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VI.

Ich komme von einem Besuch heim, es ist noch nicht die Zeit des Abendessens, ich kann noch ein wenig durch die stillen Straßen wandern. Aber erst tue ich einen Blick in Onkels Studierstube. Da sitzt er in seinem Lehnstuhl, mit der großen, in Silber gefaßten Brille, auf den Knien hält er die Bibel, seinen besten Freund hier auf Erden.

Ich stehe am Fenster und blicke zu ihm hinein, er sieht mich nicht, so vertieft ist er.

Mein Blick umfaßt mit stürmischer Liebe die alte, gebeugte Gestalt, mit dem klugen, lebensvollen Gesicht, das Zimmer mit den hohen Bücherborden, das kleine Sofa, dessen Sitz hart wie ein Stein ist, die alten Bilder an den Wänden, die zum Teil ohne Rahmen von Onkels Hand auf die Tapete geklebt sind. Ich sehe den Rokokoschrank aus Urväter Zeiten mit den endlos vielen Schiebfächern, in dem unter anderen Sachen auch Onkels Medizinen und Kräuter stehen, ich sehe die alten, dunklen Stühle, kein Stück von allem möchte man missen oder an einer anderen Stelle sehen, denn so stand alles, seit mein Kinderfuß diese Schwelle überschritten. Eine Bewegung, die ich mache, läßt ihn aufblicken, wie Sonne fliegt ein Lächeln über die lieben alten Züge. »Du bist es!« sagt er liebevoll, »komm herein, ich habe ein herrliches Gotteswort für uns beide!«

Ich fasse das Fensterkreuz, und schwinge mich im Augenblick durchs Fenster herein ins Zimmer, da sitze ich schon auf dem gestreiften, hochlehnigen Stuhl, dicht neben seinem Schreibtisch.

Das gefällt Onkel.

»Du bist ein feines Frauenzimmer!« sagt er anerkennend, »du machst keine Umstände, nun aber hör zu.« Es ist ein Kapitel aus dem Johannesevangelium, das er liest, das siebzehnte, das hohepriesterliche Gebet Jesu für seine Jünger und seine Gemeinde, das wie kein Wort sonst den festen, unlösbaren Zusammenhang Christi mit den Seinen ausspricht:

»Sie waren dein und du hast sie mir gegeben!«

Wie Onkel die Bibel las! Ganz, als wäre sie nur für ihn geschrieben, als spräche Gott mit jedem Wort direkt zu ihm, als stünde jeder Gedanke darin lebendig und neu vor ihm, und faßte seine Seele mit überwältigender Macht.

Und wieder ist mir's, als wäre die ewige Stadt da, nah, als brauchte man nur einen Schritt zu tun, und träte durch ihre Perlentore, »in die Stadt der goldenen Gassen«, in Jesu unmittelbare Nähe.

Ein Glaube, stark wie ein Felsen, einfach und selbstverständlich, wie das friedliche Lächeln eines Kindes, spricht aus ihm. Das ist eine Frömmigkeit, ein Glaube, der Berge versetzt.

Ein langes Leben mit dem lebendigen Erleben von Gottes Gnade und Liebe, an jedem Tage neu, das ist es, was ich mit Ehrfurcht und Dank empfinde und vor mir schaue!

Manchmal stockt seine Stimme, Tränen stehen in seinen Augen, mir ist's, als hörte ich der Engel Flügelrauschen um dieses liebe, alte Haupt.

Wie vielen warst du mit der Kraft deines Glaubens, mit der Macht deiner Liebe, ein Führer durch die Wirrnisse des Lebens zum Licht, zum ewigen Ziel, du Geliebter!

Die liebe alte Stimme schweigt, er nimmt die Brille von seinen Augen, faltet die Hände und blickt still ins Abendrot, er sagt leise vor sich hin: »O du mein Herr und Gott!«

Ich stehe auf und schlinge die Arme um ihn; meine junge Wange ruht auf seinen Silberlocken. »Ach, Onkel! Onkel!«


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