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I.

Ich bin ein kleines Mädchen mit spiegelblank gebürstetem Haar, das gerade gescheitelt, in zwei dicken, stramm geflochtenen Zöpfen mir über den Rücken hängt.

Ich bin sehr wild in Weißenstein geworden, Mutter sagt, das sei hauptsächlich Georgs Schuld. Ich werfe mit Bohnenstangen ins Ziel, springe aus der Bodenluke und klettre den Vettern nach auf die Bäume. Ich fühle mich dabei stolz und wichtig: »ganz wie ein Junge«. Ich stehe im Garten vor der Veranda und blicke sehnsüchtig aufs Hausdach.

Hoch oben auf dem Giebel sitzt Georg, rittlings, und pfeift und jauchzt in die Sonne. Ich stehe schon eine Weile da, aber er macht, als sähe er mich nicht.

Warum hatte er nur die Leiter heraufgezogen, nun konnte ich ihm ja nicht nachklettern. Das hatte er ganz absichtlich getan, wie schlecht war er doch! ein böser Junge! Trotz und heißes Verlangen kämpften in meinem Herzen, endlich siegte letzteres, aber es klang doch noch ziemlich trotzig und befehlend, als ich rief: »Laß die Leiter herunter, ich will auch aufs Dach!« Georg lacht: »Das darfst du gar nicht, du bist ein Mädchen und kannst nicht so hoch klettern wie ein Junge.« Was alles Mädchen nicht sollten, es war geradezu schrecklich, ein Mädchen zu sein! Ich wurde ganz heiß vor Zorn: »Schäme dich, so was zu sagen,« schrie ich heftig, »ich kann alles machen, was ihr dummen Jungens macht!«

»Oho!«

»Jawohl kann ich das! Sprang ich nicht gerade wie ihr gestern aus der Bodenluke ins Heu auf dem Hof?«

»Ja, und ich bekam die Schelte nachher von deiner Mutter, und ich sollte dich nicht alles machen lassen, was ich tue, du wirst so wild und unartig«

»Ich will aber auch aufs Dach, hörst du!«

»So klettere doch!«

Ich weinte. Georg war sehr gutmütig, Tränen konnte er nicht sehen, mit Tränen konnte man eigentlich alles bei ihm erreichen.

Aber dieses Mal blieb er gefühllos.

»Sag': bitte, lieber, guter Georg,« sagte er, »vielleicht lasse ich dann die Leiter herunter.«

Ich schwieg.

»Wenn du wüßtest, wie schön es hier ist,« sagte er grausam, und wie weit man sieht! Ich sehe den Marktplatz und die Kirche, und den Weg zum Kirchhof und –« Nein, das war ja gar nicht zum Aushalten! Ich stürzte davon, ein böser Plan war plötzlich in meiner Seele entstanden, den ich ohne Besinnung ausführte.

Georg hatte aufgehört zu pfeifen, es war doch langweilig, so allein oben, er schickte sich eben an, seinen luftigen Sitz zu verlassen, da flog die Gartentür auf und ich sauste in den Garten, ich war ganz atemlos.

»So, nun hast du es,« rief ich, »nun habe ich dein Vogelbauer aufgemacht, und habe alle Vögel losgelassen!«

Er hielt im Hinuntergleiten inne, er war wie erstarrt, er konnte nichts sagen, ihm fehlte der Atem. Endlich konnte er sprechen:

»Du hast sie losgelassen!? Alle?«

»Alle,« schrie ich triumphierend.

Da kam Leben in seine erstarrten Glieder!

Er rutschte, kollerte, stürzte vom Dach herunter, über das Verandadach, mit einem wilden Schrei lag er auf der Erde.

Ehe er noch auf die Füße kam, war ich fort! Laut schreiend, denn ich fürchtete mich namenlos, raste ich davon, durch den Garten hinein in den Hof, mit einem Krach fiel ich gegen die Küchentür, mit meinem letzten Atem: »Jenny! Jenny!« rufend.

Er war mir dicht auf den Fersen, mit entstelltem Gesicht stürzte er mir nach, »ich schlag dich tot! Ich schlag dich tot!« rufend. Er war jähzornig, heftig, die Brüder nannten ihn den Berserker, noch nie hatte ich einen Menschen so gesehen. Jenny fing ihn in der Küche in ihren Armen auf; ich hatte mich unter der Treppe, die zum Bodenzimmer führte, versteckt.

Er war wie blind und schlug um sich. »Wo ist sie? wo ist sie? ich schlag sie tot!« Jenny kannte ihren wilden, jüngsten Bruder, sie verstand ihn zu zähmen.

»Schäme dich,« sagte sie mit ihrer guten Stimme, »ein kleines Mädchen willst du schlagen!«

Er kam zur Besinnung. »Sie hat meine Vögel losgelassen!« stieß er hervor, während Tränen des Zorns aus seinen Augen sprangen.

»Das war sehr schlecht von ihr,« sagte Jenny wieder nur, wir froh die Vögel jetzt sind, nun sind sie frei!«

So tröstete sie ihn, strich ihm die Haare glatt, rückte seinen Kragen zurecht, gab ihm heiße Pfannkuchen und schickte ihn dann einigermaßen beruhigt in den Garten mit der tröstlichen Aussicht: »Bald ist das Mittagessen fertig, dann darf man dir nicht ansehen, daß du geweint hast.«

Jenny tröstete auch mich, doch das ging viel schwerer wie bei Georg. »Du mußt ihn um Verzeihung bitten,« sagte sie. »Ach ja, ach ja!« Ich war zu allem bereit.

Jenny ging mit mir in den Garten, wir suchten ihn, er steckte in den Beerensträuchern und schien wieder ganz vergnügt.

Bei meinem Anblick verfinsterte sich sein helles Knabengesicht, ich fürchtete mich und versteckte mich hinter Jenny.

Die zog mich hervor und schob mich unter freundlichem Zureden zu Georg hin; ich streckte meine Hand aus und faßte schüchtern nach seiner: »Ach, bitte, vergib mir!« murmelte ich.

Er ließ meine Hand fallen und sagte verächtlich: »Furcht kennst du, aber keine Besserung.«


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