Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

12. Kapitel.
Meereswunder.

Isold dehnte sich nach dem gewohnten kalten Morgenbad behaglich in ihrem Schlafrock. Es klingelte draußen. Sie ging in das Frühstückszimmer, der Diener überreichte ihr, feierlich wie immer, auf silbernem Tablett einen Brief, den die erste Post gebracht hatte. Sie öffnete ihn mit einem leichten Lächeln angenehmer Erwartung, da sie an der Aufschrift den Absender erkannt hatte.

Walter Arndt schrieb:

An Bord der Viktoria.

Sehr geehrtes gnädiges Fräulein!

Mit umso größerem Vergnügen erfülle ich Ihren Auftrag, über das Befinden Ihres Herrn Vaters zu berichten, als ich bestätigen kann, daß er bisher wohl war und verschont geblieben ist von der abscheulichen Seekrankheit, die einige Teilnehmer der Expedition, besonders unseren Professor Weckerle befallen hat. Ihr Herr Vater ist gegen mich zurückhaltend, und ich darf ihn in keiner Weise merken lassen, daß ich um ihn besorgt bin, das würde ihn mißtrauisch machen. Ich hatte deshalb dem Schiffsjungen anbefohlen, Ihrem Herrn Vater das englische Plaid, das Sie ihm mitgaben, und welches er öfter zurückläßt, wenn er auf Deck geht, stets nachzutragen. Er fragte, wie der kleine Tom mir vorgestern meldete, wer ihm den Auftrag dazu erteilt habe, worauf Tom arglos zur Antwort gab: Herr Arndt hat mich darum gebeten. – Das hätte er natürlich nicht verraten sollen.

Der Herr Geheimrat erwiderte nichts, aber die Wirkung ist doch die, daß er jetzt immer selbst an sein Plaid denkt. Er liebt es offenbar nicht, wenn man sich um ihn kümmert. Ich behalte ihn aber immer im Auge, seien Sie unbesorgt.

Sie wollten auch über unsere Arbeiten hören. Mich persönlich nimmt die Ordnung der Bibliothek noch in Anspruch, die mir Professor Weckerle überließ, ich komme vorläufig zu nichts anderem. Aber von einem wunderbaren Meeresleuchten muß ich Ihnen doch erzählen, das ich letzte Nacht beobachten konnte. Die nur mäßig bewegten Wellen spritzten gleichsam ein flüssiges Feuer an die Wände des Schiffes, weit und breit glänzte der Atlantische Ozean in mildem phosphoreszierendem Schimmer. Wie Sie wohl wissen werden, sind es teilweise Quallen, welche diese Erscheinung bewirken, daneben aber auch Milliarden von winzigen Krebsen und einzelligen Tierchen, welche in Gemeinschaft mit kleinen Algen auf der Oberfläche des Meeres das sogenannte »Plankton« bilden.

Diese Organismen sind eine wesentliche Nahrung aller Meerestiere. Der Fang mit dem Planktonnetz ergab eine reiche Ausbeute. Mich entzückten jene bläulich schimmernden Quallen, welche die englischen Matrosen » Portugese men of war« – portugiesische Kriegsschiffe – nennen. Sie leuchten noch eine ganze Weile im Eimer, wenn man ihn schüttelt.

Ich sende Ihnen hier eine farbige Zeichnung von einer solchen Qualle.

Sie bemerken an der Unterseite der Schwimmblase zahlreiche Fühlfäden, die so elastisch sind, daß man sie ziemlich lang ziehen kann, ohne daß sie zerreißen. Ein Schwarm solcher Quallen ist in der Tat wie eine bewaffnete Kriegsflotte und eine stete Gefahr für alle kleinen Tiere, Krebse, Fische, die in ihr Bereich kommen. Näheres über diese merkwürdigen Wesen und ihre Angriffswaffen, kleine Nesselfäden, die sie mit ihrem Gift weithin zu schleudern vermögen, finden Sie in der Bibliothek Ihres Herrn Vaters. Bahnbrechend sind die Studien Ernst Häckels auf diesem Gebiete. Er hat mit unermüdlicher Hingabe und Sorgfalt Jahrzehnte lang diese Meeresfauna beobachtet und da er zugleich ein begabter Zeichner war, feinsinnig dargestellt. Ganz besonders hat er sich mit den Strählingen oder Radiolarien beschäftigt, mikroskopisch winzigen Tierchen, deren weiche Körpermaße, das sogenannte Plasma, die wunderbarsten Schutzhüllen und Gehäuse um sich baut. Diese festen Formen sinken, wenn das Tier abstirbt, in die Meerestiefen und bilden dort den sogenannten Radiolarienschlamm. Häckel hat die vielfachen Formen dieser kleinen Gehäuse eingehend studiert und in seinen Studien über die Kunstformen der Natur veröffentlicht. Es gibt wohl keine menschliche Kunstform, die hier nicht von der Natur schon vorgebildet ist. Vielfach wurde deshalb an der Richtigkeit der von Häckel veröffentlichten Zeichnungen gezweifelt, man behauptete, diese erstaunlichen Formen seien von ihm »stilisiert«.

Häckel erklärt dieses Plasma, die weiche Masse, welche den Panzer dieser kleinen Wesen erfüllt, für die Urform alles Lebendigen. Freilich der Lösung des Welträtsels ist er damit nicht näher gerückt.

Ich sprach heute mit Professor Weckerle über dieses Thema, das war sein Fall! Weckerle vergaß darüber fast seinen üblen Zustand – so gesprächig wurde er. Er meinte: das Plasma gäbe nur ein neues und unlösbares Rätsel auf. Und wenn es den Chemikern wirklich einmal gelingen sollte, diese Urform des Lebens aus unorganischen Stoffen herzustellen, so wäre damit für die Erklärung der Welt nichts getan, es wäre eben nur eine Nachahmung eines an sich unerklärlichen natürlichen Vorgangs. Denn viel wunderbarer erscheint es ja, wenn aus chemischen Stoffen Leben ersteht und es wäre nur ein Beweis, daß Leben in ihnen bereits enthalten gewesen sei. Das ist doch keine Erklärung, fuhr Weckerle lebhaft fort, wenn man sagt: die Natur schafft! Häckel folgt hier dem Vorbilde Goethes, der als Dichter ein Recht hatte zu sagen:

»Die Natur schafft ewig neue Gestalten, was da ist, war noch nie, was war, kommt nicht wieder, alles ist neu und doch immer das Alte.«

Wunderschön! sagte Weckerle, bis auf den Vordersatz: »Die Natur schafft.« Was heißt denn das? Natura bedeutet ja schon zu deutsch: Das was schafft – die Schaffende! Da sind wir wieder, wo wir waren – es bleibt uns nichts weiter, als das Unerforschliche schweigend zu verehren – mit Goethe! Oder wie Kant es meint, wenn er sagt: »Zwei Dinge sind es, die mich mit immer neuer Bewunderung und Ehrfurcht erfüllen: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.«

Damit wünschte Weckerle mir gute Nacht und empfahl sich, und das gleiche tut

Ihr ergebener
Walter Arndt.

Isold las diesen Brief wiederholt, nach dem Frühstück ging sie in das Bibliothekzimmer des Geheimrats und suchte in Goethes, Kants und Häckels Schriften die angeführten Stellen.

Sie merkte am Abend in ihr Tagebuch an:

Inhaltreicher Brief von Walter Arndt; als ich mir den Herrn Studiosus zum Partner für den Tanz auserkor, hätte ich nicht gedacht, daß dieser leichte Walzertänzer meinen armen Kopf noch mit so schweren Dingen beladen würde. – Aber schließlich als Professorentochter muß man in dieser Beziehung etwas vertragen können.


 << zurück weiter >>