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XVI.

Onkel halt Bibelstunde. Weißenstein hat keinen rechten Seelsorger durch Jahre hindurch unter seinen Pastoren gehabt. Die Gemeinde hätte darben müssen, da aber trat Onkel für die Sache ein, das geistige Leben der Stadt wuchs und blühte in seiner gesegneten Hand. Besonders seine Bibelstunden, die er mit der ganzen sprudelnden Originalität seines Wesens erfüllte, hatten direkt eine Berühmtheit erlangt. Von nah und fern kamen die Leute, um ihn zu hören; wir leichtsinnige Jugend, die immer etwas vorhatte, ließ sich durch nichts daran hindern, an ihnen teilzunehmen. Onkel war der geborene Volksredner, er war drastisch in seinen Beispielen, die er aus dem alltäglichsten Leben nahm, oft direkt derb und humoristisch. Hinreißend stark wirkte er immer wieder durch das ganz persönliche Erlebthaben Gottes und durch seine brennende Liebe zu seinen Nebenmenschen, an deren göttlichen Ursprung er glaubte. Das war seine Kraft!

Ich sehe uns in dem großen Zimmer um Onkel geschart, der wie ein Patriarch dasitzt, mit seinem ehrfurchtgebietenden weißen Haupt, das liebe alte Gesicht voller Leben und Andacht, seine geliebte Bibel auf den Knien. Am Klavier sitzt Hermann, das Zimmer ist voller Leute, man kennt sie alle, grüßt sie alle. Da sind Adlige aus der Nachbarschaft, neben ihnen schlichte Bürger der Stadt und Handwerker, alle sind willkommen. In einer Sofaecke sitzen Malz und Kappel, der Waisenvater und der Organist des Städtchens, zwei alte Freunde von Onkel.

Malz, dick und gemütlich, sitzt breit und behäbig da, voll Mutterwitz, immer zu einer Antwort bereit, mit rotem, lustigem Gesicht. »Sieh ihn dir an,« sagt Onkel, »er sieht dick und plump aus, aber sein Herz ist fein und zart.« »Ja, ganz wie der Herr Staatsrat sagt,« lacht Malz lustig, »von außen ein Ochse, von innen eine Schwalbe.«

Kappel ist sein direktes Widerspiel, klein, dürr, ängstlich, mit einem Gesicht wie ein alter Holzschnitt von Dürer. Er sitzt vor Bescheidenheit immer nur halb auf seinem Stuhl, die andere Hälfte seines Körpers schwebt frei in der Luft. Ein Problem beschäftigt ihn, das er mir nach einem Kirchenkonzert, in dem ich gesungen habe, mitteilt. »Daß man stark singen kann, begreife ich, aber daß man mit einemmal so dünn werden kann mit seiner Stimme, ganz fein, wie ein Vogel, das begreife ich nicht. Aber das ist wohl die Kunst, die kann man nicht begreifen.« Im selben Konzert hatten meine Mutter und ich Duette gesungen: »Das waren Stimmen aus einer Fabrik,« sagte Kappel, »das hört man gleich.«

Sie sind unzertrennlich, die beiden Freunde, zu Onkel kommen sie immer zusammen, es ist, als getraute Kappel sich nur eine Lebensäußerung von sich zu geben im Schatten vom dicken Malz.

Hermann spielt den Choral, mit dem die Bibelstunde begonnen und geschlossen wird.

Onkel singt mit, und das ist für mich fast das Schönste von der ganzen Bibelstunde. Er ist ganz unmusikalisch, singt nur immer einen tiefen Ton auf alle Verse. Aber er singt so aus tiefster Seele, mit so viel Andacht und Hingabe und Kraft, so ahnungslos, wie falsch es klingt, daß man seine Blicke nicht von ihm wenden kann! Dann nimmt Onkel ein Kapitel aus der Bibel vor, liest es und bespricht und erläutert Vers für Vers. Es ist immer wie ein Strom von Leben, der aus ihm bricht. Oft so originell sprunghaft, daß man ihm kaum folgen kann, aber aus seinem Munde klingt der bekannteste Spruch wie neu, weil er ihn beim Lesen immer neu belebt. Und so ist es einem, als hörte man diese vertrauten Worte zum erstenmal, solch ein Leben bekommen sie, wenn sie von seinen Lippen strömen. Manchmal ist er von einem Gedanken so gepackt und bewegt, daß ihm die Tränen über die Wangen stießen, in seinem Eifer merkt er es gar nicht. Im Eifer, das, was er denkt, fühlt, glaubt, uns nahe zu bringen, in unsern Herzen Leben werden zu lassen. Er ist wie ein Kind und dabei wie ein Fels. Er würde auch jederzeit vor Kaiser und Reich sein Bekenntnis ablegen: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir! Amen!«

Die Bibelstunde ist zu Ende, wir singen wieder einen Choral, die Gäste gehen heim.

Onkel geht in seinen lieben Garten, das tut er immer, wenn sein Herz bewegt ist.

Ich habe mich an seinen Arm gehängt, wir gehen schweigend die Wege zwischen den duftenden Blumen auf und ab.

Mein Gott, wie gütig bist du!» sagt Onkel plötzlich stehenbleibend. »Was hast du uns alles gegeben! Dein Wort, deinen Sohn und diesen Garten voller Blumen. Und gleich noch ein gutes Abendessen. Ach, Kind, ein Leben reicht ja nicht aus, um ihm für alles zu danken!«

 

Jahre gingen ins Land.

Die sorglosen Ferienwochen in Weißenstein waren wohl immer wieder das Ziel unserer Wünsche, doch war in unserem Leben so manches anders geworden. Ich war zur Ausbildung meiner Stimme nach Frankfurt gegangen. Neue Welten taten sich vor mir auf, ich stand auf Höhen, die mich berauschten, ich blickte in Tiefen, die mich erschütterten.

Die Kinder- und Jugendträume wichen einem oft sehr harten Erwachen!

Ich lernte berühmte Künstler kennen, vor deren Namen ich in Ehrfurcht erbebt war, die in unserem Hause mit dem Glorienschein von Halbgöttern umgeben worden waren, und sah, daß sie Menschen waren mit Sünden und Kleinlichkeiten, die ich zuerst gar nicht begriff.

Es ging auch in meinem Leben nicht immer licht und sturmlos her. Harte Arbeit, Heimweh, Einblicke in die Dunkelheiten des Lebens ließen mich zeitweise mein frohes Lachen vergessen.

»Also so ist das Leben und vor allem das Künstlerleben!« dachte ich oft, wenn ich abends grübelnd und einsam an meinem Fenster saß, bis die Dunkelheit die ganze Welt einhüllte und ein Stern nach dem andern erschien. Ein Gefühl der Einsamkeit, Heimweh, das mir die Seele zerriß, erfüllte mich bis in alle Tiefen. Ein Heimweh nach Hause, nach der kindlichen Ahnungslosigkeit meines früheren Lebens, nach der sonnigen, einhüllenden Liebe, die meine Jugend bisher erfüllte, ach! und nach dem Garten in Weißenstein, mit seinen Blumen, seinem Schwalbenschwirren und seinen über alles geliebten Menschen. Ich hatte oft Briefe von dort, Onkel ging auch in der Ferne meiner manchmal so angstvollen Seele nach und hielt sie mit liebevoller starker Hand.

In Weißenstein war auch vieles anders geworden, die Sonne war hinter dunkeln Wolken versunken.

Gustav und Georg hatten ihren Eltern unsagbares Herzeleid und viel Sorgen bereitet. Nun waren sie nach Amerika ausgewandert. Alle hofften, daß die harte Fremde sie das lehren würde, was sie in der Heimat nicht lernten: Männer werden, die Verantwortung für ihr Tun fühlten und ihre Pflicht im Leben taten.

Viele Tränen waren um sie geflossen, viel Herzeleid war still getragen worden.

Weißenstein sollte nun auch für mich nie mehr das sein, was es gewesen.

Und dann waren meine Studienjahre zu Ende, um vieles reicher, um vieles ärmer kehrte ich heim, und die Kunst, die bisher der Schmuck meines Lebens gewesen war, sollte nun für mich und die Meinen unsere Existenz schaffen.

Ein harter Wechsel, an dem man von Tag zu Tag lernen muhte! Aber dann kamen auch leichtere Zeiten, und ich konnte wieder einmal zu den Sommerferien meine Schritte nach Weißenstein lenken. Die Sorgenlasten dort hatten sich vergrößert. Gustav und Georg waren heimgekehrt, aber es war anders, wie man es erhoffte, mit ihnen geworden.

An der Seele krank, war Gustav helmgekommen. Dunkle Mächte hatten Gewalt über seinen Leib und seine Seele gewonnen, er kam von ihnen nicht los.

Auch Georg war nicht gesund heimgekehrt. Eine verfehlte Operation warf ihn dann vollends aufs Krankenlager; wir wußten es damals noch nicht, daß er es nie mehr verlassen würde.

Ich fürchtete mich fast vor dem Wiedersehen unseres Jugendparadieses, wie würde ich es wiederfinden?

Allein fuhr ich im Postwagen durchs Land; die alten vertrauten Wege, alles war wie früher, nur ich war eine andere geworden, und das Leben im geliebten Hause würde von dunkeln Sorgen und Herzeleid überschattet sein, und anders, wie ich es gekannt und geliebt.

Aber stärker als alles lebte in mir die Liebe zu denen, die meine Kindheit und erste Jugend mit so viel Glanz und Freude erfüllt, und fest im Herzen stand es: »Mag alles sein, wie es will! Ich gehöre zu ihnen, und nun will ich die dunkeln Tage mit ihnen teilen, wie ich die Freudentage geteilt!«

Und dann sah ich, wie in frohen Kindertagen, den spitzen Kirchturm über den Wäldern emporsteigen, und dachte lächelnd an den wilden Jubel, mit dem wir sein Auftauchen in früheren Jahren begrüßt. Und bald rasselte der Wagen auch über das Straßenpflaster und hielt vor dem alten, lieben Haus.

Ach! Niemand stand auf der breiten Steintreppe, niemand hatte meine Postglocken gehört! Wurde ich denn gar nicht erwartet?

Zögernd stand ich vor der Tür, ich öffnete sie und trat ins Haus, und dann kamen sie alle herbei. Onkel schloß mich in seine Arme: »Gott segne auch heute deinen Einzug!« sagte er bewegt. »Bring' uns Sonne und Freude!«

Wie gebeugt und zusammengesunken war Tante Adeles einst so stattlich aufrechte Gestalt. Welche Stürme von Leid hatten sie so geknickt! Auch Jenny kam, klein und grau – wir weinten. Das aber mochte Onkel nicht leiden, halb bewegt, halb ärgerlich sagte er: »Nun komm in den Garten, die Blumen sind alle da, es sind nicht dieselben, die du gekannt. Aber Gottes Sonne ist dieselbe, und sein Himmelstau auch, es gibt noch viel zu danken!»

Er zog mich in den Garten, wir sahen die Blumen, wir gingen die alten Wege, dort in der Laube sah ich auch Georg wieder, im Rollwagen, er konnte nicht gehen.

Er streckte mir seine blasse Hand entgegen, die von vielen Leiden sprach, und lächelte, ein trauriges Lächeln, aber kein Laut drang über seine festgeschlossenen Lippen.

Onkel zeigte mir seine Blumen, seine Beete und seine Beerensträucher. Er konnte sich an allem freuen, für ihn war die Welt noch voller Licht, weil er in allem und jedem Gottes Liebe sah, die ihn jeden Tag neu beglückte. Ich ging an seinem Arm wie eine Träumende durch den lieben Garten, ich sah die Blumen nicht, ich sah die Sonne nicht, ich fühlte nur das Eine: es würde niemals hier mehr sein wie es war, und wie lange würde es überhaupt noch ein Weißenstein für mich geben?! Endlich war ich mit Jenny allein in meinem Zimmer, da hielt ich mich nicht länger, ich brach in Tränen aus: »Ach, Jenny!» Ich brauchte nichts weiter zu sagen, zu erklären. Sie fühlte alles, sie wußte alles, ganz wie damals, als wir noch Kinder waren und Kinderschmerzen uns bedrückten.

Und sie wußte auch dieses Mal Trost, wie früher für Kinderschmerzen.

Und nun begann ein Leben, wie ich es nie in Weißenstein gekannt, still, voller Weh, aber doch schön und voller Reichtum. Tiefer wie in den Sonnentagen verband uns die Liebe, heller wie je strahlte Onkels freudiger Glaube, sein starkes, frohes Christentum durch die Not dieser Tage. Bei ihm habe ich wirklich erlebt, was es heißt: »Fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal!« sein.

Erschütternd war das Leiden beider Söhne des Hauses. Gustav blieb uns fern und fremd, die dunkeln Mächte, die seine Seele überschattet hatten, trennten ihn von allen, die ihn liebten, wir fanden nicht den Weg zu ihm. So ging er, fremd und einsam, neben uns hin! Georg war mit der ganzen feurigen Begeisterung, die sein Wesen kennzeichnete, aus Amerika heimgekehrt.

Er hatte dort viel Not kennen gelernt, hatte tapfer jede Arbeit auf sich genommen, hatte sich ehrlich durchgekämpft, nun war er heimgekehrt. Er wollte so gern zeigen, daß er ein anderer geworden sei, daß er arbeiten gelernt hätte, daß er seinen Platz als Mann im Leben ausfüllen könnte.

Ob er das gekonnt hätte?

Gott wußte einen andern Weg für diese glänzende Menschenseele. Er führte Georg durch das dunkle Tal des Leidens und der Entsagung. Er ließ ihn einen von denen werden, die mit Tranen säen, damit er mit Freuden ernten könne.

Aber Erdenfreuden waren es nicht, die wurden ihm alle genommen.

Wie still ist doch das frohe Haus geworden. Zwischen den blühenden Bäumen sieht man oft Georgs Rollwagen, oder seine hohe Gestalt, jetzt gebückt, langsam an einer Krücke hinwandernd. Es liegt wie eine große Angst über uns, wir fühlen Gott mit dieser Seele ringen.

Dazwischen bricht es wie eine wilde Kraft aus ihm, der Widerstand einer Seele, die sich gegen Leiden und Gebrochenwerden auflehnt.

Er stürmt gegen sein Schicksal an, er will arbeiten, leben und glücklich sein. Er will sein Teil vom Leben an sich reißen, aber Gott wollte es anders, und er gehorchte. Stück für Stück gab er sein Leben, sein Wollen, sein Sehnen hin.

Es war ein Kampf auf Tod und Leben, und Gott blieb Sieger!

Was eine Seele in solchem Ringen erlebt, bleibt ewig ihr Geheimnis!

Es war eine schwere, harte Zeit für uns alle, furchtbar in ihrem Ernst. Aber nie hörte ich ein Wort der Klage, des Widerstandes von Onkel oder Tante, deren stolzes Herz um ihren Liebling brach.

Sie gingen beide gehorsam den Weg, den Gott sie führte, wenn auch mit heißen Schmerzen. Onkel war oft einsam, der Kranke nahm unsere ganze Zeit, unsere ganze Kraft in Anspruch. Das war für seine lebendige Natur sehr schwer, die sich mitteilen mußte.

Nie rührte er mich so, als wenn ich in dieser Zeit zu ihm kam und ihm sagen konnte: »Heute bin ich den ganzen Nachmittag nur für dich da!«

Dann blickte er so froh aus seinen alten, lieben Augen. »Das ist schön! Was tun wir nun? Gehen wir in den Wald oder auf den Kirchhof?«

Und dann wanderten wir miteinander, friedlich plaudernd. Ich war meist stille Zuhörerin, so viel hatte Onkel in seinen einsamen Stunden gedacht, gelesen, und es drängte ihn, sich über all das, was ihn bewegte, auszusprechen. Wenn auch sein Sinn offen blieb für alles Schöne, wenn er sich auch an edlen Dichterworten, an hohen Gedanken immer noch begeistern konnte, das schönste Buch blieb ihm immer seine Bibel.

Über sie, über Gottes Wort sprach er doch am liebsten, und alles, was er dachte, erlebte, las, sah, lief immer wieder, wie in einem Brennpunkt, in dem einen Wort zusammen: » Mein Herr und mein Gott!«

In diesem Licht sah er alles, das Große und das Kleinste seines Lebens, die Freuden und die Schmerzen. Mit beiden Füßen mitten im Leben stehend, seine Sorgen und Schmerzen stark und tief empfindend, blickte sein Auge unverwandt in Gottes Licht, sprach seine Seele immer mit seinem Gott.

Er mußte in dieser Zeit viel lernen, sein unbeugsamer Herrscherwille mußte sich oft beugen. Er, der mit starker Hand alles im Hause nach seinem Willen lenkte, mußte oft zurücktreten, schweigen, wie das so ist, wenn ein Schwerkranker im Hause ist.

Und daß er das lernte, bewegte mich tief.

Am liebsten wanderten wir auf den Kirchhof; es war ein tiefer Friede an diesem Ort, an dem sich die Leidensstürme, die im Hause wehten, brachen. Wir saßen an unsern Gräbern und Onkel sprach goldene Worte tiefer Weisheit, von Gottes Wegen, die er mit jeder einzelnen Seele geht.

Sein Glaube an Gottes Arbeit auch an den Seelen seiner Söhne, war so stark, so freudig, daß ich mitten in der Not der Tage etwas fühlte von der »Berge versetzenden Kraft des Glaubens«, die freudig an den Worten festhält:

»Erst will er mich vollenden,
Dann soll es herrlich enden!«

An dieses »herrliche Enden« glaubte er fest, alles andere war klein und unwichtig gegen dieses große Hoffen.

Wohl litt er unter der Not jedes Tages, aber sie verwirrte ihn nicht, sie nahm seinen Blick nicht gefangen, der immer nur das Licht sah. Meine junge Seele, die mit Fragen und Zweifeln belastet war, sah staunend und bewundernd auf dieses große, starke Leben, das so selbstverständlich schien.

Ja, das waren Feierstunden ln der Angst und Not der Zeit, und sein Glaube hat ihn nicht betrogen. Er hat es erlebt, daß seine beiden Söhne sich bewährten, der eine im Leiden und Sterben, der andere in einem gesegneten Leben voll Mühe und Arbeit.


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