Jean Paul
Bemerkungen
Jean Paul

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Bemerkungen über den Menschen

Sept. 1817

7. Band

Je mehr Vorzüge an einem Menschen anerkannt werden, desto mehr neue will er dazusetzen und dichten, aus Gefühl seiner Unvollendung.

Die Gleichheit der modischen Kleidung bildet den Trägern auch Gleichheit der Ausbildung ein.

Vergleiche einmal die Opfer und Liebezeichen, die dir die Ehefrau bringt, und deine kalten Billigungen davon, mit den Opfern, die eine Geliebte bringt, und mit deinem Enthusiasmus darüber.

Man wird in der Freundschaft und der Liebe leicht Heuchler, der übertreibt, wenn man das stärkste Bedürfnis und Gefühl beider hat und den Gegenstand dazu entbehrt; und doch falschen dafür sucht und nimmt.

Wie sehr auch jeder den Künstler, Philosophen, Helden achte (und ihm sich opfern will) und den Weltwohltäter: so bringt er doch, sobald er dessen Freund, Gatte etc. wird, nicht mehr das Allgemeine in Anschlag, sondern nur sein bestimmtes Verhältnis; und derselbe Leser, der für den Dichter sterben will, wird, wenn er dessen Freund, Frau etc. ist, nicht die kleinste Unlust ihm ersparen. Selten weihen sich die Menschen dem Allgemeinen, noch seltener opfern sie sich denen, die sich ihm weihen. Daher frage kein Autor nach Briefen voll Lob.

Wenn ihr verbietet, das zu tadeln, was man nicht besser machen kann: so darf man auch nicht loben, was man nicht nachmachen kann; denn das Lob setzt die Kraft zu tadeln voraus.

Weiberlaunen mit Männerlaunen durcheinandergeknetet, dies gibt hohen schwellenden Sauerteig, den jede Wärme nur hebt.

Nur der steigende, nicht der stehende Ruhm erfreuet; während des letzten sind nur die Schmerzen des angegriffnen.

Je kleiner die Stadt, desto kleiner erscheint darin der Größere; sie hat einen zu kleinen Maßstab.

Gefallsucht und wahre Erhebung über den Schein können beide bei drei verschiednen Außenseiten herrschen – denn es kommt eben nur auf das Innen an –, a) bei Schön-, b) bei Mittel-, c) bei Nieder-Anzug und Äußerliches.

Um sich besser kennenzulernen als aus den eignen Handlungen, muß man auf die erste plötzliche Freude oder Betrüb(nis) merken, die uns bei einem Antrag, Erzähl(ung) etc. aufsteigt und die wir gewöhnlich schnell besiegen.

Nur der Dichter und Philosoph sieht die Torheit im Allgemeinen und überall – der Geschäftmann sieht nur die Torheiten und Abweichungen seines Gewerbs, seiner Kaste, der Jurist juristische; aber nicht das allgemeine Törichte, das allen Menschen zum Grunde liegt.

Der Mathematiker, Philosoph, Linguist etc. kann, so berühmt er auch sei, doch nicht mit seinen Gaben jedermann und augenblicklich erscheinen; aber von einem berühmten Dichter allein fodert man die ganze Erscheinung des Menschen; warum? – weil er immer den Menschen schildert, und jedes beste Geschilderte sein soll – als ob er persönlich und augenblicklich das höchste äußerlich darstellen könnte, was er in Begeisterung schwer aus dem Innern unter den günstigsten Verhältnissen emporhebt. vid. 14.

Ein lange Reisender kann am leichtesten in der Verblendung über seinen Wert bei andern bleiben, weil er bei diesen nur kurz, in wenigen Verbindungen ist und sich sein Miß[ver]hältnis nicht so steigern kann, daß man es ihm offenbart.

Unmittelbar nach der Ausübung eines Amtes – z. B. nach Ende einer Predigt, einer Vorlesung, einer Gassenausrufung – hat der Mensch ein närrisches Gefühl der Selbstausdehnung und kann gar nicht wieder recht zu seiner vorigen kleinen Zusammenfaltung kommen, wie Regenschirme nach dem Gebrauch ausgespannt dastehen.

Wenn ein Ehemann oder Vater mit dem Tadel bei kleinen un[ab]änderlichen Unannehmlichkeiten herausfährt, der, wie er selber weiß, zu nichts nützt: so ist diese Explosion nur die kleinere eines Fluchs, der auch nicht helfen, nur erleichtern soll.

Die Männer haben im Zorn mehr Mitleid, die Weiber vor- und nachher. Habt ihr je eine Frau mitten im Zorne einhalten sehen?

Seltsam ist's, daß die nied(ern) Menschen noch desto mehr Tugenden erwarten, je höher der Stand ist, und daß sie sich über die Ausschweifungen eines Fürsten etc. wundern, anstatt sie vorauszusetzen. Gerade im nied(ern) Stande sollte man sich über alles Schlechte verwundern.

Am leichtesten lernst du einen Menschen kennen, wenn du ihn tadelst, oder – da der andere Weg offner steht – wenigstens in geringerem Grade, wenn du ihn lobst.

Kein großer Philologe hat ein poetisches oder philosophisches Meisterstück geschaffen; man ist nur froh, wenn er seine Sprache halb so gut schreibt, als er die fremde versteht.

Man ist dem andern, den man tadelt, ähnlicher und dem, den man lobt, unähnlicher, als man glaubt.

Stets rechnet und berechnet der Mensch in seine Gegenwart die Zukunft hinein. Nach dem längsten Tage spürt er nicht die halbe Freude, als er nach dem kürzesten fühlt, weil dort die Zukunft die Verkürzungen der Tage, hier die Verlängerungen ansagt.

Es ist der größte Irrtum, zu lebhafte Menschen (wie Messerschmidt) für unbefangen und wahrhaft zu halten.

Das Höchste der Humanität: über keinen Vorzug einen Fehler zu übersehen – und über keinen Fehler einen Vorzug – und so sich falsch weder erwärmen noch erkälten zu lassen, sondern alles einzuschichten.

Eine Sache vermögen die Weiber nicht, dieselbe Drohung 12mal hintereinander zu erfüllen.

Den allerwenigsten Menschen ist beizubringen, daß Bücher, die viele andere nicht verstehen, von ihnen gleichfalls unverstanden bleiben.

›Daß mein Sohn immer fleißig, rechne ich ihm gar nicht an bei der Berechnung seiner Vorzüge – ein anderer Vater würde, wenn der Sohn sich zum Fleiß bekehrte, die Bekehrung unter die größten Vorzüge setzen.‹ So nehmen stets die Menschen in die Rechnung der Vorzüge nicht einen alten langen Wert hinein, sondern erst von diesem datieren sie die Rechnung. So Frau mit Mägden; Gattin mit Gatten.

Von Feinden Vorwürfe hören, lehrt und bekehrt und wirkt nicht; aber wohl von Freunden. Ein Mann wie Emanuel kann jahrelang die härtesten Vorwürfe seiner Feinde erfahren, sie können nicht auf ihn wirken, da er sie verachtet und vernichtet. Aber dieselbe Rede eines gleichgestimmten Freundes griffe anders an.

Zwei Menschen begleiten einander im Finstern gegen die Gespensterfurcht; aber eigentlich das geheime Gefühl nicht, daß einer dem andern gegen d(ie) Geist(er) beistehen könnte, sondern dies, daß die Gegenwart eines Menschen die Phantasie hindert, ihre Gespenster auszuweben und zu lebhaft auszumalen.

Weibliche Herzen = Schnee; man merkt bei der stärksten langen Wärme kein Schmelzen, mehr ein Verdichten; plötzlich ist er aufgelöset.

In der ganzen Gelehrtenhistorie noch kein Beispiel, daß in einem Streite – z. B. Leibniz und Clarke – einer sich von dem andern für widerlegt erklärt hätte, nicht einmal zur Hälfte widerlegt.

In Rücksicht der Geschlechtsünden scheint auch der offenste Mensch ein Heuchler zu sein; aber bloß weil er verbirgt, was alle verbergen, sogar das Erlaubte, und weil jeder weniger sinnlich scheinen muß, als er ist.

Derselbe Mann, der mich besucht, zeigt sich ganz anders, als wenn ich ihn besuche. Beide Verhältnisse geben erst den Durchschnitt seines Charakters. Ja wieder anders zeigt er sich im Begegnen auf der Reise, wo er weder Gast noch Wirt ist, sondern nur Erdbürger.

Es ist weit mehr Heuchelei in der Welt, als man glaubt und als selber die Heuchler glauben; denn sie halten nicht andere für Heuchler.

Zweimal lügen die Menschen, so oft sie sagen: »ich habe über soundso viel verloren«, das zweite Mal: »ich habe weit unter 100 fl. eingenommen.« Überall ist bei über, unter, nahe, weit und an gerade das Gegenteil zu verstehen. Nur die gerade Zahl würde das Richtige sein.

Das Übertreiben liebender Worte macht in der Ehe gar nicht das Übertreiben tadelnder gut, sondern dieses Übermaß vernichtet die Wirkung des andern; von allen Aufwallungen lassen nur die zornigen den dickern Bodensatz.

Das erste, wornach ein Mensch bei irgendeinem Unfall sucht – sei er durch Tiere, Materien oder Menschen geschehen –, ist ein lebend(es) freies Wesen, dem er etwas davon schuld geben kann, um sich dann zu rächen.

Die Menschen geben auf den oben herab bellenden Hund acht, nicht auf den unten.

Von der Glut eines jungen Autors – zumal mitten in seinen Schöpfungen – hat gar kein Großer in seinem abmattenden und abgematteten Leben nur einen Begriff; und jeder fürchtet sich doch vor der kräftigen Erscheinung.

Der Veränderliche macht und findet Veränderliche gegen sich selber.

Wenn ein Jüngling den Taufnamen der Geliebten nicht weiß, Zeichen, daß er sie noch nicht recht liebt.

Gerade in kleinen Städten wird der gute bescheidene Mensch am stolzesten, weil er doch niemand hat, womit er sich vergleichen will.

Um überall geliebt zu werden, schone man nur die schwachen Seiten d(er) Menschen; die starken schonen hälfe nichts und wäre sogar unrecht, im Falle diese böse sind.

Man würde jedem seine Eigenheiten gern hingehen lassen, wenn er sie nur nicht zugleich zu seinen Vorzügen adelte; erst dann fängt der Tadel an.

Die stärksten und gefährl(ichsten) Streitigkeiten in der Ehe sind in den ersten Jahren – teils über Kindererziehung, teils, weil die ersten hohen Foderungen der Liebe sich noch nicht ins Gleichgewicht mit dem Alltäglichen gesetzt haben –; später werden die Stürme kleiner und verschwinden endlich in Ruhe oder in Gleichgültigkeit.

Man sollte glauben, da ein Leser mit solcher Teilnahme die stärksten Liebereden zweier Liebenden aufnimmt, es müss' ihm ebenso bei dem Anhören ähnlicher in der Wirklichkeit sein; er müsse gar vor Entzückung nicht zu bleiben wissen, wenn er hinter einer Laube den wahrsten Feuerstrom der Liebe anhört, oder wenn endlich der Liebende zum Kusse gelangt. Inzwischen wird er so wenig warm davon, daß er sich bloß erkältet. Aber der Unterschied ist: nicht bei der gehörten, sondern nur bei der gelesenen Liebe kann er sich zum Liebhaber machen und das Mädchen zur Geliebten. Daher kann eine gedruckte Liane 1000 Albanos beglücken – so ein gedruckter Werther 1000 Lotten.

Die Weiber bedenken nicht – um uns mehr zu schonen –, welche wilde Herz auflösende Untersuchungen der Mann in den Wissenschaften durchzugehen hat, wo freilich nicht so viel v(om) unbefangnen Herzen übrigbleiben kann wie bei ihnen, die sich immer im Ganzen sehen.

Zur sinnlichen Liebe ist bei den meisten leicht zu gelangen; aber schwer bei wenigen ist die rechte zu erwerben.

Wie wenig könnt ihr euch auf die moralische Kraft und Fortwirkung auch der stärksten Empfindungen verlassen, wenn ihr die Entzückungen des Wiedersehens und neuen Wiederliebens nach einer Abwesenheit zusammenhaltet gegen den nächsten Frost und Zank der Gegenwart.

Die Menschen denken sich, um den andern zu etwas zu überreden, nur in dessen äußere Lage mit ihrer Seele hinein, aber nicht in dessen innere oder Seele; daher kein Begreifen und kein Einwirken.

Wenn einem Schriftsteller andere bedeutende Leute recht ihren Wert zu zeigen suchen und des seinigen gar nicht erwähnen; so glaub er nicht, daß sie ihn nicht achten, sondern umgekehrt glaub er, daß sie aus Achtung für ihn, die seinige für sich zu erwerben trachten.


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