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IV.

Es ist ein stiller, heißer Sommertag, der Garten voller Rosen- und Jasminduft, Reseden und wohlriechenden Erbsen. Links von der Veranda befindet sich ein großes Beet voller Lilien, die in ihrer reinen Stille schneeweiß zum Himmel streben.

Alles hält im Hause Nachmittagsruhe, ich sitze auf der Veranda und blicke in den blühenden Garten. Kein Laut weit und breit als das Schwirren der Schwalben in der heißen Sommerluft, dazwischen ein verirrter Ruf aus den Nachbargarten.

»O du Welt voller Licht.«

Da, ein starker, junger Schritt auf der Veranda. Georg steht in der Tür. Er ist groß, breitschultrig, mit blondem Lockenhaar und Leben sprühenden Augen; mein bester Kamerad, mein liebster Gefährte, in dessen Nähe das Lachen nie endet. Erwartungsvoll blicke ich zu ihm auf, er hat immer einen Plan.

»Weißt du was?« sagt er, »der Tag ist köstlich, alles schläft im Hause. Wollen wir ins Moor? Nicht viel fragen! Da gibt es zu viel Antworten! Komm, nimm deinen Hut, ich gebe dir meinen Stock. Wir gehen in die weite Welt!«

Ich springe jauchzend empor: »Aber wenn es nachher Schelte regnet,« sage ich dann bedenklich.

»Die halten wir aus und schütteln sie wieder ab,« ist seine unbekümmerte Antwort. Ich bin dabei.

Heimlich schleichen wir durch den Garten. Die alte Magd hat die Weisung, zu sagen, daß wir erst spät heimkämen, wir wären ins Moor gegangen. Sie murmelt etwas vor sich hin. Georg lacht. »Ach, schweig' doch, Alte! Dich wird keiner schelten, alles trifft nachher uns!«

Wir schlüpfen durchs Gartenpförtchen, über die Wiesen hin geht es eilig. Nun nimmt der Waldesschatten uns auf, unser Schritt wird langsamer. Wie herrlich ist die Welt! Hohe Tannen ragen in die klare Sommerlust, unhörbar gehen unsere Schritte übers weiche Moos. Es ist ganz dunkel, fast feierlich unter den Tannen, aber oben in den Gipfeln liegt goldener Sonnenschein.

Wir verstehen uns so gut im Walde. Georg fühlt und sieht alle Schönheit um ihn, auch die zarte stille, seinem hellen Blick entgeht nichts. Dann weist er nur mit seiner Hand danach: »Siehst du es auch?« Ich nicke fröhlich, wortlos, wir brauchen gar nicht zu reden, wir sind einig.

Warum nur zanken wir uns so oft im Leben? – Es waren böse Tage gewesen, da war ein kleines Ding, ein Mädchen, etwas jünger als ich, zart, blond, mit blauen Augen und rosigen Wangen, die bei jeder Gelegenheit so lieblich erröten konnte, daß es wie eine Welle über ihr zartes Gesichtchen lief. –

Georg schwärmte für dieses Erröten. »Sie ist so weiblich!« sagte er. »Und so dumm, wie eine Gans,« fügte ich erbarmungslos hinzu. Das ärgerte ihn, er hatte sie gern. Sie war verliebt in ihn, und bewunderte ihn, sie zeigte es bei jeder Gelegenheit, das beleidigte mich, denn es war ja ganz unmöglich!

Nie war ich so herbe, so scharf und streitbar, als wenn sie dabei war. Georg bemühte sich ritterlich um sie, sie tat so hilflos, so ängstlich, war so anlehnungsbedürftig. Sie schrie, wenn ein Frosch über den Weg sprang und flüchtete sich zu Georg, wenn ich einen Stock nahm und nach dem Frosch schlug.

Ein stiller Kampf zwischen Georg und mir entbrannte. Spielten wir Reif, so warf Georg ihr den Reif immer so behutsam zu, und so niedrig ließ er ihn fliegen, daß sie ihn fangen mußte, ohne jede Mühe. Kam ich an die Reihe, so flog der Reif so hoch, daß er fast in den Lüften verschwand und ich trotz aller aufgewandten Kraft und Gewandtheit ihn nicht fangen konnte, und dann lachte Georg spöttisch.

Ich war des Streitens müde geworden, ich sehnte mich nach Versöhnung, war aber zu stolz und herbe, einen Schritt dazu zu tun. »Heute wird alles gut!« dachte ich und eine Last fiel mir von der Seele.

Eine seltsame Welt voller Stille, diese weite, öde Fläche, ohne Baum, ohne Strauch. Ein grüner Mooshügel neben dem andern.

Mit einem Stock bewaffnet sprang man von Hügel zu Hügel, immer weiter, in die Unendlichkeit hinein.

Sprang man nebenbei, so versank man bis an die Knie ins Moor. Georg hatte uns tüchtige Stecken geschnitten: »Soll ich dir helfen beim Springen?«

»Auf keinen Fall.«

Es ist mein größter Stolz, es den Vettern gleich zu tun.

So springen wir lachend, jauchzend. Da! ein Schrei! Ich bin nebenbei gesprungen, bis an die Knie ins Moor.

»Soll ich dir helfen, dann mußt du bitten.«

»Bitten! Nein, das tue ich nicht, ich helfe mir schon selber.« Georg lacht. »Du wirst schon zu Kreuze kriechen!«

»Niemals!«

Mühsam rette ich mich auf den Mooshügel, entferne den Morast von Stiefeln und Strümpfen. Georg sitzt keck und lustig auf seinem Hügel, und lacht mich aus. Seine Mütze sitzt ihm tief im Nacken, seine blonden Locken glänzen golden in der Sonne. Nein! man kann ihm nicht böse sein.

»Ich weiß hier eine Quelle in der Nähe,« sagt er endlich, das Mitleid mit mir siegt über die Schadenfreude, »da säubern wir dich.«

Wir springen weiter, da kommt eine trockene, hochgelegene Stelle, mitten im Moor, mit Gras und Blumen bestanden, ein Flüßchen murmelt vorüber.

Dort machen wir Rast; ich ziehe meine schwarzen Schuhe und Strümpfe aus, wasche sie im Fluß. Georg hat unterdessen eine sinnreiche Erfindung gemacht, er hat Stöcke in die Erde gepflanzt. Darauf werden die nassen Sacken gesteckt, damit sie schnell trocknen.

Wir legen uns ins Gras, schweigend, träumend.

Georg unterbricht die Stille:

»Warum warst du alle diese Tage so?« Mein Herz ist plötzlich überströmt von Reue. »Verzeih mir doch« sage ich weich, »aber Ella war so albern und das gefiel dir! Ich denke, du warst verliebt in sie!« Georg wird rot, wie eine Flamme fährt es über sein ausdrucksvolles Gesicht.

»Nie war ich das,« bricht er heftig los, »glaub es mir doch! Sie ist nur so zart und fein und so hilflos. Ich habe solch ein kameradschaftliches Gefühl für sie!« Da lache ich hell auf, ein wenig gereizt. »Dein Kamerad bin ich, das darf kein anderer sein! Ella ist doch kein Kamerad!«

»Aber ich bin nicht verliebt in sie!« sagt er wieder ganz aufgeregt.

»Ach! Ihr liebt immer die Dummen!« sage ich streng.

Georg schweigt. –

Ich lege mich wieder ins Gras zurück, er bleibt aufrecht sitzen, er hat den Kopf gewandt, ich sehe ihn nur von der Seite. So voll Sehnsucht und Trauer ist plötzlich sein heller Blick.

Ich schlummere ein, wache wieder auf, immer sitzt er noch da, unbeweglich mit dem Blick voll Sehnsucht und Trauer. Als ich erwache, steht die Sonne tiefer. »Hier am Rande des Moores ist ein Bauernhaus,« sagt Georg, »da gibt es Milch und Brot. Wir müssen doch etwas essen!«

Stiefel und Strümpfe sind trocken, wir springen wieder über die Hügel. Da liegt auch schon das Bauernhäuschen, klein, schief, mit einem Strohdach, aber der Garten ist voll blühendem Mohn und goldgelben Ringelblumen. Die Bäuerin bringt Schwarzbrot, Milch und frische Butter. Wir legen uns ins Gras, das Brot und die Milch stellen wir auf die Erde zwischen uns. Wie das schmeckt!

Vor uns liegt das Moor mit seinen grünen Hügeln, flimmernd im Abendsonnenschein; es ist so atemlos still in der Welt, wir allein in dem großen Schweigen um uns!

Es ist Zeit, heimzugehen.

Wir wandern wieder durch den Wald, es ist unter den dichten Tannen schon ganz dämmerig geworden. Der Wald ist zu Ende, ein weites, goldig schimmerndes Kornfeld liegt vor uns.

»Nun kommt das Schönste,« sagte Georg, »wir kriechen tief ins Kornfeld hinein, dort legen wir uns hin und horchen auf die Stille.«

Durch eine Furche gehen wir hinein, ich lasse die Ähren leise durch meine Hände gleiten.

Stimmen! Am Ende der Bauer, dem das Feld gehört!

Wir bücken uns, die goldenen Halme schlagen über unseren Häuptern zusammen. So kriechen wir geduckt durch die schmalen Furchen, wir wagen kaum zu flüstern.

Ein Stein liegt mitten im Felde, er ist ganz warm von der Sonne. Ich setze mich auf den Stein. Georg legt sich zu meinen Füßen auf die Erde.

Mein Schoß ist voller Blumen, ich winde sie zu einem Kranz.

Welch wunderbares Leben, die tausend und abertausend Halme dicht beieinander, dazwischen Sternblumen und Kornraden, Käfer und Schmetterlinge. Wir beobachten all das zahllose Leben, das in dem Kornfelde summt, kriecht, flattert, horchen auf die Grillen, aufs Singen der Lerchen, und schweigen.

Welch ein Licht in der Welt, welch ein Schweigen voller wunderbarer Geheimnisse. Georg hebt plötzlich seine Hand und streckt sie nach mir aus. »Du!« sagt er, und noch einmal ganz leise: »Du!«; sonst nichts.

War es die Stille, die mir plötzlich den Atem raubt, oder liegt etwas im Klang seiner Stimme, etwas, was so noch nie darin geklungen? Erschrocken, atemlos sehe ich ihn an, eine tiefe Bewegung liegt in seinem Gesicht; wie der Blitz bricht etwas über mich herein. Ist es Angst? Ja, eine törichte, sinnlose Angst. Ich springe empor, die Blumen fallen zur Erde, in weitem Bogen werfe ich den Kranz von mir, eine Sekunde bleibe ich noch so stehen, erschrocken, gebannt – dann fange ich an zu laufen, fort nach Hause. In wilden Sätzen geht es aus dem Kornfeld, über den grünen Abhang, zur Landstraße, ich höre Georg hinter mir rufen: »So warte doch!« Ich höre seinen eiligen Schritt dicht hinter mir.

Wie gehetzt, jage ich weiter, da – eine Wegbiegung, ich laufe meinem alten, lieben Onkel direkt in die Arme.

»Aber Kind! Du bist ja ganz atemlos!«

»Ach, Onkel, Onkel! ich war so erschrocken!«

»Aber warum denn? was hast du nur?« Nun sind sie alle da, die Tanten, meine Mutter, auch Georg. Ja, warum erschrak ich nur so sehr? Ich muß jetzt selbst über mich lachen, warum denn nur? –

Die Tanten blicken ernst. Meine Mutter will ein strenges Gesicht machen: »So fortzurennen, ohne zu fragen!« sagt sie.

»Laß das Zanken!« schneidet Onkel jedes weitere Wort ab. »Nun sind die Sünder heil und lebendig wieder da, und das ist die Hauptsache.«

»Georg wird dich noch einmal umbringen mit seinen Unternehmungen,« sagt meine Mutter, sonst nichts weiter.

Wir wandern dem Städtchen zu, das mit seinem Kirchturm und den weißen Häusern aus dem Grün seiner Gärten schaut. Felder und Wiesen weit und breit, und tiefe Stille.

Wir singen:

»Der Mond ist aufgegangen,
Die goldnen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar.«

Meine Hand ruht in Onkels Hand, er hält sie fest. – Wir singen weiter:

Wie ist die Welt so stille,
Und in der Dämm'rung Hülle
So traulich und so hold!
So ganz wie eine Kammer,
Wo ihr des Tages Jammer
Verschlafen und vergessen sollt.«

»Des Tages Jammer!« Das waren damals nur Worte, die meine junge Stimme ahnungslos in die laue Abendluft hinaussang.

Aber einmal sollten auch für mich die Tage kommen, wo diese Worte mit ihrem ganzen furchtbaren Ernst über meinem Leben standen.

Gesegnet aber ist das Leben, dessen junge Tage so voller Licht und Freude waren, wie die meinen. Die Erinnerung daran hilft auch »des Tages Jammer« leichter tragen.


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