Hans Hopfen
Arge Sitten
Hans Hopfen

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XV.

Vitus eilte mit fliegenden Schritten dem Bahnhof zu; er brauchte nicht lange auf den Zug zu harren, welcher ihn dem gewünschten Orte zuführte, demselben Orte, welchem Pyrians Zwiegespann etwa seit einer Stunde zustrebte. Das Schienengeleise führte zwar auf einem Umwege dahin, dennoch konnte Veit hoffen, noch ein Viertelstündchen vor der Geliebten an der Stelle zu sein.

Daß es aber gerade der Ort und kein anderer sei, welchen der Tuberkelburgherr mit den Seinen aufsuchte, dessen war er sicher und gewiß.

Ein engherziger, ja ein abergläubischer Cultus der Gewohnheit galt dem alten Schmiedebesitzer für unantastbare Lebensweisheit, ja, was ihm noch bedeutender war, für militärische Ordnungsliebe. Die beiden Füße seines Stiefelknechts standen jeden Abend genau auf denselben Pünktchen im Fußboden und wehe dem, der das Erscheinen der Suppenschüssel unter der Thüre des 150 Speisezimmers auch nur um eine Minute verzögerte. Für eine jede, auch für die gewöhnlichste gewöhnlicher Verrichtungen war Anfang und Dauer nach Stundenschlag und Minutenzahl genau bestimmt. Und wie er einen Abend um den andern in seinem Gasthause sich in dieselbe Ecke, auf denselben Stuhl setzte, wie er jeden Sonn- und Feiertag, den Gott vom Himmel gab, dieselben zehn Minuten auf demselben Flecke kerzengerade dastehend in derselben Kirche verbrachte – so hatte er auch einen Ort in der Umgegend ausfindig gemacht, der ein für alle mal als der alleinige unvergleichliche Zielpunkt für Familienspaziergänge geheiligt war.

Nicht eitle Willkür eines Einzelnen war es gewesen, die dieser Dinge Wahl getroffen, sondern auch der Vater hatte also den Stiefelknecht gestellt und schon sein Großvater an demselben Fleck die Messe vom Credo bis zum Ite gehört. Ich weiß nicht, ob die Suppe auf Pyrians Tisch trotz ihres pünktlichen Erscheinens nicht doch manchmal angebrannt war, denn als ich ihn kennen lernte, lud er Niemanden mehr; ich kann nicht sagen, ob es sich auf dem Stuhl in der bewußten Gasthausecke sehr sicher und bequem saß, denn der betreffende Stuhl stand in einem abonnirten nur für eine geschlossene Gesellschaft angesessener Vollbürger zugänglichen Local; aber das weiß ich, daß die Wahl seiner Väter auf keinen schöneren, freundlicheren, 151 abwechslungreicheren Spaziergang verfallen konnte als das liebliche Westenau war und noch ist.

Das Gasthaus von Westenau liegt etwa zwei Meilen von der Stadt, auf die es eine umfassende Aussicht gewährt, am Saum einer waldigen Hügelkette, deren Spitzen ein dichter, meilenbreiter, mit künstlichen Wegen zu anmuthigen Sommerwandlungen durchschlagener Hain bekrönt. Hat man das andere Ende dieser grünen Blätterhallen erreicht, so sieht man weit hinaus in's freie Land, das sich in mächtiger Abdachung wie eine schiefe Ebene dahinzieht; breite Saatfelder, einzelne Baumgruppen, grasende Heerden, etliche Blockhäuschen, Weiher und Straßen, Hügel und Bäche, dahinter endlich ein weiter, malerisch gelegener Landsee, dessen fernste waldige Ufer die Kette des Gebirges grüßend überragt.

Es war eine andere, gleichfalls höchst lobenswerthe Gewohnheit der Pyriansväter, niemalen im Gasthause zu Westenau einzukehren, sondern nachdem sie schon zu Hause für den ersten Hunger gesorgt, und dann, an Ort und Stelle angekommen, einen weidlichen, ermüdenden Spaziergang im schattigen Holze gemacht hatten, sich im Kreise der Familie am jenseitigen, waldfreien Abhang des Hügels zu lagern, ein halb Dutzend mit auf den Weg geschleppte Säcke ihres Inhalts zu entledigen, also eine kalte, jedoch sehr ergiebige Abendmahlzeit im 152 Grünen einzunehmen und erst bei einbrechender Nacht auf den Rückweg zu denken.

Ein nagendes Gefühl unabweisbarer Sehnsucht hatte Veiten aus der Stadt getrieben; nie noch, so meinte er, sei der Anblick Fanny's seinem Herzen so sehr Bedürfniß gewesen, wie heute; ja nur den Saum ihres Kleides von fern im Winde flattern zu sehen, däuchte ihn schon Gewinn. Leidenschaftliche Liebe, unüberwindlicher Groll gegen den grobhöhnischen, boshaften Vater, wachsende Eifersucht gegen den als so gefährlich gepriesenen und so täppischdreisten Ohm Stoffel, die bunten Eindrücke des heutigen, festlich geschmückten, überlauten Tages und nun die würzige, friedliche Stille der weiten Landschaft – es war ein Wechseln und Treiben und Verdrängen in Veits Gefühlen, als spielte das Fieber in seinen Adern. Aber über all den wirbelnden Gedanken kreiste der Eine: wenn sie nur endlich daher käme, wenn ich sie nur endlich wieder einmal sehen könnte von Angesicht zu Angesicht!

So saß er schon eine Weile am waldigen Grat und sah vor sich hin auf das Wirthshaus von Westenau, das so niedlich und sauber auf der grünen Matte lag, unweit davon, hinter Hügeln versteckt, das kleine Stationsgebäude der Eisenbahn, von welchem man aber nur die Schornsteine und Signalstangen sehen konnte. Dort hinten endlich die Stadt in nachmittäglichem 153 Sonnenschein und doch von einer grauen Dunstschichte überlagert.

Kein Wagen zeigte sich auf der Landstraße, drückende Schwüle lastete auf der Atmosphäre und Veits Stirne glühte, obwohl er schon lange ruhig im Schatten am Waldessaume saß. Da reckte er sich in Ungeduld, legte die Hände unter das Haupt und sich rücklings in's Moos und sah durch die dichtbelaubten Zweige, die sich langsam in der heißen Luft hin und her bewegten, hinauf in den blauen grünvergitterten Himmel.

»Wie flüchtig ist der Sommer,« dachte Veit in seinem Sinn, »wie kurz das ganze Leben; wie kostbar die Zeit und doch wie verschwenderisch die Leidenschaft! Nun könnt' ich da liegen Tagelang, eine Ewigkeit und nichts denken als: warum kommt sie noch immer nicht? und: ach, wenn sie nur endlich käme! ich, der ich sonst mit jeder Stunde geizen kann und geizen muß. Nun rückt der Zeiger immer weiter und weiter und wenn er um die Scheibe gekommen, was hab' ich gethan? Geseufzt, gehofft – Derweil ist eine Menge Möglichkeit von Thätigkeit oder Genuß dahin und für mich ist das ganze Facit, daß ich um eine Hoffnung ärmer bin!«

Er zog die Hände unter dem Haupt hervor und holte, ohne sonst seine Stellung zu verändern, aus seinem Sack das abgerissene Büchelchen, den Horaz der Elzevire. Er kannte jedes Blatt, jede Zeile und mit 154 kostenden Augen las er bald hier bald dort einen Vers, eine Strophe.

»Du hast leichter gelebt in Deinem ewigen Rom, weiser Flaccus!« rief er zärtlich schmunzelnd in's Büchlein, »Du hattest munterer Blut in den Adern und Welt und Liebe folgten einem anderen Canon als heutigen Tags. Damals war die Sehnsucht kein verschämter schleichender Träumer, der sich in eigener Gluth schweigend verzehrte, sie war ein rüstiger, üppiger Jünglingknabe, der, ungeduldig den Flaum des Bärtchens nagend, die Stirnader geschwellt, vor der Thür einer Badegrotte horchte, bis Pförtner Amor, der verbündete Schalk, den leise klirrenden Riegel zurückschob, um ihn alsbald hinter vereinigter Freude fest zu verschließen. Damals war die Eifersucht ein Lustspieldichter, der sich mit weisen Sprichwörtern tröstete und der Hoffnung auf Wiedervergeltung, die ihm ein heilig Recht des Daseins galt. Damals glaubte Niemand, daß die Schalen ehrwürdiger seien als der Nußkern, und kein Mann schwor darauf, daß es nur ein einziges und alleiniges Mädchen auf der Welt gäbe, mit dem er glücklich sein könnte. Evoe unverwüstlicher Flaccus! Wie Dir wohl in Deiner Haut gewesen sein muß, da das

Nunc est bibendum, nunc pede libero
Pulsanda tellus

melodisch aus Dir heraustönte. Damals war noch 155 Manches nicht in der Welt, was unsereinem das Leben süß und sauer macht, es gab noch keine platonische Liebe und keine schleswig-holsteinische Frage, kein Maturitätsexamen und keine Eisenbahn – aber was heute noch ist wie dazumal, das ist der alte Adam, der unter'm Frack sein Wesen treibt wie unter der Toga, und die ewig schöne Mutter Natur. Die Flur war grün, der Himmel blau, und wenn ein junges Blut im Grase lag und durch die sonnetriefenden Blätter in den wolkenlosen Aether sah –«

Veit streckte die Arme aus und schaute nach Oben. Aber was durch die Zweige blickte, war nicht mehr des reinen Aethers azurne Tiefe, eine glänzende Wolke, goldgerändertem Silber vergleichbar, zog breite, schwüle Schatten legend vor die Sonne und Veit setzte sich, nach Wind und Wetter lugend, aufrecht unter den Stamm.

Da hörte er das gleichmäßige Rascheln eines Wagens über die Straße herauf schallen und schon aus der Ferne erkannte er die Geliebte an dem weiten weißen Sommershawl, dessen einer Zipfel im Winde flatterte.

Ohm Stoffel sprang der erste aus dem Schlag, er bot Fanny hülfreich die Hand und griff Pyrian unter die Achsel, der diese Höflichkeit aber abwehrend nun mit um so imposanterer Geberde vom Tritt stieg. Der 156 Wagen machte langsam Kehrt und die Neuangekommenen klommen rüstig den Waldsteig empor.

Veit lehnte hinter einem breiten Baume und sah dem den Hügel aufsteigenden Zuge mitten in die Gesichter. Voran kam der Alte, den Hut tief in die gerunzelte Stirn gedrückt, der Betrachter hatte diese lederähnlichen Züge nie so verstimmt, diesen sonst so selbstzufrieden schmunzelnden Mund nie so schmollend verzogen gesehn; trotzig, mürrisch, brummend stampfte der Hausvater voran, nur selten gieng ein rascher Blick, ein kurzes Commandowort rückwärts nach den Folgenden. Die nächsten waren Fanny und der Ohm Stoffel. Auch das Mädchen sah zerstreut und traurig aus, die Augen waren verweint, das üppig aus dem Hute vorquellende Haar nicht mit gewohnter Sorglichkeit geordnet, zuweilen lächelten die Lippen zwar, wenn Ohm Stoffel, schmachtend und scherwenzelnd seine Possen loslegte, aber es war ein irres, höfliches Lächeln, davon die Augenbrauen nichts wußten. Ihr Tritt war ungleich und oftmals blieb sie stehen, um den Knaben zu rufen, die Knallblümchen in den Fäusten, in einen heftigen phonisch-botanischen Streit verwickelt, hinterdrein liefen.

Nur Ohm Stoffel war ganz in Friede, Freude und Behagen getaucht und sein fettes Antlitz leuchtete wie die gemalte Sonne auf einem Wirthshausschilde.

157 Also zogen sie kaum vierzig Schritt weit an Veit vorüber, der das Haupt in's hohe Gras drückte und von keinem gesehen ward.

Es war ein langer, vielgewundener Weg über Wurzeln und Moos und Geäst, welchen der alte Pyrian in seiner halbblinden Laune dahinwanderte und die anderen zu folgen zwang. Veit zog bald im Schleicherschritt, bald springend hinter ihnen her, bald mußte er sich jählings hinter ein Gebüsch ducken, um von dem plötzlich rückwärtslugenden Ohm oder den unterwegs verziehenden Knaben nicht gesehen und erkannt zu werden. Anderthalb Stunden schon strich die Gesellschaft nicht ohne Mühen durch das Holz und dem unter Spähen und Listen nachzügelnden Veit rann der helle Schweiß reichlich über die Wangen. Er verwünschte die Wanderlust des Alten, er fluchte seinen ehemaligen Zöglingen, die wo nur eine Schnecke über den Weg gekrochen kam, wo ein faules Stücklein Holz über einem Kieselstein lag, sich niederhockten und höchst einfältige Betrachtungen austauschten, davon die Folge war, daß Veit durch diesen säumigen Nachtrab so fern von der Hauptmacht gehalten wurde, daß er auch trotz aller Müh' und allem Schweiße selten mehr von Fanny's Erscheinung zu sehen bekam, als die letzte Falte ihres Kleides, eh' auch diese hinter dem Gesträuch verschwand. Aber wo er hinsah, den feisten Ohm Stoffel sah er überall und immer in 158 seiner ganzen Pracht und Breite. Und Veit verwünschte auch den Ohm Stoffel und verwünschte endlich sich selbst mit sammt seiner tollen Leidenschaft und aberwitzigen Sehnsucht, die ihn um nichts und wieder nichts, schweißtriefend über Wurzeln und Steine stolpernd, im Wald herumlaufen ließ.

Aber er war im innersten Herzen doch guter Dinge und mußte zuweilen über die ganze sonderbare Waldkarawane lachen, denn die da vor ihm her tappte auf den kleinen Füßen, das war doch sie, und er hatte doch seinen Willen erreicht, wenn es auch nur ein zahmer, bescheidener, schwärmerischer Wille gewesen war.

Die Stämme wurden lichter, der Wald verlief sich in einzelne Baumgruppen, die jenseitige Hügelebene war nahezu erreicht und schon gerieth man stellenweise zu einer freundlichen Aussicht über die Felder und Wiesen bis an den See. Der Zug hielt an und der mürrische Bürgermilizgrenadiermajor schien nach einem tauglichen Plätzchen für Ruhe und Mahlzeit zu suchen.

Veit mochte sich, durch die lange Dauer des Wandels sorgloser gemacht, zu weit vorgewagt haben; als Fanny ihren Brüdern ein schließliches Befehlswort des Vaters wiederholte, sahen ihre staunenden Augen mitten in des Folgenden Angesicht.

Sie wechselte die Farbe, ihre Wimpern zuckten, aber mit jener raschentschlossenen, der Verstellung sicheren 159 Schlauheit, die nur dem Weibe eigen ist, hatte sie sofort den Ohm mit ihrem Hut und Shawl zum Vater vorgeschickt, während sie selbst eigenhändig die Brüder einholen zu wollen vorgab. In raschem Lauf war sie hinter den Bäumen und flehenden Ausdrucks ihre großen grauen Augen in Veits Blicke legend, ergriff sie jählings seine Hand und sprach:

»Ich bitte Dich um Gottes Willen, folge mir nicht weiter nach, ich bitte Dich, kehr' um. Morgen Abend um neun Uhr warte mein vor dem Haus. Und nun!«

Sie preßte seine Hand, sie legte den Finger auf den Mund und schon war sie davon mit den Knaben.

Veit lehnte sich an einen Baumstamm und sann über Fanny's Gebahren nach. Es däuchte ihn übertrieben ängstlich, aber er mußte über sich selbst ungehalten sein, daß er von dem Mädchen sich sein tolles, zweckloses Nachrennen in den Wald hinein und heraus hatte verweisen und verreden lassen müssen, das beiden keinen Gewinn, gar leicht aber Aergerniß und Verdruß bereiten konnte. Es kam ihm vor, als hätte er sich lächerlich gemacht in seiner eitlen Sehnsüchtelei. Er griff sich in den Bart, fieng an, ein spöttisch unwillig Liedlein zu pfeifen und den Weg zurückzusuchen, den er gekommen war.

Aber kaum, daß er einige fünfzig Schritte waldeinwärts gemacht, kam's ihm wieder anders; er suchte den Saum des Holzes, wenn auch weit von dem Lager 160 Pyrian's zu gewinnen, und da er ihn erreichte und rechtswärts zurückschaute, konnte er gerade noch die fünf Menschen überm Hügelgrat sitzen und plaudern sehn.

Er sah, wie Ohm Stoffel aufstand, ein Paar Schritte vorwärts trat und den Kopf nach allen Seiten reckte; Veit meinte schon, daß es ihm gälte; aber wie er den Spähenden die Hand in den Wind recken und die Nase fortwährend dem Himmel zukehren sah, merkte er, daß diese Aufmerksamkeit lediglich der gewitterdrohenden Atmosphäre galt.

Der Prüfende schien die Ergebnisse seiner Betrachtung nicht ohne Bedenken mitzutheilen, aber Vater Pyrian warf ihm ein Maulvoll Worte zu, als sagte er, der Herr Schwager sei eben ein Hasenfuß, ein Mann wie er aber wolle sich nach des Tages Aerger und Anstrengung sein Bischen Landaufenthalt nicht durch solcherlei Bedenken stören lassen.

Da kam es Veiten vor, als hielte Fanny die Hand über's Auge und streckte den Hals gerade nach der Gegend hin, wo er stand. Wenn sie dich erkennt, sagte sich der Ueberraschte, so hat sie ein gutes Recht, über deine Thorheit zu lachen. Pack dich, pack dich!

Darauf schritt er ohne umzusehen, eilig am Waldrande dahin, immer aufwärts. Erst nach einer starken halben Stunde, da er längst von der lagernden Familie nichts mehr sehen konnte, machte er Halt.

161 Auf einem schattigen Plätzchen, anderthalb Meilen etwa von der Westenauer Station entfernt, am Saum des Waldes, zu Häupten einer weiten lachenden Wiese, welche zwei Vizinalstraßen durchkreuzten, setzte er sich hin, legte das Kinn in beide Hände und sah hinüber auf den See, der grell beleuchtet vor seinen nebelnden Bergen lag.

Er schalt sich abermals, ohne gerade über sich sehr ungehalten werden zu können; da merkte er, daß er sich auf seinen Horaz gesetzt hatte, zog das Büchlein hervor und, nachdem er die Blätter durch seine Finger hatte gleiten lassen, legte er den aufgeschlagenen Band auf seinen Knieen zurecht und fieng mit schmunzelndem Behagen an zu lesen:

Ambubaiarum collegia, pharmacopolæ
Mendici, mimæ, balatrones etc.

Während er das wohlbekannte, ungezogenste Gedicht des weisen Alten mit neuem Vergnügen von Vers zu Vers verfolgte, ließ er seine Gedanken unwillkürlich zwischen den Zeilen umherlaufen. Der Zwang conventioneller Rücksichten, welcher ihn nun auf wer weiß wie lange von Fanny fern hielt und nur selten und dann aber nur in grellem Widerspruch mit dem Canon moderner Convenienz ein flüchtiges, ängstliches, kurzes Begegnen bei Nacht und Nebel ermöglichte, die ganze lügenhafte, gleißnerische gedrückte Scheindienerei des 162 modernen gesellschaftlichen Versteckenspielens war ein häßliches faltenfrohes Gegenbild zu der gesunden lachenden namennennenden Lebensweisheit der Alten, daß selbst das Uebermaß geselliger Freiheit ihn weit ehrenwerther und naturgemäßer dünken mußte.

Aber alle diese Gedanken traten nicht in häßlicher klagender Weise aus seinem Herzen, sondern als helle Kinder weiser Ironie, die, leichtes Lächeln um die Lippen, sich in geschmeidigen Tänzen arabeskenartig um die Verse des satyrischen Epikuräers drehten.

Wir haben gut dir nachlaufen, Vater Horazius, der du so bequemlich auf Apollos Pardel dahinreitest und den Tyrsus schleuderst nach den ewigen Narrheiten wechselnder Sterblicher; wir haben gut dir nachlaufen, um mit dem Ellenstäbchen unserer philiströsen Moral nach deiner Krone von Weinlaub und Rosen zu schlagen, wir reichen dir doch nicht an die Schläfe; und so reitest du einher durch die unverwüstliche Menschheit, den Betrübten zur Ergötzung, den Heiteren ein Trost und Vorbild!

Veit las bald laut, bald leise, oft von Lachen unterbrochen. Schon war er dem Ende nahe.

Num, tibi cum fames urit sitis, aurea quæris
Pocula?

Da fiel ein großer Regentropfen lautaufklatschend mitten ins Buch. Aergerlich blickte der Vertiefte 163 aufwärts und sah zu seinem nicht gelinden Erstaunen in einen aschgrauen Himmel, an dem im fernen Osten das letzte blaue Zipfelchen durch jagende Wolken immer mehr und mehr verdrängt wurde.

Emsig bogen sich die Wipfel der Bäume vornüber, und die Zweige griffen nach dem Boden. Der ganze Wald schien vorwärts zu wollen. Ein jäher Windstoß warf ein Paar Hände voll Staub und Blätter und Reisig in Veits überraschtes Angesicht, daß er mit raschem Wenden erst mit den Händen vor die Augen fuhr, dann seinen Hut fest in die Stirne drückte und den flatternden Rock zusammennahm. Nun kam der Sturm heulend durch das Holz gefegt und eh' einer zwölfe zählen konnte, klatschte, raschelte, rauschte der Regen, stromweise, immer heftiger und heftiger.

Veit hatte sich in Eile unter einen Baum geflüchtet, aber das Nadelholz gewährte wenig Schutz von oben und schon fieng der weiche Lehmboden zu seinen Füßen an sich in tiefen Schlamm zu verwandeln und bald von hier, bald von dort kam zwischen den Wurzeln und Furchen ein kleines Bächlein dahergeflossen, das seine Füße bis an die Knöchel überschwemmte.

Veit wechselte mehrmals den Standpunkt, aber er sah bald ein, hier war seines Bleibens doch nicht. Er sah um sich, Alles grau in grau, in die Farben hartnäckigen Landregens gehüllt, kein Sonnenstrahl, kein 164 trockenes Fleckchen, fast in greifbarer Höhe über seinem Haupte zerquirlende, zerflatternde, rauchende Wolkenzüge.

Sollte er rückwärts eilen, die Station zu erreichen suchen? sie war bei rüstigem Gang auf trockenem Boden kaum in zwei Stunden zu erreichen, und nun durch den Schlamm über die schlüpfrig glatten Wurzeln und Aeste unter den triefenden Zweigen, bei vorzeitiger Dunkelheit, wer weiß wann? Auch hatte er achtlos den Weg bis hieher genommen, zuerst die Spuren Pyrian's verfolgend, dann in seine Gedanken vertieft, auf's Gerathewohl den Hügel entlang. Er hätte sich nicht sagen können, ob er nach links oder rechts durch die Stämme sich den Weg nach Westenau suchen müßte. Aber sollte er dem nächsten Dorf zustreben? Auch dieses schien über eine Meile entfernt. Und doch war sonst nirgend Schutz oder Dach zu schauen.

Da erblickte er, wie er rathlos vor sich über das zitternde Gras und den fallenden Regen hinstierte, – im eilenden Lauf etwa in einer Viertelstunde zu erreichen, – ein einsames, braunbedachtes, holzgezimmertes Häuslein mitten in einer Wiese stehn. Verdrossen nur schien es auf dem freien Felde auszuhalten und hinter der wehenden Wasserwand des aus allen Schleußen strömenden Regens schien es langsam nach vorwärts zu schwanken und die schweren Felssteine abgleiten lassen zu wollen, die als Windschutz ihm auf dem Dache lagen.

165 Veits Entschluß war schnell gefaßt. Er hatte den Rock mit dem Futter nach außen gewendet, die Hutränder abwärts gedreht und die Hosen über die Stiefel aufgekrempelt; also die Rockschöße über den Bauch zusammenhaltend, flog er wie gehetzt mit weit ausgreifenden Sprüngen über die dampfenden abschüssigen Hügel, über die regenzerdroschene Wiese dahin, deren durchnäßtes Gras unter seinen schleunigen Tritten schnalzte und gluckste.

Es währte kaum über zehn Minuten, da hatte er die quer durch die Wiese laufende Straße erreicht, und eben that er sich nach einer Stelle um, da er am geschicktesten den Graben überspringen konnte, welcher auf der andern Seite des Vicinalwegs mit einer mannbreitströmenden, lang dahinfließenden Lache die Straße von dem anderen Theile des Rasens trennte, auf welchem das braune Häuslein stand. Wie er so den Rain entlang die raschen Blicke laufen ließ, bemerkte er kaum dreißig Schritte weit ein anderes Wesen, welches mit denselben Untersuchungen beschäftigt schien.

Da ihrer zweie sich in der nämlichen Mißhelligkeit leichter zu helfen wissen als je einer allein, eilte Veit rasch auf das andere Wesen zu, welches aber seiner nicht gewahr werden konnte, da es, um sich besser vor dem Regen zu schützen, das blaßgrüne Sommerkleid über den Kopf gezogen hatte. Darüber hielt es an 166 zierlichem Henkel einen breiten seidenen Sonnenschirm, von dem das Wasser an allen Enden in kleinen Bächen herabrieselte. Zierlich gefaltet, waren die Unterröcke unter den Hüften durch ein Band in die Höhe gezogen, darunter tippten ein paar rastlose Füßchen hin und her, zwei winzige, kleine, wohlgebaute Füßchen, mit denen Jupiter Pluvius kein Erbarmen hatte, obwohl sie aller näheren Beobachtung wohl werth waren. Die zierlichen Knöchel saßen über rundausgeschnittenen hochgehackten Schuhen, welche auf dem schöngebogenen Reihen breite Schnürschleifen zusammenhielten; die Zwickel der feinen Strümpfe waren künstlich durchbrochenen Gewebes, so daß die leise durchschimmernde Haut dem Strumpf eine leichte Rosenfarbe gab. Aber die an den Falten triefenden Röcke schlugen plump an die armen zierlichen Knöchel, während die Füßchen sich abmüdeten, einen Feldstein ins Wasser zu schieben, um über ihn und einen zweiten und dritten hinweg nicht allzutief in die Lache treten zu müssen.

»Sie möchten wahrscheinlich auch gerne jenes Dach da drüben erreichen, mein Fräulein,« sagte Vitus mit einer höflichen Verbeugung, die ebensowenig zu seinem nothgedrungenen Aufzug als zu dem Landregen über ihm paßte, um so mehr aber der Angeredeten werth war. Sie wandte sich und ein feines Gesicht mit regelmäßigen Zügen und starken dunkelen Brauen und Locken, 167 die Wangen hoch geröthet, sah jetzt mit schönen Augen unter Sommerdach und Rocküberschlag aus einem knappen Modehütchen hervor.

»Ach ja,« antwortete sie weinerlich mit lachenden Lippen, »aber es führt kein Steg über diese dreimannslange Pfütze und hier können wir doch nicht bleiben, wenn wir nicht umkommen wollen. Sehen Sie nur, es regnet immer ärger.«

»Es hilft nur ein Mittel, mein Fräulein,« sagte Veit die Achseln zuckend »und ich bitte Sie hiemit es sich hiemit im Interesse Ihrer Gesundheit und Ihrer Kleider freundlichst gefallen zu lassen. Erlauben Sie –«

Damit ergriff er sie mit der Rechten fest um die Taille mit der Linken um die triefenden Röcke, rückte die Gestalt etwas gegen seine rechte Achsel und trug das über die Erlösung aus ihrer Rathlosigkeit und die raschgewordene Komik der Situation lautauflachende Mädchen über die breite Pfütze, die er, bis an die Waden im Wasser, durchwatete.

Als sie jenseits des Wassers auf der Wiese waren, wollte das Mädchen absteigen.

»Nun denk' ich, es geht in Einem hin den Rest der Wegstrecke,« sagte Veit und sah in das schöne Gesicht, das bittend sich so nah an das seinige neigte. »Die Wiese ist zum halben Sumpf geworden, sehen Sie nur wie das Wasser unter meinen Sohlen 168 aufspritzt; auch ist der Weg nicht so weit bis zum Blockhäuschen und ich kann Sie versichern, daß mein Joch süß ist und meine Bürde leicht.«

»Machen Sie in Gottes Namen, daß wir so geschwind als möglich in's Trockene kommen,« antwortete das Mädchen und schlang von Neuem die beiden Arme Veit um den Hals, auf daß ihm das Tragen bequemer sei. Dieser fühlte ihr Herz an seinen Wangen schlagen, er fühlte, was er in kräftigen Armen und auf seinen Schultern trug, das waren runde volle Formen und der Weg schien ihm nicht zu lange gewesen, als er endlich unter dem vorspringenden Holzdache die Lachende wieder auf ihre kleinen Füße stellte.

Das Häuslein, das sie nunmehr erreicht hatten und selbander besichtigten, war weiter nichts als ein aus ungeschälten Waldbäumen zusammengepflockter Heuschober, wie sie bei uns zu Lande sehr häufig im Felde zu finden sind und nicht selten bei plötzlichem Unwetter von den Vorüberwandernden als Unterschluff benützt werden.

»Haben Sie weit nach Hause?« fragte Vitus, indem er dem Mädchen die Hand reichte und ihm in die etwas hochgelegene Oeffnung, die einzige, welche an dem Gebäude zu sehen war, hineinhalf.

»An dritthalb Stunden,« war die Antwort, »ich wohne dort drüben in einem Landhaus am See, wo 169 ich mit einer gräflichen Familie aus der Residenz den Sommer verbringen helfen muß; da ich die hohe Ehre und das unbeschreibliche Vergnügen habe, von drei jungen Contessen als Gouvernante und Erzieherin angebetet und maltraitirt zu werden.«

»Geben Sie Acht!« unterbrach sie sich plötzlich selbst, »ob nicht ein Wagen des Weges gefahren kommt, der uns mitnehmen kann, denn ohne einen solchen unverhofften Fuhrmann wär' ich ein beklagenswerthes Geschöpf. – Aber es geschieht mir schon recht! Ich war drüben in Quellenburg, wo ich meinem alten Mütterchen für den heurigen Sommer den Badaufenthalt gemiethet, und habe mich bei dieser Gelegenheit ein wenig mit meiner Schwester gezankt – ich erzürne mich gar leicht – es war um nichts und wieder nichts, aber ich wollte doch keine Minute länger bleiben. Einen Wagen konnt' ich in dem lieben Neste nicht auftreiben, an solch ein Unwetter glaubt' ich nicht, den Rückweg stellt' ich mir auch etwas kürzer vor – me voilà

Veit sah dem Mädchen aufmerksam zu, das in ihrem Unwillen lachend den Sonnenschirm in einen Winkel und den Shawl an ein vorstehendes Stückchen Baumrinde hieng und sich alsdann in gemessener Entfernung von ihm auf's Heu setzte, um durch die Lücken nach der Landstraße zu sehen, ob nicht endlich doch ein Fuhrwerk daher käme durch den Regen.

170 »Warum sehen Sie mich denn in Einem fort so fragwürdig an, verehrter Herr Lebensretter?« begann nach einer Pause das Mädchen.

»Ich bewundere Sie!« entgegnete Veit, »Tausend andere Ihres zarten Geschlechts würden unter diesen Umständen den guten Humor verlieren, Sie aber sind lustig und guter Dinge und ich muß Ihnen gestehen, ich freue mich an allen lustigen Leuten.«

»Sie scheinen mir gerade auch nicht zum Trappisten geboren,« sagte das Mädchen, »ich aber, warum soll ich über einen so nassen Regen auch noch Thränen vergießen. Mein Leben ist nicht blos über Rosen gegangen; so jung ich bin, hab' ich Aergeres erfahren, als mir ein Wolkenbruch sagen kann, und hab' am Ende doch auch wieder gelacht. Heute bin ich indessen noch leichter zu trösten, denn zu meinem holden Contesslein gelang' ich noch immer früh genug. Eins weiß ich, wenn ich wieder auf die Welt kommen sollte, alles mag ich werden nur keine Gouvernante, nimmermehr! Brrr!«

»Es ist ein harter Stand,« entgegnete Veit mit Lachen, »aber wissen Sie, daß ich auch so etwas ähnliches bin? Ich habe manche schöne Stunde über ein Paar querköpfigen Rangen versessen, die an weiß Gott was dachten, wenn ich mich halbtodt plagte, ihnen zu helfen.«

»Ach Herr Collega,« scherzte das Mädchen, »freut 171 mich Sie kennen zu lernen. Ich habe Ihnen noch nicht einmal gedankt für ihren liebenswürdigen Sannt Christophsdienst. Bin ich Ihnen schwer ins Gewicht gefallen?« damit streckte sie die rechte Hand aus und Veit rückte näher heran über das Heu, um diesen collegialen Gruß zu empfangen.

»Hören Sie nicht einen Wagen fahren?« fragte das Mädchen und zuckte ein wenig zusammen.

»Nein, es ist der Wind, der den Regen nach einer anderen Seite wirft, wir werden uns daran gewöhnen müssen für heute.«

Er hatte versucht, während dieser Worte die kleine dargebotene Hand in der seinen zu behalten, diese sich aber ihm geschickt entwunden. Das Mädchen wandte die Blicke von der Thüre ab, sah Veit mit großen Augen an und sagte:

»Wenn Sie nicht artig sind, so werd' ich Sie bitten mich allein zu lassen und Ihren Unterschluff in einem der nächsten Heuschober zu suchen.«

Es ward eine augenblickliche Stille. Veit rückte wieder ein wenig seitab, und das Mädchen mühte sich ihre Handschuhe abzuziehen.

»Darf ich Ihnen nicht helfen?« fragte Veit nach einer kleinen Weile, und sie antwortete:

»Ach seien Sie so freundlich,« und streckte ihm beide Hände zu.

172 Veit kniete sich vor sie hin in's Heu und zog mit Sorgfalt und ohne sich zu übereilen die nassen Handschuhe von den kleinen Fingern, welche, von ihrer Haft befreit, sofort etliche Schnippchen schlugen.

»Mein Fräulein,« sagte der gewesene Matrose, ohne sich aus seiner knieenden Stellung zu rühren, »ich hätte eine schwere Bitte an Sie zu richten. Da wir denn doch allem Anschein nach uns für den Abend und wahrscheinlicher Weise auch für die Nacht hier häuslich niederzulassen gezwungen sind, gestatten Sie, daß ich mir's ein wenig bequemer mache; an meinem Rock ist kein trockener Faden.«

»Thuen Sie, als ob Sie zu Hause wären, mein Herr. Durch drollige Umstände zusammengeführt, wollen wir uns das Außerordentliche unserer Lage nicht durch überflüssige Rücksichten noch mehr verleiden. Ich bitte Sie, ziehen Sie Ihren Rock aus.«

Wie sie Veit zusah, der, nachdem er sich höflich für diese Freiheit bedankt, seinen Rock behutsam sich vom Leibe wand und dann denselben auf einer der unteren Heulagen zum Trocknen ausbreitete, stand sie auf und sagte:

»Ich finde, daß es thöricht ist, wenn ich Ihnen nicht folge und mein armes Kleidchen noch ganz und gar verderbe. Für heute ist's doch einmal vorbei mit der Convenienz.«

Sie nestelte ihr Sommerkleidchen auf und nun in ihrem 173 weißen Unterröckchen sich auf den Zehen streckend, hieng sie die Robe neben ihren Shawl. Als sie zur Lücke hinaussehen wollte, und ihr der Wind eine Hand voll Regenwetter in's Gesichtchen warf, kehrte sie flugs um und erkletterte eiligst den letzten Winkel des Schobers, wo das Heu am höchsten aufgeschichtet war. Dort setzte sie sich lachend nieder und trocknete sich die Wangen.

Veit kauerte sich ihr zu Füßen, legte das Haupt in die Hand und sah auf ihre perlenblanken Zähne, die munter unter den lachenden plaudernden Lippen auftauchten und verschwanden.

»Aha! wenn uns meine alte Gräfin jetzt sehen könnte! Ich sag' Ihnen, das ist ein Frauchen! ihr Schooßhund hat dreimal mehr Seele im Leibe als sie; ich glaube, ihre drei Töchter und deren Gouvernante dazu dürften an einem Tage sich zu Tode fallen, sie würde keinen Seufzer ausstoßen, wenn sie sich nicht vorher umgesehen und vergewissert, daß er bon ton sei. Die Fräuleins hinwiederum sind ihrer Mutter würdige Töchter, kalt und herzlos und steif und dumm wie jene. Ach und mir solchen Drahtpuppen sein junges Leben zusammengesperrt sein! Na, es ist am Ende besser: ich bin's als eine andere; eine andere möchte sich leicht zu Tode grämen aber ich kann ein gut Theil vertragen und dazu gut's Muths bleiben.«

174 »Ach mein gnädiges Fräulein,« sagte Veit mit munter leuchtenden Augen, aber die Angeredete fiel ihm in's Wort:

»Ach mein gnädiges Fräulein! mein gnädiges Fräulein!« wiederholte sie nachäffend den Schnabel spitzend: »Ich bitte, lassen Sie nur das gnädige Fräulein und all die langweiligen Complimente bei Seite. Sie in Hemdärmeln und ich im Unterrock, haha! nennen Sie mich einfach bei meinem Namen, wenn ich Sie bitten darf, und sagen Sie Marthe, Marthe zu mir – Aber ja so, ich habe Sie unterbrochen, was wollten Sie vorhin erwidern?«

»Ich? ja doch, ich meinte nur, es müsse eine lustige Stunde gewesen sein, da Sie zur Welt kamen.«

»Eine lustige Stunde? ganz und gar nicht, sehr traurig war die Stunde, denn meine Mutter lag in Ohnmacht und man hielt sie für todt, – mein Vater aber war weit weggegangen, aus ärgerlicher Angst, seine Frau möchte ihm noch einen Sohn gebären. Da er aber heimkam und meine Mutter nicht todt, sondern lebendig und in ihren Armen keinen Sohn, sondern eine Tochter fand, da war er allerdings höchlich erfreut und ließ sich nicht wehren, das Neugeborene auf den Mund zu küssen, indem er ausrief: »Herr du mein Gott, ich danke dir für dieses Mädel!«

»Da hatte er sehr recht,« versetzte Vitus, »liebe 175 Marthe, ich möchte sehr gerne dasselbe ausrufen, wenn Sie mir dabei die nämliche Prozedur gestatten wollten.«

»Ich werde von meinem improvisirten Hausrecht Gebrauch machen und Sie nach dem nächsten Heuschober entsenden.«

»Thun Sie das nicht, es wird schon dunkel und wer weiß, was Alles da des Wegs vorüberkommen könnte!«

»Ach so!« rief Marthe lachend, »Sie sind mein Beschützer!«

»Ja freilich!« entgegnete Veit »darum als Wachtlohn nur einen kleinen, nichtssagenden väterlichen Kuß!«

»Aber wenn uns die Gräfin sähe?« rief Martha mit komischer Besorgniß.

Veit machte ein schmollendes Gesicht und schwieg; seine Gesellschafterin fieng an muthwillig zu lachen und rief:

»Ich sehe, Sie haben zum Trappisten doch mehr Anlagen, als ich dachte: ich soll wohl schön zu Ihnen kommen und Sie noch schön bitten, ob Sie mir nicht einen Kuß geben wollten!«

Vitus sah trotzig empor, rutschte flugs zu ihr hinan und wollte sie umhalsen. Martha wehrte sich unter Lachen und rief:

»Trappist, Trappist, memento mori!«

»Recht!« sagte der Ungestüme, »memento mori! Denken Sie, daß in der nächsten Viertelstunde ein Blitz 176 in dieß armselige Holzhäuslein schlüge und uns alle in Einem Wurf zu Kohle brennte; glauben Sie nicht, ich würde mich durch die ganze ewige Seligkeit ärgern, daß ich Sie vor diesem letzten Fall nicht geküßt hätte! memento mori! erst gelebt und dann gestorben!«

»Hören Sie auf mit Ihren Todesaussichten, Sie machen mich ganz schaudern!« sagte Martha schalkhaft und schlug die Hände wie bittend zusammen, in dem selben Augenblick umschlang sie Veit und preßte seine Lippen auf die ihren.

Martha drängte ihn zurück. »Oh Sie küssen etwas zu umständlich! und das nennen Sie väterlich küssen? Ich glaube, wenn's mein Vater so gemacht hätte, wäre das Neugeborene um's Athmen und Leben auf Einmal gekommen.«

Veit wollte etwas entgegnen, aber das Mädchen winkte ihm mit der Hand stille zu sein, dabei schnitt sie ein komisches Gesicht, schnappte nach Luft und verfiel dann mit aller Heftigkeit in ein dreimaliges Nießen.

»Ich glaube, ich habe mir einen ordentlichen Schnupfen geholt.«

»Sie haben sich am Ende recht erkältet.«

»Ach, ich habe so nasse Füße bekommen,« entgegnete Martha das Näschen rümpfend und die Sohlen ihrer Schuhe auf dem Heu hin und her wetzend.

»Das kann sehr gefährlich werden,« sagte Vitus, 177 der sich wieder in die Kniee aufrichtete und den kleinen Stiefelchen alle Aufmerksamkeit schenkte, »ziehen Sie doch Ihre Schuhe aus; wenn Sie eigensinnig sind und mir nicht folgen, können Sie am Ende recht krank werden; ziehen Sie die Schuhe aus, die alte Gräfin ist ja nicht zugegen.«

»Sie haben Recht!« sagte das Mädchen und streckte die Hand aus, um das Band an dem einen Schuh zu lösen. Aber die Schuhe waren so feucht, daß sie nicht sogleich gehorchten und Martha's Finger dabei schwarz wurden, was sie mit nicht gelindem Abscheu bemerkte.

»Ich habe Ihnen geholfen, die Schuhe an den Händen loszuwerden, lassen Sie mich bei Ihren Füßchen denselben Dienst verrichten,« bat Veit.

Das Mädchen gab keine Antwort, aber sie ließ es ruhig geschehen, daß er ihr sich dienstbar bewies und sah dabei wie gedankenlos auf ihre Füßchen und seine Hände hinab.

»Auch Ihre Strümpfe sind ganz durchnäßt,« sagte der Geschäftige, der die Schühlein neben sich auf einen Balken aufgestellt hatte.

»Wollen Sie mir nicht etwa auch die Strümpfe ausziehen?« rief Martha und lachte, indem sie schleunig den einen Fuß zurückzog.

Veit behielt seine ernste Miene bei und sprach: 178 »Ich muß Ihnen im Ernst für Ihre Gesundheit besorgt auch dieß verordnen.«

»Sie sind wohl verrückt, mein Herr?«

»Ein wenig; aber kehren Sie sich weiter nicht daran und schenken Sie mir ein Angedenken an dieses liebenswürdige Füßchen.«

»Doch nicht gar einen meiner Schuhe?«

»Nein, dieß Strumpfband!«

»Was Ihnen nicht noch Alles einfällt! ich werde Sie in der That gleich fortschicken.«

Der Regen regnete in einem fort. Früher wie sonst in diesen Tagen fiel die Dunkelheit über das Thal. Auf der nebelnden Wiese flatterten kleine lichtere Wölkchen wie zerfahrende Gespenster und schaurig warf der Sturm die rieselnde Flut an die Blockwände des einzelnen Heuschobers, der zuweilen leise in seinen Fugen knarrte und unter der zitternden Wand des Strichregens darein sah, als wollte er sich sachte nach vorne zu neigen und hin und her bewegen. Ein irrer dunklerer Schatten schien auf dem Dach zwischen den alten Feldsteinen zu kauern. Von drinnen aber tönte Kosen und Plaudern und manchmal ein hellaufkicherndes Scherzen in die brausende, sausende, regenprasselnde Nacht. 179

 


 


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