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Illustration: Willy Planck

1. Kapitel.
Das alte Atlantis taucht auf und verschwindet.

»Im sechsten Jahre Kan am elften Muluk im Monat Zac fanden schreckliche Erdbeben statt, die ohne Unterbrechungen bis dreizehnten Chuen andauerten. Die Gegend der Schlammhügel, das Land Mu wurde das Opfer. Zweimal wurde es emporgehoben und plötzlich war es über Nacht verschwunden. Das Meer wurde fortwährend durch vulkanische Gewalten aufgewühlt, dadurch hatte sich das Land mehrmals an verschiedenen Stellen gehoben und gesenkt. Schließlich gab die Oberfläche nach und zehn Länder wurden voneinander gerissen und zerstreut. Unfähig den gewaltigen Zuckungen der Erde Stand zu halten, versanken sie mit ihren Bewohnern. Dies geschah 8060 Jahre vor der Niederschrift dieses Buches.«

Durch das offene Fenster trug der Nachtwind den Duft der Linden in das Dachstübchen. Vom benachbarten Schloßturm schlug es zwölf. Walter las zum dritten Male mit heißen Wangen die merkwürdige Stelle der uralten Mayahandschrift, welche er dem vor ihm liegenden Buche des Angloamerikaners Le Plongeon entnommen und aus dem Englischen übersetzt hatte. Die vielumstrittene Schlußfolgerung dieses Forschers – bestätigte sie nicht Walters eigenen Glauben an Atlantis, jenen versunkenen Erdteil, von dem schon Platon, der weise Grieche berichtet hatte?

Atlantis! Ja, das war die riesige Landbrücke, die in unvordenklichen Zeiten den Westen Europas und Nordafrikas mit dem mittelamerikanischen Festlande verbunden hatte! Sie war versunken und nur einige vulkanische Inseln ragten als spärliche Reste eines Kontinents aus dem atlantischen Ozean. In Meerestiefen ruhten die Geheimnisse von Atlantis.

Walter blickte auf: die Kerze, die sein Dachstübchen matt erhellte, war fast niedergebrannt. Sein Kopf glühte und schmerzte. Und vor ihm lag das unerledigte Schulpensum, die Mathematikaufgabe.

Er empfand die Mathematik als einen lästigen Zwang für seinen früh schon anders gerichteten Geist. Aber er war vernünftig genug, ihre Unentbehrlichkeit einzusehen und er fühlte, daß er es nicht nur sich, sondern ebenso sehr seinem Onkel und Vormund schuldig war, durch Fleiß zu ersetzen, was ihm an besonderer Begabung für dieses Fach fehlte.

Junge! hatte der Kapitän Arndt bei keinem letzten Besuch im Herbst gesagt – ich verspreche dir eine schöne Erholungsreise, wenn du dein Abitur gut bestehst – ich erwarte es übrigens von dir – das bist du deinem seligen Vater schuldig!

Des Knaben wandernde Gedanken blieben bei dem verstorbenen Vater. Er war seine liebste Kindheitserinnerung. Die Mutter hatte er nie gekannt – sie starb, als sie ihm das Leben gab. Und dann hatte ihn auch der Vater für immer verlassen, als Walter fünf Jahre alt war und der Sohn gedachte lebhaft des Tages, an welchem Hauptmann Arndt lachend und siegesgewiß ins Feld gezogen war, um niemals wiederzukehren. Ein paar zuversichtliche Briefe aus Belgien waren die letzte Kunde von ihm. Er blieb verschollen.

Das Haus des Rektors in der thüringischen Kleinstadt wurde Walters Heim. Sein Leben war fortan durch den Besuch des Realgymnasiums und die häuslichen Schulaufgaben geregelt unter der strengen Führung des Rektors.

»Wen Gott lieb hat, den züchtigt er« pflegte der fromme Rektor Gerhart zu sagen. Und Walter fühlte wohl, daß er es gut mit ihm meinte.

Tiefer und herzlicher gestaltete sich seine Beziehung zu dem alten Geschichtslehrer Dr. Stoppel, der ihn durch eine Fülle lebendigen Wissens an sich zog. Dr. Stoppel hatte eine besondere Art, die Vergangenheit der Völker lebendig zu machen. Mit unermüdlicher Hingabe baute der Alte in Holz und Pappe wundervolle kleine Werke: die hängenden Gärten der Königin Semiramis mit ihren Terrassen und Lauben erstanden unter seinen geschickten Händen.

Die Pyramiden mit ägyptischen Königsgräbern waren so eingerichtet, daß man sie öffnen und in die Gänge schauen konnte und in die Kammern, wo fingerlange Mumien lagen, mit königlichen Abzeichen und Opfergaben versehen. Balken mit Widderköpfen, in Ketten hängend, veranschaulichten antike Belagerungskunst und neben der römischen Saalburg Das kulturhistorische Buch: »Blümlein, Im Kampf um die Saalburg« ist im selben Verlag erschienen. ragte das normannische Schloß. Germanische Pfahlbauten wechselten mit altmexikanischen Wassertempeln. Dies alles war nicht nüchtern in den stumpfen Farben des Materials geblieben, sondern mit Sorgfalt in den buntesten Tönen ausgemalt.

Solche freiwillige Gaben, mit welchen Dr. Stoppel seinen Geschichtsunterricht zu beleben wußte, fanden bei keinem seiner Zuhörer so viel dankbares Verständnis wie bei Walter, der bald Dr. Stoppels bester Schüler wurde. Als besondere Gunst empfand es Walter, daß der alte Herr seiner Obhut diese Schätze anvertraute, ihm erlaubte, sie in die Schulklasse und wieder in seine Wohnung zu schaffen. Bei dieser Gelegenheit versah er ihn öfter mit Büchern, und als der alte Mann kurz vor seiner Pensionierung ganz plötzlich starb, erhielt der Lieblingsschüler als kostbares Vermächtnis eine kleine erlesene Sammlung kulturhistorischer Werke, die nun Walters Bücherbrett füllten. Bei diesen Erinnerungen war der nächtliche junge Grübler unmerklich in jenen halbwachen Zustand geraten, in dem man mit offenen Augen zu träumen pflegt: Stand da nicht der gute alte Dr. Stoppel leibhaftig vor ihm? Nickte und lächelte geheimnisvoll und sagte halblaut, wie er es zuweilen tat, wenn ihn eine treffende Antwort Walters erfreut hatte:

»Junge! In dir steckt etwas!«

Da gab es einen Ruck: des Träumers Kopf war auf das Buch gesunken. Der Müdigkeit nachgebend, die ihn überwältigte, blieb Walter in der unbequemen Stellung.

Illustration: Willy Planck

Die Treppe hinauf knarrten Schritte. An der Türe wurde gerüttelt: »Was soll denn das heißen? Warum schließest du dich ein?« Es war die ärgerliche Stimme des Rektors. Walter fuhr auf, schob schnell das verräterische Buch und seine Aufzeichnungen unter das Bettkissen und öffnete.

»Und das Licht ganz abgebrannt?« brummte der Rektor. »Warum schläfst du nicht? Es ist Mitternacht!«

»Die Mathematikaufgabe –« stammelte Walter.

»Noch nicht fertig? Zeig einmal her! Die Lösung ist doch einfach, die mußt du allein finden. Es hat keinen Sinn, wenn ich die Aufgabe für dich mache. Besonders nicht in diesen Tagen, in denen du vor dem Examen stehst. Du hast dich wahrscheinlich mit anderen Dingen beschäftigt, hm? Das wäre sehr Unrecht, übrigens wollen wir die Bücher da oben, die nicht zu deinen Aufgaben gehören, fortschaffen.«

Der Rektor raffte mit einem ärgerlichen Griff eine Reihe Bände vom obersten Brett, wobei einige hinunterfielen.

»Hilf einmal! So!«

Walter nahm schweigend den Rest der Bücher und folgte dem Rektor die Treppe hinab.

»Diese überflüssigen Bücher schaffen wir morgen auf den Boden –« erklärte der Rektor – »wo sie bleiben, bis wir das Examen gemacht haben. Das geht vor, mein Lieber! Und jetzt: Marsch ins Bett! – Hm, hör einmal Walter! Es will mir nicht in den Sinn, daß ein begabter Mensch von siebzehn Jahren das bißchen Mathematik nicht zwingt, das kann ja ein Dutzendmensch schaffen – Nun? Du erwiderst kein Wort?«

»Ich will mir Mühe gebe«, Herr Rektor« erwiderte kleinlaut Walter mit einem halben Seufzer.

»Na, hoffentlich!« sagte der Rektor »Übrigens –« fügte er in einem milderen Tone hinzu – »nimms nicht gar zu schwer, mein Junge. Es wäre mir ja lieb, auch deines Onkels wegen, du bekämst eine drei in Mathematik. Aber weil du, das weiß ich, in Sprachen und Geschichte sehr gut bestehen wirst, gleicht sich das am Ende aus. Gute Nacht!«


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