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4. Kapitel.
Weckerle.

Als Walter Arndt zwei Wochen später kurz vor Semesterbeginn an seinem Bestimmungsorte angelangt war, galt sein erster Gang am Nachmittage dem Dozenten in der Kulturgeschichte, Weckerle, an welchen ihn sein Rektor empfohlen hatte.

Er fand nach einigem Umherirren in der Nähe des Hafens die abgelegene Richard-Wagner-Ecke, in welcher der Gesuchte hauste. Es war das Ende einer nur aus vier Häusern bestehenden Sackgasse. Hier stand eines der wenigen Gebäude der Biedermeierzeit, ein kleines einstöckiges Haus mit hohem rotgegiebelten Dach, das eine zweite Flucht von Fenstern zeigte.

Walter erfaßte am Tor den Porzellangriff einer altmodischen Klingel, auf dem mit zierlicher goldener Kursivschrift der Name des Eigentümers stand – es gab einen hellen nachhallenden Ton. Ein Giebelfenster wurde geöffnet, eine dicke Frau in weißer Haube sah heraus und rief mißtrauisch: »Wer ist denn da?«

»Walter Arndt!« klang es heiter zurück.

»Warten Sie, ich bin gleich unten!«

Schnelle Schritte schlürften die Holztreppe herab, der Torschlüssel drehte sich zweimal knackend im Schloß. Im Flur stand die rundliche Frau mit der Haube.

»Frau Professor?«

»Ganz recht, kommen Sie nur. Sie werden erwartet. Mein Mann ruht noch etwas, wird aber gleich zu Ihrer Verfügung sein. Sie sind also der Walter Arndt! Rektor Gerhart hat uns viel von Ihnen erzählt. Haben Sie denn schon eine Wohnung?«

»Nein!«

»Wir können Sie leider nicht bei uns aufnehmen. Haben nur eine Aufwärterin zur Bedienung. Aber ich finde schon eine Adresse für Sie.«

Über den Flur, durch welchen eine weißgescheuerte Holztreppe zum Dachgeschoß führte, ging es zu einer Türe, welche die alte Dame aufklinkte, in ein Zimmer mit Biedermeiermöbeln, durchduftet von einem mächtigen Gartenblumenstrauß, der auf dem Mitteltisch prangte.

»Ist da Besuch?« tönte eine helle Stimme nebenan.

»Ah, er ist schon auf! Ja, Tim, – Walter Arndt ist gekommen!«

Die Nebentüre öffnete sich sogleich. Ein bleiches, spitznasiges Männlein mit hohem weißen Haarbusch stand auf der Schwelle in weitem altmodischen Gehrock, schaute lächelnd durch ein paar glitzernde Brillengläser auf den Ankömmling und sagte, ihm beide Hände entgegenstreckend mit gedämpfter Feierlichkeit: »Salve!«

»Ich wollte nicht versäumen, mich Ihnen, Herr Professor, sogleich nach meiner Ankunft vorzustellen und Grüße von Herrn Rektor Gerhart an Sie zu überbringen.«

»Was macht er denn, mein alter Gerhart? Wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen! Ist er gesund und munter? Kommen Sie gleich in mein Tuskulum, mein Lieber, da plaudert es sich besser. Lona, du bringst uns wohl den Kaffee herein.«

»Möchtest du nicht am Tisch –?«

»Nein, nein, du weißt, ich liebe nicht die Umstände.«

Er zog den Besucher in den Nebenraum, wo Walter außer einem Arbeitstisch in der Mitte und einem niederen Lager, von dem eine persische Decke eben herabgeglitten zu sein schien, nichts als Bücher erblickte, welche die Wände bis zur Decke hinauf füllten.

Der Professor führte Walter auf einen Polstersitz an das Doppelfenster, das auf einen kleinen von Platanen beschatteten Hintergarten hinausging.

»Nun erzählen Sie mal! Haben Sie Studienpläne gemacht? Was hat man denn vor?«

»Vor allem älteste Kulturgeschichte, Herr Professor, wobei vergleichende Sprachforschung unerläßlich erscheint.«

»Richtig! – Für vergleichende Sprachforschung haben wir hier eine Autorität – unseren Echtermeyer! Und in den alten Kulturen bin ich zu Hause. Was sage ich denn da – zu Hause? Zu Hause – der Ausdruck trifft nicht zu. Denn eigentlich ist hier noch unentdecktes Land! Was wissen wir denn im Grunde über die alten Kulturen? Wenig, wenig! Jeden Augenblick kann man durch Funde überrascht werden, die alles über den Haufen werfen, was die gelehrte Welt Jahrzehnte, Jahrhunderte für sicher gehalten und behauptet hat. Da – nehmen wir einmal: Ranke! Ranke, unseren großen Historiker! Der fängt noch seine Weltgeschichte an – warten Sie mal – warten Sie mal, ich hole den Band!«

Weckerle war mit sprungartiger Bewegung auf der Bücherleiter an der Wand gegenüber, entnahm mit hastigem Griff dem Regal einen dicken Halblederband, blätterte schnell und las, noch auf der Leiter stehend: »Die Erde war bewohnbar geworden und wurde bewohnt. Die Völker waren geschieden und standen in mannigfachen Beziehungen untereinander. Sie besaßen Anfänge einer Kultur lange bevor die Schrift erfunden war – und auf diese allein ist die Geschichte angewiesen. Nur das kann sie unternehmen, was sie mit ihren Mitteln zu erreichen vermag. Wie könnte sich der Geschichtsschreiber Zutrauen, das Geheimnis der Urwelt, also das Verhältnis der Menschen zu Gott und der Natur zu enthüllen?« –

»Ja sehen Sie, das war gegen Ende des vorigen Jahrhunderts! 1896 erschien die zweite Auflage dieses Buches! Inzwischen aber hat man entdeckt, daß der vorgeschichtliche Mensch in Europa schon zur Eiszeit gelebt hat, und daß es nicht eine, sondern mehrere Eiszeiten gegeben hat – ja es wurde von den Geologen die Behauptung aufgestellt und glaubhaft gemacht: Diese Eiszeiten wiederholten sich ungefähr alle 10 000 Jahre. Ganze Kontinente verlieren in der Vereisung ihre Lebensbedingungen und der Rest der Menschheit, der diese Schrecknisse überlebt, sinkt durch die furchtbare Not zu den Gewohnheiten der Eskimos herab – und die Weltgeschichte fängt wieder von vorne an. Da kann man wohl sagen: Ehe es uns und unseren Nachfolgern gelungen ist, die Geheimnisse der ältesten Kulturen zu ergründen, ist auch unsere Kultur schon wieder zusammengesunken und ihre Reste sind wieder Gegenstand der Forschung für eine Nachwelt geworden. – Ja, ja, ein schönes, aber ein endloses und im Grunde auch ein trostloses Studium« sagte der kleine Professor und schob den ›Rauke‹ in das Bücherregal zurück. »Man wird niemals damit fertig, mein Lieber!«

Illustration: Willy Planck

»Ich fühle die Wahrheit Ihrer Worte, Herr Professor –« erwiderte Walter zögernd – »und das nimmt mir fast den Mut, Ihnen von einem kulturhistorischen Funde zu berichten, den ich unlängst gemacht habe!«

»Ein Fund?« rief lebhaft der kleine Professor – »erzählen Sie doch!«

Der Professor machte große Augen bei dem Bericht. Walter entnahm, während er sprach, seiner Brieftasche ein zusammengefaltetes Blatt mit den Zeichnungen des aztekischen Götzen und der rückseitigen Bruchfläche.

»Hm. – Sie haben recht. Das stellt Tlaloc, den Gott des Wassers und der Fruchtbarkeit dar. Warten Sie –«

Der Professor war wieder auf der Leiter und holte einen schmalen Band aus der Bücherei. »Da haben Sie ein Bild von ihm. Es stimmt mit Ihrer Zeichnung fast überein.

Nicht ganz! Die Andeutung der Beine – oder vielmehr der Flossen – des Wassergottes, die Sie hier sehen – fehlt auf Ihrer Zeichnung. Aber gerade diese Abweichung gibt zu denken. Denn wäre Ihr Fund wesentlich übereinstimmend mit diesem aztekischen Götzenbild, dann entstammte er keinesfalls der Urzeit – die Azteken sind bekanntlich erst später eingewandert. übrigens ist ja – wenn Ihre Zeichnung nicht trügt – die von Ihnen gefundene Plastik viel plumper und scheint schon deshalb auf ein höheres Alter hinzuweisen.

»Der Fund auf dem Grunde des Meeres ist freilich noch kein Beweis für einen Kulturrest des untergegangenen Atlantis, ich möchte eher annehmen, daß Ihr Engländer mit seinem gesunden Menschenverstand das Rechte getroffen hat. Wahrscheinlich haben wir es mit einem Beutestück von einem spanischen Schiffe zu tun, das mit dem Fahrzeug zugleich unterging. Die spanischen Eroberer schleppten ja nicht nur Gold, sondern auch allerhand Merkwürdigkeiten aus mittel- und südamerikanischen Gebieten davon. Die Forschungen nach dem alten Atlantis haben schon wiederholt die gelehrte Welt beschäftigt und sind noch nicht abgeschlossen, allerdings jenes Atlantis, von dem Plato Wunderdinge berichtet, ist gefunden. Mein Erlanger Kollege Dr. Schulten hat es vor einigen Jahren entdeckt: Es ist die Handelsstadt Tartessos an der Mündung des Guadalquivir, die älteste Kulturstätte im Westen Europas. Dort hat Dr. Schulten unter Wasser aus Schlamm und Sand die Überbleibsel eines uralten Fischerdorfes ausgegraben und darunter die steinernen Reste von Tartessos gefunden. Die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen.

»Gewiß ist mir, daß noch andere Teile der Erde versunken sind. Geologische Forschungen bestätigen die bei vielen Völkern wiederkehrende Sintflutsage. Bestimmtes aber wissen wir nicht darüber. Das ist eine der vielen Dunkelheiten in der Urgeschichte der Menschheit. Aber da kommt der Kaffee, trinken wir erst einmal!«

Die Frau des Professors war mit dem dampfenden Mokka erschienen.

»Hier Herr Arndt« sagte sie, Walter einen Zettel reichend »haben Sie eine Adresse. Gehen Sie doch erst einmal zu dem Schneidermeister Langwieweit, der hat ein Zimmer zu vergeben. Das sind anständige Leute, die Frau kocht gut, Sonntags hoffen wir Sie öfters bei Tisch zu sehen.«

Die Frau Professor lächelte, nickte und verschwand wieder. Weckerle blätterte, während sie den Kaffee nahmen, flüchtig in Walters Manuskript.

»Hm, hm, das scheint recht lebendig und anschaulich –« murmelte er. »Mir sind ja diese Dinge nicht neu, die Folgerungen von Augustus Le Plougeon werden allerdings von der ernsten Forschung angefochten. Doch ist der Grundgedanke vielleicht fruchtbar für weitere Bemühungen. Halt! –« sagte er, mit der flachen Hand auf das Manuskript schlagend, »da fällt mir ein: Vanderbergen! Gehen Sie doch zu dem Privatdozenten Geheimrat Vanderbergen, der eine Tiefseeforschung im Atlantischen Ozean vorbereitet – allerdings zu anderem Zwecke: Messungen, Geologie, Fauna der verschiedenen Meerestiefen. Aber vielleicht interessiert gerade ihn, den Geologen, Ihr Gedanke! Hier haben Sie für alle Fälle meine Karte, ich rate Ihnen, gehen Sie hin, ehe unser Semester beginnt. Er ist kein zugänglicher Mann.

»Ein Sonderling! – Er hat eine Professur ausgeschlagen, um unabhängig von einer Staatsanstellung arbeiten zu können – wozu ihn freilich ein großes Vermögen instandsetzt. Und den Geheimratstitel hat er, sagt man, lediglich aus Höflichkeit gegen einen Herzog angenommen, der ihn anbot. Vanderbergen steht abseits von unseren modernen Geologen. Er behauptet nämlich, daß die Menschheit viel älter ist als die heutige Wissenschaft annimmt, dass sie schon in der ersten Tertiärzeit auf unserem Planeten gelebt habe. Den Beweis ist er schuldig geblieben – aber das Gegenteil konnte man ihm auch nicht beweisen. Und jedenfalls hat er seine These geistreich begründet. – Wer weiß? Vielleicht haben Sie Glück, vielleicht ist er für Sie zu sprechen. – Rauchen Sie, mein Lieber?«

»Ja, wenn es eine leichte Sorte sein kann, Herr Professor.«

»Unbesorgt, hä, hä, hä – vertrage selbst keine schwere.«


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