gustav hatte seinen Leitton, um mit ihnen ins Gespräch überzugehen, zum Glücke bei der Hand, den Matz, mit welchem er bloß in eines zu geraten brauchte. Und alles gelang; und die redenden Künste des Vogels machten bald die Konversation so allgemein und unbefangen, daß man über alles mit allen sprechen konnte. Gustav fing an Geschichtchen zu erzählen, aber vor einem jüngern und billigern Publikum als ich; seine Geschichtchen erdachte und erzählte er im nämlichen Augenblick, und seine Phantasie stieß mit ihren Flügeln im unermeßlichen Tummelplatz an nichts. Überhaupt erfindet man gescheitere Contes unter dem Sprechen als unter dem Schreiben, und Madame d'Aunoy, die ich lieber heiraten als lesen möchte, würde uns großen Kindern bessere Feenmärchen gegeben haben, wenn sie solche vor den Ohren der kleinen erfunden hätte.

Unter dem Vorwande des Niedersetzens lud und bat er sein ganzes Hör-Publikum auf einen Altan, der um einen Lindenbaum im Garten samt einer Treppe geflochten und gewölbet war.... Ich lasse so zeitig meine Leser nicht herab; denn Bienen, Bildschnitzer und ich lieben Linden sehr, jene des Honigs, diese des weichen Holzes und ich des weichen Namens und des Duftes wegen.

Aber hier ist noch etwas ganz anders zu lieben – Drei Kommunikantinnen horchten zur offnen Gartentür hinein und verdoppelten von weitem den Hörsaal: mit einem Worte, Regina war darunter und ihr Bruder schon mit droben; die Galerie oder die Logen mußten endlich – da das Hinaufrufen nichts half – das weibliche Parterre hinaufzerren. Ich erzähle selber jetzt feuriger nach; kein Wunder, daß auch Gustav es tat. Regina setzte sich am weitesten von ihm, aber ihm gegenüber. Er fing eine ganz frische Historie an, weil das bureau d'esprit viel stärker geworden. Ein elendes blutjunges Mädchen – Kinder wollen in der Geschichte am liebsten Kinder – malte er vor, eines ohne Abendbrot, ohne Eltern, ohne Bett, ohne Haube und ohne Sünden, das aber, wenn ein Stern sich putzte und herunterfuhr, unten einen hübschen Taler fand, auf dem ein silberner Engel aufgesetzt war, welcher Engel immer glänzender und breiter wurde, bis er gar die Flügel aufmachte und vom Taler aufflog gen Himmel und dann der Kleinen droben aus den vielen Sternen alles holte, was sie nur haben wollte, und zwar herrliche Sachen, worauf der Engel sich wieder auf das Silber setzte und sehr nett da sich zusammenschmiegte. – Welche Flammen schlugen unter dem Schaffen aus Gustavs Worten heraus, aus seinen Augen und Mienen in die Zuhörerschaft hinein. Noch dazu stickte nebenbei der Mond die Lindennacht auf dem Fußboden mit wankenden Silber-Punkten – eine verspätete Biene kreuzte durch den glühenden Kreis und ein schnurrender Dämmerungvogel um einen bekränzten Kopf – auf dem Doppel-Grund von Lindengrün und Himmelblau zitterten Blätter neben den Sternen – der Nachtwind wiegte sich auf dünnem Laube und auf Goldflittern der geputzten Regina und bespülte mit kühlen Wellen ihre Feuerwange und Gustavs Flammenatem.... Aber wahrhaftig ich behaupte, den Katheder brauchte er nicht einmal, so herrlich waren Katheder und Redner. Wie konnt' ihm dieser nötig sein, da er der Braut Christi und seiner eignen erzählte; da der ganze heutige Tag mit seinem blendenden Nimbus wieder aufstand; da er das Mitleid in die Brust der unbefangenen Kinder einführte und aus ihren Augen es wieder vorpreßte; und da er gewisse weibliche sich benetzen sah.... Seine eignen zergingen in Wonne, und er dehnte sein Lächeln immer weiter auseinander, um damit sein Auge zu bedecken, das sich schon schöner bedecket hatte. – – »Gustav!« hatt' es schon zweimal vom Schlosse her gerufen; aber in dieser seligen Stunde hörte es keiner; bis zum dritten Male die Stimme nahe unten im Garten erklang. Die betäubte geheime Gesellschaft rollte die Treppe hinab; – neben Gustav verweilte nur noch Regina unter der dunkeln Laube, um eiligst mit ihrer Schürze die Spuren der Erzählung aus den Augen zu bringen und mit einer Nadel sich etwas hinaufzustecken – er stand dem Gesichte, auf dem so viele schöne Abendröten seines Lebens untergegangen waren, so nahe und so stumm und hielt sie ein wenig, als sie nachwollte – wäre sie stille gestanden, so hätt' er sie nicht halten können; aber da sie riß: so umfaßte er sie fester und im größern Bogen – ihr Ringen vereinigte beide, aber seiner trunknen Seele ersetzte die Nähe den Kuß – das Sträuben führte seine zuckende Lippen an ihre – aber doch erst als sie seine Brust von ihrer wegstemmte und seine mit der Nadel zerritzte, dann erst strickte er sie mit unaussprechlicher vom eignen Blute berauschter Liebe an sich und wollte ihren Lippen ihre Seele aussaugen und seine ganze eingießen – sie standen auf zwei entfernten Himmeln, zueinander über den Abgrund herübergelehnt und einander auf dem zitternden Boden umklammernd, um nicht loslassend zwischen die Himmel hinunterzustürzen....

.... Könnt' ich seinen ersten Kuß tausendmal brennender abmalen: ich tät' es; denn er gehört unter die ersten Abdrücke der Seele, unter die Maiblumen der Liebe, er ist die beste mir bekannte Dephlegmation des erdigen Menschen. Nur ist es in diesem deutschen und belgischen Leben nicht möglich zu machen, daß der Mensch über fünf oder sechs Male zum ersten Male küsse. Später sieht er allezeit in seine Sachdefinition, die er von einem Kusse im Kopfe hat, ordentlich hinein und zitiert den Paragraphen, wo's steht; der ganze Inhalt des dummen Paragraphen ist aber der, die eigentliche Sache sei ein Zusammenplätten roter Häute. Wahrlich ein Autor von Gefühl kann sich nicht niedersetzen und bedenken, daß ein Kuß eines von den wenigen Dingen ist, die nur genossen werden, wenn unter dem Geistigen das Körperliche nicht vorschmeckt – ohne daß ein solcher Autor von Gefühl (es ist niemand als ich) die ausfilzet, die nicht so viel Verstand haben wie er – er filzet nicht bloß die Herren Veit Weber und Kotzebue, in deren Schriften zu viele Küsse stehen, sondern auch andre Leute aus, in deren Leben zu viele kommen, namentlich ganze Pickenicks, die einander nach dem Tischgebet die Wangen mit den Lippen abbürsten und anschröpfen. Kommt es gar so weit, daß diese schöne Lippenblüte unsers Gesichts sich an Häuten von Schafen und von Seidenraupen, an Handsandalen, zerknüllen muß: so will ein Autor von so viel Empfindung der leidenden Partei die Hände und der tätigen die Lippen wegschneiden....

Ich begieße den vom letzten Kusse erhitzten Leser mit diesem kalten Wasserschatze wirklich nicht deshalb, um mit ihm so umzuspringen wie das Schicksal mit mir; denn dieses hat sichs einmal zum Gesetz gemacht, jedesmal wenn ich mitten im Freudenöl solcher Auftritte wie der Gustavische – oder auch nur der Beschreibung solcher Auftritte – stehe, mich sogleich in Salzlaken und Vitriolöle unterzutauchen. Sondern ich wollte gerade umgekehrt die häßliche Empfindung über den Tausch entgegengesetzter Szenen dem Leser halbieren, die der arme Gustav ganz bekam, da es unten rief:

»Wollt ihr gleich!« Die Rittmeisterin legte in den Ton mehr Beleidigendes, als mein unschuldiger Gustav noch zu fühlen verstand. Die Liebhaberin verliert in solchen Überraschungen den Mut, den der Liebhaber bekommt. Die ersten Versikel des abgefluchten Strafpsalms durchlöcherten das Ohr der schuldlosen Regina, welche stumm und weinend aus dem Garten schlich und so den freudigen Tag trübe beschloß. Die sanftern Verse erfaßten den Geschichtdichter, der seine Contes moraux ästhetisch und mit PathosGustavs Mut zum Kuß ist übrigens natürlich. Unser Geschlecht durchläuft drei Perioden des Muts gegen das schöne – die erste ist die kindliche, wo man beim weiblichen Geschlecht noch aus Mangel an Gefühl etc. wagt – die zweite ist die schwärmerischer wo man dichtet, aber nicht wagt – die dritte ist die letzte, wo man Erfahrung genug hat, um freimütig zu sein, und Gefühl genug, um das Geschlecht zu schonen und zu achten. Gustav küßte in der ersten Periode. auszumachen vorhatte und nun selber von einem fremden Pathos erwischt wurde. Ernestinens Herz, Lippen und Ohren waren hinter den strengsten Gittern erzogen; daher wich ihre so melodische Seele (bei einem bloßen Kuß) in eine fremde harte Tonart aus; sie gab vom schönsten Mädchen nichts zu, als: »Ein gutes Mädchen ists.« Überhaupt ist mir die Frau, die gewisse Fehltritte einer andern sehr schonend beurteilt, mit ihrer Duldung verdächtig: eine ganz reine weibliche Seele erzwingt an sich höchstens die Miene dieser Toleranz für eine weniger reine.

Auf unschuldige Lippen drückte Gustav den ersten und letzten Kuß; denn in der Pfingstwoche zog die Schäferin nach Maußenbach als Schloß-Dienstbote. Wir werden nichts mehr von ihr hören. – So wird es durch das ganze Buch fortgehen, das wie das Leben voll Szenen ist, die nicht wiederkommen. Nun tritt schon die Sonne höher an Gustavs Lebenstage und fängt an zu stechen – eine Blume der Freude um die andre bückt sich schon vormittags zum Schlummer nieder, bis nachts um 10 Uhr der gesenkte Flor mit verschwundnen Blüten schläft....


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