Hans Hopfen
Arge Sitten
Hans Hopfen

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IV.

Es war viel Anlage zum Spitzbuben in einem jeden der beiden Burschen und das Glück schien gegen die Ausbildung dieser Anlagen nichts einwenden zu wollen.

Sie wanderten nach jenem Recepte des Criminalisten, welches Curt an dem Tische seines Oheims aufgelesen hatte, und so sahen sie, kurze Tagreisen mit Bummlerschritten zurücklegend, ein schönes Stückchen der weiten Welt. Anfangs waren sie ängstlich; später durch den Erfolg zuversichtlich, aus Neugier fröhlich. Endlich wurden sie in Zuversicht frech und in Frohsinn genußsüchtig und leichtsinnig. In der ersten Woche hatten sie gespart wie Bettelmönche und so viel wie nichts ausgegeben. In der zweiten aber mehrte sich der Appetit, sie ließen bald auch ein Glas Wein dreingehen. Schon von der dritten an tanzten sie an Sonntagen in den Schenken mit munteren Dirnlein und wurden von deren Liebhabern um's Geld geprellt.

So kam es, als sie sechs Wochen nach ihrem Ausbruch in eine große Stadt im hohen Norden einzogen, daß sie Summa Summarum noch fünf Thaler auszugeben hatten. Die übrigen waren unterwegs geblieben. Mit den Silberlingen war auch der Silberblick ihrer guten 76 Laune, ihres verwegenen Reisemuths zu Ende. Ihre Kleider waren verdorben, ihre Stiefel zergangen, das Haar hieng ihnen lang in den Hals und ihre Augen blickten trübe. So lehnten sie im Katzenjammer eines argen Streiches traurig an dem zierlichen Geländer des großen Bassins, welches die Handelsstadt durchfließt. Sie schauten träumerisch in's dunkle Wasser, in dem sich viel hundert Gaslaternen funkelnd bespiegelten. Um sie her schwärmten lustige geputzte Menschen, die Wagen rasselten, die Kutscher schrieen, Lastträger drückten sich durch die Menge und zweifelhafte Tugenden sahen sich nach schüchternen Jünglingen um.

Veit staunte, durch das Gewühl um ihn her im Gemüth erst recht vereinsamt, auf das fremdartige Wesen und Thun, dergleichen er vordem sein Lebtag nie gesehen. Das nächtliche glänzende laute Treiben erfüllte ihn mit Staunen, aber es machte ihn nur noch zaghafter.

Anders war es bei Curt. Ihm war dieß Wesen und Lärmen nicht neu; er kannte dieses Wasser, diese Menschen von Kleinauf und hatte unter ihnen und mit ihnen gelebt so manches Jahr; wenige Straßen weit stand ja das stattliche Haus, in dessen erster Etage vor etwa sechzehn Sommern er das Licht der großen Welt begrüßt. Nagendes bitteres Heimweh war es, was jetzt seine Seele bestürmte und die Sehnsucht des wohlerzogenen Kindes nach den unvergleichlichen 77 Fleischtöpfen seines Vaters fesselte den zögernden Fuß des neuesten Robinson schon auf der Schwelle seiner Weltumsegelei wieder an die heimathliche Scholle.

Er seufzte ab und zu, er zeigte mit weinerlichem Hochmuth dem gaffenden Bauernsohne die vorüberwandelnden Senatoren, Geldkönige und Schiffseigenthümer mit Namen und Steuertaxangabe. Er sprach Wunder von der Güte seines lieben Vaters und nannte das Entlaufen aus der Pension unerwartet plötzlich einen recht dummen Streich.

In Veit's einsamer, staunender, von allerlei Eindrücken geängstigter Seele stieg ein eisiger Gedanke auf; er packte den Reisegefährten am Arm und raunte ihm ins Ohr: »Kerl, ich glaube, Du willst mich allein lassen.«

»Wo denkst Du hin?« entgegnete der Gefragte in sentimentalem Tone, »aber kannst Du mir's verargen, wenn mich hier am Orte meiner Geburt Reue über meine Thorheiten überkommt; ist es nicht ganz natürlich, daß ich, kaum hundert Schritte vom Vaterhaus entfernt, unter dem Verlangen leide, den Mann, der jetzt durch die rasche Kunde meines Verschwindens in tausend Aengsten schwebt, mit Augen und Lippen zu grüßen? Du hast Deine Mutter nie gekannt, aber hättest Du erst eine Mutter, so gut, so liebevoll, so leicht in's Innerste zu kränken, wie die meinige, Du 78 würdest es verstehen, welch ein Gefühl heut Abend mir das Herz zusammendrückt.«

Veit gedachte in seinem Sinn: Wohl hab' ich meine Mutter im Leben nicht mehr gekannt, aber sie war gewiß so herzensgut und so besorgt um mich, wie die Deine; aber warum, warum hab' ich meine Mutter nicht mehr? – Und weiter dachte er, und das zum ersten Mal im Leben: Warum fehlt es doch der Treulosigkeit nicht an süßen Redensarten und gemüthvoll erwägenden Gründen, so oft sie den Treubruch beschönigen will? – Allein er sagte nicht, was er dachte, denn er hatte auf seiner Reise von den Leuten, welche sie zumeist um ihre Thaler geprellt, bereits gelernt, daß es weit klüger wäre, nicht alles zu sagen, was man dächte.

Und als nun Curt von Quitzen, den Arm um seine Schultern legend, ausbrach: er möchte ja nur das Haus noch einmal sehen, darin seine geliebten Eltern wohnten und alsdann mit ihm gehen, wohin er immer wollte, gab ihm Veit schweigend das Geleite.

Vor dem Hause angelangt, verfiel Curt in eine bei seiner Natur und Art ganz ungewöhnliche Extase.

Plötzlich ergriff er mit beiden heftig drückenden Händen die Rechte Veits und unter dem Ausruf: »Nur ein kurzes Wiedersehen! in zehn Minuten bin ich wieder bei Dir, dann kannst Du mit mir machen, was Du 79 magst!« eilte der Rothkopf auf die Thüre seines Elternhauses zu und Veit stand allein mit seinem fröstelnden Denken in der nächtlichen Straße.

Dies Denken resümirte sich etwa in den Satz: »Jetzt ist mir Alles ziemlich einerlei, und es heißt eben abwarten, was geschehen will!«

Die zehn Minuten waren bald vorüber; der Einsame zählte die Fensterscheiben an dem stattlichen Palaste; dann vertiefte er sich in die Physiognomien der beiden in Feuer vergoldeten Löwenköpfe an den gegenüber liegenden Thorflügeln, auf welche zwei zierliche Laternen ihr reichliches Licht gossen. Aber die Löwenköpfe verzogen keine Miene und die Klinken und Angeln blieben regungslos, obwohl eine Viertelstunde nach der anderen verlief, was Veit an sieben Kirchenuhren, welche nach und nach ihre eherne Meinung abgaben, jedesmal wiederholt nachzählen konnte.

Nach anderthalb Stunden endlich erschien ein wohlfrisirter Bedienter in Frack und Kniehosen. Erst musterte er den Harrenden theils verächtlich, theils mitleidig vom verwahrlosten Kopf bis zu den zerrissenen Stiefeln, und fragte ihn dann, ob er der sei, den er suche.

Man führte den Jungen in ein Zimmer des Erdgeschosses, gab ihm Wasser zum Waschen und ein Abendessen mit gutem Wein; dann wünschte man ihm ruhsame Nacht; Veit aß sich satt und schlief nach 80 kurzem als zwecklos erkanntem Grübeln bis an den lichten Tag.

Etliche Stunden später, in welchen er kein Menschengesicht, als das eines Aufwärters zu sehen bekommen, ließ ihn der Hausherr durch einen Bedienten, der lange Hosen und einen schwarzen Rock trug, zu sich bitten.

Veit sah einige Minuten lang nichts als Spiegel, Teppiche, Mahagoni und Broncevergoldung. Nachdem er aus dem Schwindel, in den ihn die Fülle dieses Reichthums versetzt, zu sich gekommen, merkte er, daß er vor einem wohlgepflegten, ernst aussehenden Manne stand, welcher ihn erst zum Niedersitzen einlud und ihn dann als den Verführer seines Sohnes anredete. Er sagte, daß er in Anbetracht seiner Jugend und unvollendeten Erziehung alle Vorwürfe, die er gegen ihn auf dem Herzen hätte, zurückhalten wollte und ihn auf seine Kosten nach der Pension Beißerle oder nach dem Dorfe zu seinem Pflegevater, dem Pfarrherrn, zurückbringen lassen werde. Es verstünde sich von selbst, daß er dabei an Nichts sollte Mangel leiden.

Veit war von Allem, was seine Augen zu sehen, seine Ohren zu hören hatten, so verblüfft, daß er nur etliche unzusammenhängende Laute hervorstammeln konnte, deren Sinn ihm selbst gänzlich unverständlich blieb, welche sich aber Herr von Quitzen-Quellenstedt als leicht begreifliche Verwahrung vor dem Wiedersehen Beißerle's 81 erklärte, welch' letzterer, nebenbei gesagt, an Prellung und Wunden keineswegs gestorben war.

»Ich muß nur darauf dringen,« fügte der würdige Vater Curt's bei, »daß dies bald geschieht, denn ich kann nicht umhin, Ihren Umgang mit meinem Sohne als einen diesem sehr gefährlichen zu erachten. Bis zu Ihrer Abreise sind Sie selbstverständlich der Gast unseres Hauses. Wenn Sie für jetzt von Ihrem Freunde Abschied nehmen wollen, hier ist er.«

Eine hohe mit Goldleistchen verzierte Thüre that sich auf und herein rauschte mit mehr Würde als Anmuth eine rundliche Dame, die an der fetten, wohlgepflegten, vielberingten Hand Veits Reisegefährten führte, dessen Aeußeres sich über Nacht in das ebenmäßig geschniegelte eines gebildeten Kindes gebildeter Eltern verwandelt hatte. Curt machte sich von der Dame los, die beim Anblick Veit's ein goldenes Lorgnet vor die Augen, und ein spitzenbesetztes Tüchlein vor die Nase hielt und mit ihrem Gatten die tiefsinnigsten Blicke hochwohlgeborenen Einverständnisses wechselte.

»Liebster Freund,« rief Curt von Quitzen, »Du ahnst nicht was ein Mutterherz vermag. O welcher Abgrund liegt zwischen gestern und heute!«

Veit blieb sprachlos wie zuvor und starrte mit offenen Augen den wiedergefundenen verlorenen Sohn an, der in amiablem Ton fortfuhr:

82 »Daß Du nicht nach der Pension zurückwillst, find' ich ganz recht. Denn nach der ekligen Geschichte, die wir mit Beißerle gehabt, da Du dem Alten den Stiefelknecht unter den Rücken geschoben –«

Veit gewann hier Sprache und unterbrach den andern, wenn auch mit leiser, bescheidener Stimme: »Das hast ja Du gethan, Curt, nicht ich!«

»Ach geh!« erwiderte der andere, ihn wohlwollend mit zwei Fingern unterm Kinn krauend und ein Lächeln des Verzeihens lächelnd, als spräch' er zu einem, der nicht recht bei Troste.

Die Unterhaltung währte nicht lange. Derselbe Bediente brachte Veiten ins Erdgeschoß hinab. Als sie über den Hausflur schritten, fragte der Junge seinen Geleitsmann höflichst und zahm:

»Ist dieß das Thor nach der Straße?«

Der Kammerdiener bejahte und Veit versetzte in bittendem Ton: »Ach lassen Sie doch ein wenig aufziehen; ich möchte spazieren gehen.«

Der Portier zog den Lederriemen in seiner Clause, Veit gieng dahin ohne umzusehen.

Er fragte sich bald nach dem Strand.

Das rege, laute, thätige Treiben, welches da herrschte, legte behaglichere lindernde Eindrücke auf seine wunde Seele. Hier schien ihm freies Leben, rüstige Thätigkeit zu hausen. Die kraftstrotzenden Bewegungen der drallen 83 Matrosengestalten, das bunte Spiel der Trachten und Waaren, das Aechzen der Lastballen, das Klirren der Ketten, das Hämmern und Ziehen, das Klettern und Schieben, das fluchende, singende, scheltende, rührige Gewirr der fremden unverständlichen Sprachen berauschten seine Sinne, welche die verächtliche niederwärtsblickende Bequemlichkeit des Reichthums eben so bitter gekränkt hatte.

Von der See her wehte ein kühler Wind, und mit leichten Schaumkronen spielend, schoben sich die Wellen friedfertig übereinander an Schiffsbretter und Hafensteine. Zum ersten Mal sahen Veits Augen die See und die magnetische Gewalt mit der jede große Wasserfläche ein gekränktes Menschenherz an sich zieht, übte auch auf ihn ihren befangenden Zauber aus. Nur der Friede des Erhabenen, der von dem gewaltig athmenden, in Majestät rastenden Element ausgeht, kam über sein Gemüth. Nicht der Entbehrungen, nicht der Schrecken, nicht der Sehnsucht konnte er gedenken, die mit dem Schiffer in die See gehen, und er meinte es ehrlich in seinem Herzen, indem er in die weite Wasserfläche leise hinaussprach, »ich will lange bei Dir aushalten.«

Der Hunger mahnte ihn an die Tageszeit, er hatte den Rest der Reisekasse noch bei sich und der auftauchende Gedanke, daß er dieß Geld an Curt zurückgeben sollte, dem es eigentlich zu eigen gehörte, verschwand vor anderen Gedanken von nachhaltigerer Begründung.

84 Er betrat eine der Kneipen, ein niedriges raucherfülltes Gelaß zunächst dem Strand, aus welchem Gesang und Gelächter ihm entgegenscholl.

Es waren deutsche Matrosen, die hier zechten, dennoch verstand Veit wenig von den Spässen, die ringsum ein schütterndes Gelächter erregten, noch weniger die Flüche und Scheltworte, in denen sie sich ab und zu zu erbosen schienen. Die Leute redeten platt. Einer von den Jüngeren kam an den Tisch, von welchem aus Veit einsam nach den Lustigen hinübersah, und sprach ihn an, ob er nicht mit ihnen zusammensitzen wollte. Dieser bedankte sich in seinem unverstellten süddeutschen Dialecte; da schrie aus der letzten Ecke der Trinkstube ein rothes Kalfatergesicht vor Freuden laut auf und begrüßte den Landsmann.

Es war so genau genommen kein Stammesbruder, der da rief, es war ein Schwabe oder vielmehr ein Preuße aus der Gegend von Sigmaringen, aber die beiden aus dem Süden tranken bald Freundschaft und Brüderschaft und Veit kam Dank dieser neusten anheimelnden Vertraulichkeit den heutigen wie den folgenden Tag nur wenig aus der Strandkneipe.

Drei Tage darauf gieng der Kauffahrteidampfer »Sirene,« Capitän Rauterhof, in die hohe See. Er hatte zweihundertfünfzig Tons Güter und neununddreißig Passagiere an Bord, sein Ziel war der Süden Amerikas. 85

 


 


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