Hans Hopfen
Arge Sitten
Hans Hopfen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VI.

Der andere Tag war ein Tag des Jammers für Fanny. Sie fühlte sich so müde wie noch nie vorher, und hatte Kopfschmerzen, die einer ältern Dame würdig gewesen wären. Und dabei war ihr doch so unbeschreiblich lustig zu Muth. Sie saß von einem Stuhl auf den andern und, ob sie schon kaum stehen konnte, mochte sie doch auch nirgend sitzen bleiben. Sie meinte, sie hätte wohl nicht ausgeschlafen, legte sich auf's Sopha und that die Augen zu. Aber sie schlief doch nicht ein; durch ihre aufgeregten Sinne giengen in toller Abwechslung alle Walzer und Contretänze; ein ewiges Geigenschwirren und Sohlenschleifen summte und brummte, knarrte und scharrte in ihren Ohren und, wenn sie die Wimpern schloß, leuchteten ihr alle Kronleuchter und Girandolen der gestrigen Nacht blendend, betäubend. Sie mußte beide Hände ausstrecken, denn ihr war im Augenblick als schwindelte sie von dem vielen Drehen auf einem Fleck, dann lachte sie sich selbst aus, öffnete das Fenster und ließ die Winterluft blasen um die brennende Stirne.

Es war ein herrlicher Januartag. Auf allen Dächern der Nachbarschaft lag dicker Schnee, aber über 107 den weißen Decken lachte ein wolkenloser, sonniger, tiefblauer Himmel und die Eiszapfen an den Traufrinnen weinten große Tropfen der Rührung in die thauwettergeplagten Gossen hinab.

Mitten auf dem Pflaster der steilen Straße stand ein kleiner, junger, breitschultriger Mensch. Von seinen gebräunten Kinnladen starrte struppiger Bart, der einer Bürste glich; er trug auf eines seiner Ohren gestülpt einen zerknitterten, zerdrückten, mit Wachstuch überzogenen Hut, auf einer seiner Schultern einen großen braunhaarigen Tornister. Er stützte die Hinterbacken auf seine Hände und seine Hände auf einen wuchtigen Knotenstock und betrachtete sich die Tuberkelburg von unten bis oben und von oben bis unten mit munteren musternden Blicken als wollten seine Augen sagen: »was kommt Euch doch das alles viel kleiner und viel niedriger vor, denn dazumal!«

Wie Fanny den erhitzten Kopf zum Fenster hinausstreckte, fielen ihre Blicke mitten auf die Augen dieses Betrachters und beide Menschen sahen sich eine kurze Weile unverwandt in's Gesicht, wie zwei Kinder, die sich erproben wollen, wer am längsten das Lachen verhalten kann. Der Mann mit dem Knotenstock lachte zuerst. Da schlug Fanny Pyrian gluthüberflogenen Angesichts ihr Fenster zu, daß die Scheiben klirrten, und mit dem widerwilligsten Ton, dessen ihre helle Stimme fähig war, rief sie »der häßliche Mensch, der 108 unverschämte!« Drauf eilte sie in die Küche, um ihrem Vater die Suppe zu versalzen.

Der Mann des jungfräulichen Aergernisses gieng geradewegs auf das Thor der Tuberkelburg zu. Doch machte er im ersten Stock kein Halt, obwohl man Fanny's Stimme eine Polkaweise trällernd, von der Küche heraus auf dem Flur hörte. Sein Streben ging höher, er klomm hinauf über vier Stiegen, drei Leitern und zwei Seile und klopfte an die Thür des Herrn Professors Beißerle.

Der Professor Beißerle hatte keine Pension mehr unter sich. Seit jener verhängnißvollen Nacht, die ihm beinahe das Leben und zum mindesten das beste Theil seiner Laune, seines Selbstvertrauens, seiner pädagogischen Energie genommen hatte, war er einer unwiderstehlichen Abneigung vor allen problematischen Erziehungskunststücken nicht mehr Herr geworden. Sein für unvergleichlich geachtetes System schien ihm nicht mehr stichhaltig, seit er dabei die Furcht für Leib und Leben nicht mehr abschütteln konnte. Drum nahm er keinen Jungen mehr in Kost und Pflege und beschränkte seine Lehrthätigkeit auf eine immer noch beträchtliche Anzahl Privatstunden, die in reichen Häusern sehr gesucht waren. Er hatte die größere der Mansarden, welche der »Schlafsaal« geheißen, aufgegeben und hielt neben seiner eigenen Stube nur noch die kleinere in Stand, das weiland »Museum«, in welchem er an 109 außer Curs gekommenen Schulbüchern, alten Meubeln und anderem Gerümpel aufgestapelt hielt, was Niemand und zu keinem Preise hatte kaufen wollen, was aber dem Geizhals denn doch viel zu werthvoll schien, um es auf den Trödel zu werfen.

Mit emsigerer Sorgfalt als je, trieb er nun Zeitungspolitik und machte in Börsengeschäften und Actienspeculationen für ihrer drei.

– Die beiden Männer, die sich hier nach jahrelanger Trennung wiedersahen, hatten bereits viel mit einander gesprochen und verhandelt, als der jüngere triumphirend ausrief:

»Oh mein Latein ist nicht ganz so brach gelegen, wie sie glauben; sehen Sie der da hat mich nach allen Himmelsgegenden begleitet und mich auf den Gewässern der alten wie der neuen Welt auferbaut und getröstet und ergötzt, und gerade ihm danke ich Lust und Glauben, zu den verlassenen Studien zurückkehren zu wollen und zu können.«

Mit diesen Worten hatte der Matrose ein abgegriffenes Büchelchen vor den greisen Schulmann gelegt. Es war jener Horaz der Elzevire, welchen der gute Landgeistliche beim Abschied in den Händen des Pfleglings zurückgelassen und Vitus vor dem verhängnißvollen Eingriff in Beißerles Cigarrenkisten aus dessen Verwahrung wieder zu sich gesteckt hatte.

110 Der Alte blätterte mit bedenklicher Miene in dem kleinen Bande hin und her, las zuweilen mit blinzelnder Mühsal eine der vielen Bemerkungen, welche der junge Seefahrer seinem lateinischen Reisegefährten an den Rand zu schreiben für gut befunden, und kam nach etlichem Bedenken wieder auf das bedenklichste, indem er, sich selbst im spärlichen weißen Haare krauend, seufzte:

»Auch wenn ich annehmen wollte, daß Sie in kurzer Frist ihre lateinischen Künste so hermeistern wollten wie vor alter Zeit, es bleibt doch zu viel mit dem lieben Griechischen zu thun übrig, als daß sie Ende des Jahres ihr Examen der Reife bestehen könnten. Und wissen Sie, das Griechische ist Ihnen immer so schwer geworden, schon damals und jetzt wird Ihr Kopf wohl noch härter geworden sein.«

Veit lächelte ruhig vor sich hin und sagte fest und kalt: »Ich habe das Alles wohl bedacht, allein, Herr Beißerle, ich will nun einmal!«

Er sprach das mit einer solchen Sicherheit, wie etwa ein Eisenbahnconducteur ein zweifelnd fragendes Bäuerlein auf die Dampfmaschine weist, mit der es trotz seines kleinmüthigen Staunens in's Weite geführt werden wird. Und als der Professor etwas betroffen stilleschwieg, fuhr er munter weiter:

»Auch hab' ich ein wenig vorgearbeitet; ich bin des Neugriechischen über den gemeinen Nothbehelf mächtig.«

111 »Wo haben Sie denn das weggekriegt?« frug stutzig geworden der Philhellene.

»In Hellas,« war die rasche Antwort, »im schönen Hellas, wo ich einen halben Sommer verbracht und bitterlich hätte weinen können aus Scham und Aerger, daß ich früher so ein dummer Junge gewesen.«

Mit dem Worte Hellas waren alle Bedenklichkeiten Beißerle's über den Haufen gerannt. Seine hörnerne Seele war an der einzigen verwundbaren Stelle getroffen. Sofort erzählte er dem entlaufenen Schüler die alte Geschichte seiner Schulden um Griechenland noch einmal, pactirte Kosten und Stunden und bot ihm sogar an, er könnte den gewesenen »Schlafsaal« beziehen, der da leer stünde, seit die Pension »Beißerle« aufgehört hätte zu existiren.

Veit richtete sich sofort in der genannten Mansarde häuslich ein und setzte sich alsbald wie weiland auf den peinlichen Stuhl vor seinen grauen Präceptor, der die dritte Kaffeeportion zu bereiten anfieng, sich eine Stunde lang vom geliebten Hellas vorerzählen ließ und ein über's anderemal seine Armuth und Gebrechlichkeit bejammerte, welche ihn zu Grabe gehen hießen, ehe er das sonnige Land seiner Sehnsucht auch nur Einmal mit leiblichen Augen gegrüßt.

Nach dieser Art von Gefühlsrausch, die dem wiedergekehrten Vitus als ein bedenkliches Zeichen 112 zunehmender Altersschwäche des sonst so hartgeherzten Lehrers erscheinen mußte, begann die erste Lection.

Veit vertiefte sich mit dem Eifer eines ernsten Mannes, der da wußte was er wollte, in die dereinst leichtfertig unterbrochenen Studien und Beißerle selbst, der nun einen Menschen gefunden, der alles anhören wollte und mußte, was ihm je über das geliebte Griechenland eingefallen war und noch einfallen mochte, fühlte von dieser Stunde an für den so oft und so furchtbar als aufrichtig verwünschten Zögling eine Art von Freundschaft, von Neigung, die wie ein mildes Abendroth die eisigen Firnen seines mälig versinkenden Denkens und Empfindens leichthin überglänzte.

Veit blieb den ersten Tag über Beißerle's Schmökern sitzen bis er zu Bette gieng und den anderen Tag bis die Sonne sank. Da sagte er zu Beißerle: »Ich muß Sie mit einer meiner schlechten Gewohnheiten bekannt machen, die ich mir auf der See so nach und nach beigelegt habe; wie ich rauche, haben Sie heute Morgen selbst erprobt, als sie sich nolens volens weigern mußten, mein Stübchen zu betreten; von meinem Appetit denk' ich Ihnen nächsten Sonntag Probe zu leisten, wenn Sie mir die Ehre anthun wollen, irgendwo ein frugales Mahl mit mir zu ungleichen Theilen zu verzehren – aber, um zur Sache zu kommen, von meinem Durst will ich Ihnen, auf daß Sie bei Laune und 113 Hochachtung erhalten bleiben, niemalen etwas sehen lassen. Darum möcht' ich Sie schließlich um den Hausschlüssel gebeten haben.

Beißerle gab mit Widerstreben was er lange suchen mußte und Veit ging trällernd und Beine schlenkernd die Straße hinab, der inneren Stadt zu, in deren Gassen und Gäßchen er sich nach einigem Besinnen bald ganz leidlich wieder zurecht fand.

Obwohl es kaum eine halbe Stunde über vier Uhr sein mochte, war es doch schon stockdunkel und die Laternenanzünder schickten sich bereits an, Straßen und Plätze zu beleuchten.

Veit wollte sich zur Feier seines Einzugs in die angeborene Hauptstadt seines engeren Vaterlandes ein Besonderes anthun und fand bald ein renommirtes Weinhaus, in welchem er sich's nach seiner Art bequem machte.

Er verbat sich das Licht, welches der Kellner diensteifrig neben die Flasche stellen wollte, denn seine Augen brannten ihm von der ungewohnten Arbeit des vielen Lesens und es däuchte ihn behaglicher, so im Halbdunkel zu sitzen, den Rauch seiner Cigarre über's hochgefüllte Kelchglas wegzublasen und das müde Haupt in die holzgetäfelte Ecke gedrückt, Träumen und Erinnerungen, Plänen und Entwürfen nachzuhängen, die, wie die Perlen in seinem Weine leise doch eilig sich überdrängend, aus den Tiefen seiner Seele ihm zu Kopfe stiegen.

114 Bunte Bilder, halbverwehte Schatten, hochfliegende Pläne, weithin greifende Erinnerungen tanzten in lustigen Ringelreihen um seinen einsamen Zechtisch: Zuweilen kam ein stilles Lächeln über seine Lippen, zuweilen schlich ein einsames Thränlein in den starren Bart. Er stützte den Kopf in seine beiden Hände und sagte sich, daß er sich glücklich fühlte. Ein langersehntes Ziel hatte er erreicht ohne die Prüfungszeit ihm heilsam gewordener Pflichten eigenwillig verkürzt zu haben. Er hatte ausgedient und ausgehalten treu und fröhlich bis auf den letzten Tag und saß nun doch wieder bei den geliebten Studien, nach denen Geist und Herz so viele Jahre lang geschmachtet. Er hatte Zwecke, hatte Pläne, fühlte Kraft und Ausdauer, ihnen gerecht zu werden, und seine Vergangenheit bot ihm nichts zu beklagen, nichts zu bereuen. Was er leichthin gefehlt haben mochte in Uebermuth und Unwissenheit, es war wett gemacht. Des Tages Lasten hatte er nie gefürchtet, des Tages Freuden nie versäumt. Die Winde der hohen See hatten sein Wesen tüchtig ausgeblasen, er hoffte sie dereinst wieder zu sehen die liebgewordene hohe See und er trank das letzte Glas seiner Flasche ihr, der stolzen Mutter der Schönheit zum Gedächtniß.

Während die zweite Flasche auf sich warten ließ giengen Veit's Blicke in dem weiten geräumigen Kellergewölbe herum. Das gebräunte Eichenholz gab Wänden 115 und Gestühl ein ehrenfestes, behagliches Ansehen. Ihm gegenüber blitzten die Glasscheiben lustiger Bilder im Wiederschein zweier flackernden Lichter, die zwischen Tellern und Flaschen auf einem Tisch im jenseitigen Winkel der Zechstube brannten. Die beiden Gäste, welche dort drüben hinter den Gläsern saßen, schienen junge muntere Vögel zu sein, die auf Veit nicht achteten, da sie ihn in seiner stillvergnügten Geistesdämmerung für wein- oder schlaftrunken halten mochten. Und so achtete auch er der Anderen nicht, bis das Gewölbe von schütterndem Gelächter wiederhallte und einer der beiden Jünglinge ausrief: »Du bist doch ein ganz eingeteufelter Sünder!«

»Warum das Max?« entgegnete der andere, wie Veit nicht ohne Mühe verstand, da der Schall der Worte sich an den Bogengewölben brach. »Warum das? Kann der liebe Herrgott, selbst wenn er der schlechtgelaunte, grießgrämige alte Herr ist, als welchen ihn die Pfaffen verschreien, kann er mehr von seinen ohnehin genug beschränkten Geschöpfen verlangen, als daß sie nach Kräften die Welt um sich her erkennen und nach dieser Erkenntniß zu handeln bestrebt sind?«

Veiten gefiel diese Redensart und während der Max genannte Cumpan unverständliche Worte dazwischen warf, trank er einen Schluck auf die gesunde Vernunft des Unbekannten, der alsbald seinem Freunde antwortete:

»Die Weiber, nun ja die Weiber, ich kenne sie 116 ohne sie ganz zu kennen, denn wer lernte dieß Geschlecht zu Ende, dessen Wesens- und Lebensprincip eben die incarnirte Inconsequenz ist. Uns in allen hunderttausend Kleinigkeiten an List und Ausdauer, durch Unbestand und Unverstand überlegen, sind sie in dem Einen Punkte – und der ist doch der Hauptpunkt – wehrlos, wehrlos, sobald sie von dem Ernst im Spiel überrascht werden, der ihren tanzenden Gedanken den Ausweg des Mißtrauens vollständig verlegt. Ueberraschen! Freund, das ist die ganze Kunst. Das Ueberraschen aber geschieht durch Geschwindigkeit und wie Du weißt, Geschwindigkeit ist keine Hexerei! Freilich grüne Grasaffen und ausgelöschte Matronen sind nicht leicht zu überraschen, lohnte es anders der Mühe, aber was schon fühlt und noch denkt, spielt auch im stillsten Denken mit den Möglichkeiten liebenswürdiger Sünden wie die Katze mit der Maus. Weiß die Katze nur erst, daß Du sie nicht fangen und foppen willst, nein, daß Du ihr ernstlich das Mäuschen in die Zähne legst, so schluckt sie's auch allemal. Bei der Verdauung wird dann nicht selten etwas weniges geweint, allein immer nur aus Angst, und die Angst treibt den Hunger nicht aus, wohl aber umgekehrt der immer wiederkehrende Appetit alle Aengsten. Im Grunde genommen sind sie auch hierin die Stärkeren und haben uns zum Narren, denn die Kühnsten und Kecksten von 117 uns führen am Ende nur zaghaft aus, was jene im Stillen wünschen und von uns verlangen, mögen sie auch, aus Eitelkeit und Mißtrauen das Weiße schwarz nennen und immer nein sagen, wo sie ja verstanden wissen wollen.

Der im Wein redselige Jüngling wurde von seinem Freunde, der in rundlicher Leibesfülle blühend, auch eine fette ungelenke Zunge zu haben schien, mit schallenden Protesten unterbrochen. Er schien von einem concreten Fall zu handeln und sich um weibliche Tugend des Ausführlicheren und Heftigeren ritterlich zu ereifern. Veit konnte nicht verstehen was er sagte, nur einzelne Worte kamen an sein Ohr, ohne daß ihm der Zusammenhang klar werden wollte. Er hätte so gern eine der lästerlichen Zunge gewachsene Erfahrung mit richtigen Gründen die Ehren des geschmähten Geschlechtes vertheidigen hören. Er hätte selbst gern mitgeredet, er hätte den sicheren Mann, dessen schönes, sorgfältig gepflegtes Aeußere nicht gegen die Wahrscheinlichkeit einer ausgebreiteten Weiberkenntniß stritt, mit Freuden einen Lügner und Prahler genannt. Allein was verstand er denn von dem Gegenstand jenes Streites, von den Frauen? Er hatte Länder und Menschen gesehen, neunmal mehr als jene beiden schnurrbartkräuselnden Philosophen zusammen. Er hatte auch Frauen und Mädchen gekannt, ach ja, gar viele, aber im hastigen 118 Vorübergehen, so von heut auf morgen, wie sie der Seemann eben kennen lernt, für dessen unstäte Bedürfnisse das Wort Weibertreue durch das Komische der Zweckwidrigkeit gebannt ist. Er ahnte, er glaubte fest daran, daß in jeder weiblichen Seele ein unantastbares Heiligthum verborgen sein müßte, ein Wunder von Anmuth und Hoheit, das sich von den Blicken prahlender Unverschämtheit nicht beflecken ließe – allein wußte er das aus Erfahrung? Nein! Vermochte er seinem Glauben die stichhaltigen Worte erprobter Ueberzeugung zu verleihen? Nein! Er durfte hier nicht mitreden. Er kannte ja keine weibliche Seele.

Stumm saß er da, als ob ihm schwere Tropfen Wermuths in den Wein gefallen wären, und ohne es zu wollen, wiederholte er die peinlichen Worte in seinem Gedächtniß.

Derweilen ereiferten sich die beiden andern, aber sie wurden immer leiser, denn es schien sich um Persönlichkeiten zu drehen und der Mann im Halbdunkel mochte ihnen nun doch zuviel dünken. Da zog der Dicke die Uhr, hielt sie dem Mageren mit bedeutungsvoller Miene vor und sagte:

»Helmtrost, es wird Zeit sein!«

»Du hast Recht,« erwiderte schmunzelnd der Gemahnte; »exacte au rendez-vous!«

Sporenklirrend schritten die beiden Herren aus der 119 Stube. Veit saß allein. Da packte es ihn mit Einem Male; ihm war, als könnte er sich noch heute überzeugen, ob die lästernden Worte Wahrheit oder Lüge gewesen waren. So sprang er rasch auf und folgte vorsichtigen Schrittes den Vorausgegangenen in die nächsten Straßen.

Es regnete leise in den Schnee. Große schwere klatschende Tropfen, zwischen denen einzelne Flocken langsam ringelnd niedertanzten. Das Straßenpflaster jener Zeit glich noch nicht dem heutigen; es bestand aus spitzigen Flußkieseln von Hühnereiergröße, die ungleich neben einander eingeklopft waren, kleine Gebirgszüge und Thäler bildend, zwischen denen sich das Regenwasser zu Bächen, Flüssen und Seen sammelte. Ein Spaziergang im Regenwetter glich einer Bergpartie und die Einwohner der Stadt konnten nichts dafür, daß sie nicht wegen zierlichen Schuhwerks berühmt waren. Einzelne reichere Besitzer hatten den Versuch gemacht, die Gehsteige vor ihren Häusern mit Asphalt zu belegen. Nicht mit bestem Erfolg. Denn der Asphalt weichte an vielen Stellen auf, ward brüchig und lückenhaft, so daß er nur den conservativen Vollbürgern zum Beweis diente, wie viel besser ihr von den Altvordern überkommenes spitziges Kieselpflaster und wie lächerlich und nutzlos jede Neuerung sei. Eine Neuerung, die man sich nach langem Sträuben denn 120 doch hatte gefallen lassen, war die Straßenbeleuchtung mit Gas. Sie strahlte nun auch wie die Sonne über Gute und Böse, über Pflaster und Pfützen und diese schimmerten wie Silberplatten, und die Flocken, die darauf ein Weilchen schwammen, ehe sie zergiengen, schienen wie aus einem Federbett verweht.

Unter dem scharfen Lichte der Laternen und der dazwischen um so finsterer lagernden Dunkelheit erschien und verschwand und erschien im jähen Flug ein Wagen, Koth und Regenwasser nach allen Seiten spritzend. Die Fußgänger schalten über das rasche Fahren bei Nacht, obwohl es kaum sechs Uhr war, aber sie blieben dabei nicht stehen; hastigen Schrittes, die nassen Mäntel bis an die Nasen aufgezogen, eilten die Menschen an einander vorüber ohne zu grüßen oder umzusehen, stießen mit den Regenschirmen gegen einander, ohne sich zu entschuldigen, und spritzten sich tapfer zutretend das Gossenwasser bis an den Hals, ohne dessen nur zu achten.

Veit war gerade vor die Thüre getreten, als der Wagen Helmtrosts von der Schneppe sich in Bewegung setzte. Er besann sich nicht lange und sprang demselben eilig nach über Kiesel- und Asphalthindernisse, zur größten Entrüstung eines überrannten Hökerweibes und zweier kläffenden Wachtelhündchen, welch' letztere sofort mit ihm um die Wette liefen.

Um die nächste Straßenecke biegend, entschwand ihm 121 der Wagen. Rechts oder links war nun die Frage. Er wählte rechts und fand auch richtig in Mitte der dritten Straße einen Wagen halten, welchen er als denselben erkennen mußte, der seine Neugier beschäftigte.

Veit athmete hoch auf, schüttelte den Regen von seinem alten Mantel und schwenkte den Hut aus. Wie die Tropfen aus der Krämpe rannen, dacht' er in seinem Sinn: was geht denn dich die ganze Commödie an und was denn die beiden Kerle mitsammt ihren Pferden, Hunden und anderen Liebhabereien? geh' heim, setze dich trocken und lese griechisch!

Dies gedacht, gieng er aber nicht heim, sondern stellte sich, naß und neugierig wie er war, in den Thorweg eines Hauses, dessen Pforte zunächst der Wagen Helmtrosts Halt gemacht hatte, drückte den Hut tiefer in die Stirne, schob den Mantelkragen höher über die Schulter und sah den beiden Herrchen zu, die lachend lebhaft und launig mit einander parlamentirten.

Max war bereits ausgestiegen und schien, in der einen Hand den Regenschirm, in der andern seine Taschenuhr haltend, dem Freunde beweisen zu wollen, daß es noch viel zu früh an der Zeit und daß er im weichen trockenen Wagen besser aufgehoben sei als hier in der feuchten windigen Straße und noch dazu auf solchem Pflaster!

Helmtrost dagegen, von dem nun das Gesicht zu 122 sehen war, versicherte mit überlegener Heiterkeit und lächelnder Sicherheit das Gegentheil. Im Rahmen des Wagenfensters, der die hastige Absichtlichkeit seiner Bewegungen, die gesuchte Geckenhaftigkeit seiner Tracht und Haltung verbarg, nahm sich der feine Kopf Helmtrosts mit den großen Augen und den edlen Zügen sehr gut aus. Veit sah ihn mit reinem Wohlgefallen und sagte zu sich: was für ein schöner Mann!

Der schöne Mann nickte noch einmal mit dem Kopf, winkte mit dem Handschuh und sagte: »mach's gut!« dann zogen die Pferde an und Max stand allein auf den spitzigen Kieselsteinen.

Der Wind blies um die Ecke und fegte die Straße hinauf, daß Schneeflocken und Regentropfen in Maxens breites Gesicht schlugen. Er drehte sich auf einem Bein um und suchte eine Zuflucht in demselben Hausflur, in welchem Veit sich zu seiner Beobachtung geborgen.

Bei dem Unwetter hatte der Aufenthalt eines anderen Menschen für den Neuhinzutretenden an dieser Stelle nichts Auffallendes. Ohne dringende Veranlassung aber einen Menschen zu beachten, der ihm nicht in aller Form präsentirt war, galt Max unter seiner Würde. Er ließ das Glas aus dem Auge fallen, wandte sich und lenkte seine ganze Aufmerksamkeit einer gegenüber mündenden Straße zu, aus welcher ihm der Zweck seines Hierseins nahen sollte.

123 Um so mehr Lust hatte Veit, seinen Nachbar zu mustern, da auch wir dies zu thun bisher versäumt, so wollen wir's an dieser Stelle nachholen.

Max hatte von seiner Mutter gerade, feine, wenn auch etwas kleine Züge geerbt. Aber dieselben waren zum einen Theil im allzufrüh anblühenden Fett verschwunden, zum andern Theil befanden sie sich in Folge einer Lieblingsgewohnheit des Eigenthümers in also beständiger Verzerrung, daß sein Gesicht den Ausdruck der Grimasse nicht mehr los wurde.

Maxens Lieblingsgewohnheit und unerläßlicher Zeitvertreib war der Zwicker, das Monokel, das einspännige Augenglas. Dieses Instrument war kreisrund, von der Größe eines preußischen Thalers, in schmaler schwarzer Hornfassung, an ein dünnes Gummischnürchen befestigt, und durch den Schliff eines mit Recht unberühmten Handlangers nur wenig von dem optischen Character – einer Fensterscheibe entfernt. – Die Raschheit, mit welcher er dies Instrument in den Knochen seiner Augenhöhle zu werfen verstand, die sinnige Koketterie, mit welcher das Oehrchen mit der Schnur bald nach rechts, bald nach links, bald nach der Nase, bald nach dem Barte zu gesteckt wurde, die Geschicklichkeit und Sicherheit, mit welcher dieser seltene Jüngling das Glas auf seiner flachen Hand tanzen ließ, oder das Schnürchen gedankenvoll um seinen 124 Zeigefinger auf und abwickelte, das waren keine leichten Kunststücke, die wollten gelernt sein.

Leider hatte die mit Leidenschaft geübte Fertigkeit seinen Wangen und Augenbrauen eine beständig convergirende Bewegung mitgetheilt, welche dieselben mit der Regelmäßigkeit des Nervenzuckens heimsuchte. Die zwinkernde Nase sah immer aus, als ob sie niesen wollte, und der Mund schien immer »Ei« zu sagen, auch wenn er stumm war, was meistentheils der Fall.

Bei seiner ebenso harmlosen als gesicherten Lebensweise nahm er so rasch an Leibesumfang zu, daß selbst an den neusten und elegantesten Röcken die Knöpfe zu springen drohten, und Beinkleid und Weste sich einander zu decken ewig widerstrebten. Er war immer gewählt gekleidet, seine Kleider schienen aber nie gebürstet zu sein. Beim Gehen pflegte er mit jedem Schritt den Oberleib über dem Hüftknochen abzuschieben und die Schulter gegen die Hüfte fallen zu lassen. Auch wenn er stille stand, machte sein Rücken eine ähnliche Bewegung. Dabei schwebte er immer auf einem Bein, während er mit der Stiefelspitze des anderen auf den Boden klopfte.

Es gab Leute, denen dies alles nicht mißfiel. Ueber Geschmacksachen ist nicht gut streiten. Veit, der ihn eben im gemeinsamen Versteck beobachtete, schien es, als 125 sei er hülflos wie ein Habersack und unschädlich wie eine vernagelte Kanone.

Bald sollt' es ihm anders scheinen.

Max klemmte sich das Glas ins Auge, sah gen Himmel und sagte leise vor sich hin: »Ei es regnet ja nicht mehr!« Nichts desto weniger spannte er seinen Schirm auf, als er nun auf die Straße trat und langsam trippelnd und hüftenschüttelnd seinen Weg nach der entgegengesetzten Seite des Weges nahm, auf welchem Helmtrost's Wagen verschwunden war.

Veit sah ihm nach, so lang' es die Dunkelheit und die Straßenbeleuchtung erlaubten. Dann folgt' er seinen Schritten in gleicher Entfernung und blieb stehen, wenn jener stillstand.

Dies geschah, als aus einem Hause jenseits des Fahrweges ein Trupp junger Mädchen kam, welche eine französische Conversationsstunde, eine höhere Töchterschule oder ein ähnliches Institut verlassen mochten. Unter Kichern und Geplauder giengen die schlanken Gestalten auseinander. Eine derselben – sie trug einen Mantelkragen von grünem, nach Schottenart gewürfelten Stoff, aus welchem unten zwei niedliche Füßchen in rothbesäumten Ueberschuhen, oben ein frisches Dosengesicht in knappem schwarzen Sammethute sahen – die schlankste und zierlichste von allen, gab einer Freundin bis zur nächsten Ecke das Geleite. Dann kam 126 sie vorsichtig, auf den nassen Weg blickend, mit Zehentritten über die Fahrstraße herüber. Auf dem Trottoir angelangt, erschrack sie, da ein Mann ihr den Pfad vertrat. Es war Max, der in der einen Hand einen Regenschirm, in der andern sein Augenglas schwenkte und strahlenden Angesichts die Worte hervorquälte:

»Ei Fräulein Pyrian . . . bei diesem Wetter . . . darf ich Sie unter meinen Schutz und Schirm, ich meine Regenschirm nehmen?« dabei lächelte er auf's verbindlichste.

Fanny sagte: »Es regnet ja gar nicht mehr.«

»Wenn auch!« sagte der andere und setzte sich in gleichen Schritt mit ihr.

»Ich danke Ihnen herzlich, Herr Graf, aber ich finde meinen Weg schon allein.«

»Aber ich finde meinen Weg nicht ohne Sie, Fräulein, mein Herz heißt mich Ihnen folgen durchs Leben, oder besser an Ihrer Seite zu wandeln bis zum Grabe.«

Fanny trat einen Schritt zurück und sagte halb bittend halb drohend: »Lassen Sie mich zufrieden. Mein Papa will das nicht!«

»Wer wird immer gleich Papa fragen,« fiel ihr Max in die Rede, das Glas in's Auge klemmend und wieder mit ihr Schritt haltend. »Frage meinen Papa auch 127 nicht, bewahre! Aber Spaß bei Seite: darf ich Ihnen meinen Arm anbieten?«

In diesem Augenblick, als eben der Lästige seine Worte mit der entsprechenden Armbewegung begleitete, stand Helmtrost wie aus dem Boden gewachsen vor den beiden Wandelnden. Ein halb unterdrückter Ausruf des Erstaunens schien sich von seinen Lippen zu ringen, er warf noch einen schmerzlichen Blick auf das erröthende Mädchen und eilte dann rasch vorüber in der Dunkelheit verschwindend.

»Abscheuliches Wetter heute? was? ja?« maulte in verstellter Verlegenheit Max seiner unwilligen Nachbarin zu. Diese aber, die Thränen kaum verhaltend, rief:

»Gehen Sie weg! Sie sind mir langweiliger als alles Regenwetter! Lassen Sie mich endlich in Ruhe!«

»Meine Gnädigste ist ungnädig, ei ei ei!« antwortete Max und als Fanny so raschen Schritt einschlug, als sie konnte, kicherte er; »oh Sie entlaufen mir doch nicht, süßes Kind, nein! ich hasche und halte Sie doch noch! ja! Meinen Arm? oder ihre Hand! Was?«

Fanny blieb stehen und mühte sich, die breite Hand abzuschütteln, die ihre Finger gefaßt hielten. »Lassen Sie mich gehen . . . wodurch hab' ich solche Behandlung verschuldet?« sagte sie mehrmals, während Max dummdreist grinsend auf sie niedersah, wie sie vergebens ihre Kraft anstrengte.

128 »Herr Graf,« lispelte plötzlich eine energische Stimme, »ich erstaune! Sie dringen sich einer Dame auf! Oh!«

»Ach Sie hier, von der Schneppe? Ei!« antwortete Max, über die dicke Achsel mühsam nach dem Freunde umblickend, »lange nichts von Ihnen gehört – immer wohl gewesen? – Wiedersehen ein andermal!«

Damit hatte er sich keineswegs von Fanny entfernt, die wider ihren Willen in Helmtrost einen Retter sehen mußte. Dieser nahm auch sofort von seiner Rolle Besitz und erklärte Max das Unerhörte seines Betragens. Es entspann sich ein scheinbar sehr erregt geführter Wortwechsel, den Max mit dem Ausrufe unterbrach:

»Sagen Sie mir morgen, was Sie mir mittheilen wollen oder besser, schicken Sie mir Ihre Zeugen, mich mit ihnen zu bereden, jetzt aber fallen Sie mir lästig! Adieu!«

»Sie sind ein unverschämter Geselle!« herrschte Helmtrost den Mitverschworenen an, der auf diese Beleidigung wie zur Salzsäule versteinert stehen blieb.

»Mein armes, mein theueres Fräulein,« wandte sich Helmtrost nun zu Fanny, die weinend davon eilte, »wie beklag ich diese Erfahrung! Kaum wag ich's, mich Ihnen zum Ritter anzubieten, gestatten Sie meine Begleitung nur wenige Schritte, bis dieser Tölpel sich entfernt hat.«

Fanny antwortete nicht, Max war schon wieder 129 hinter ihnen her und sprach so laut, daß ein Vorübergehender stille stand. Helmtrost lispelte:

»Da bleibt nichts übrig, dem Zudringlichen zu entrinnen, als Sie steigen in meinen Wagen, mein Fräulein. Ah, da ist er! Glücklicher Zufall! Kommen Sie!«

Helmtrost legte seinen Arm um Fanny und öffnete mit der andern Hand den Wagenschlag. Aber in demselben Augenblick war ein Mann von der Straße unversehens zu dem Kutscherbocke gesprungen. Er hatte flugs die Peitsche aus der Halfter gerissen und hieb so unerwartet auf die Pferde ein, daß die edlen Thiere, erschreckt durch solch ungewohnte Behandlung, jählings anzogen und das Gefährte davonrissen.

Fanny hatte noch kaum Zeit gefunden, ein Wort zu sprechen, als das Interesse für die Pferde beide Verschwörer schon vereinte. Sie ließen das weinende Mädchen stehen und liefen durch Koth und Pfützen dem Wagen nach, dessen Lenker alle Mühe hatte, die geängstigten Thiere zu beruhigen.

Endlich gelang's und Helmtrost sah wieder nach Fanny zurück. Aber vor sein Gesicht trat die breitschultrige Gestalt des Exmatrosen. Er hatte kein Auge von der vorigen Scene verwandt, er hatte in dem Gesicht, das so ängstlich aus dem schwarzen Sammet guckte, das Gesicht erkannt, das gestern aus dem ersten Stockwerk der Tuberkelburg auf ihn herabgeschaut, das 130 Gesicht der Freundin aus der Knabenzeit. Drum war er selbstthätig zwischen diese unreife Intrigue getreten. Er ließ die Peitsche tanzen und sprach zu Helmtrost: »Armselige Verschwörer, gehen Sie zu Ihren Rossen, die werden Ihnen sagen, daß nicht immer im Leben derjenige die Schläge kriegt, welche ihm gehören, und daß man nicht bloß den Sack sondern manchmal auch das Roß schlägt und den Esel meint!«

»Wir sprechen uns noch,« knirschte Helmtrost und sprang mit Max selbander in seinen Wagen.

»Ich will dafür sorgen!« lachte Vitus und sah dem Wagen nach, der davonsauste, als fiele Pech und Schwefel hinter ihm vom Himmel.

Da gieng Fanny an dem unbekannten Retter vorüber und hauchte leise ein »ich danke Ihnen mein Herr.« Aber Thränen, ein krampfartiges Schluchzen erstickten ihre Stimme. »Was müssen Sie von mir denken!« wiederholte sie später; »ich gehe nie wieder einen Schritt allein auf der Straße. Ich fürchte mich so sehr.«

»Ich werde Ihnen in gemessener Entfernung folgen, für den Fall, daß einer dieser Bursche wiederkäme!« meinte Vitus.

Fanny aber schüttelte das Haupt und sprach: »Nein! Geben Sie mir Ihren Arm und sagen Sie mir, wer Sie sind, damit ich weiß, wem ich so sehr zu Danke verpflichtet.«

131 »Sie haben mir gar nichts zu danken; ich habe nur eine alte, lange Jahre stehende Schuld an Sie abgetragen, eine Schuld, die mit so geringfügigem Dienste noch lange nicht abgetragen ist.« Dann fragte er ihr Erinnern, und ob sie der Nacht im Hofe noch gedächte und des kleinen Veitel, mit dem sie so manchen Sonntag Abend zusammen am alten Stiegengeländer gesessen. Er erzählte ihr, wie weit er in der Welt umhergefahren und wie er nun wieder heim gekommen sei.

In solchen Gesprächen waren sie bald vor das Thor der Tuberkelburg gekommen. »Um Gottes Willen,« bat Fanny ihren Retter, »sagen Sie ja dem Vater nichts; er ist so strenge.« Veit wollte eben entgegnen, daß ihr ja kein Sterblicher aus dem unseligen Vorfall einen Vorwurf schnitzen könnte, also auch der strengste der Väter nicht, aber in demselben Augenblicke, kaum daß sie die Schwelle des Hauses hinter sich hatte, brach Fanny bewußtlos zusammen; das Ziel erreicht, versagten die Kräfte und sie lag ohnmächtig in Veit's Armen.

Dieser sah unschlüssig auf das arme Kind. »Lassen Sie um Gottes Willen meinen Vater nichts erfahren,« wiederholte er für sich. Also durfte er sie nicht in ihre Wohnung bringen; aber hier liegen lassen doch noch weniger. Von der Straße herauf schollen Tritte. Ein rascher Entschluß that noth. Da hob er den 132 schlanken, odemlosen Körper auf seine Schulter und trug ihn sanft und unbemerkt hinauf, wo ihm nahe unter den Wolken sein einsames Stübchen stand.

Da lag das schöne Haupt, von dem er den Hut gelöst, auf den Kissen seines Lagers, die goldenen Flechten quollen darüber hin, die Hände waren schmerzhaft über dem dunkelen Mantel gefaltet und Veit saß reglos ihr gegenüber auf seinem einzigen Stuhl und trank mit unverwandten Augen die Züge der Betäubten.

Er mußte sich sagen, das Mädchen sei sehr schön. Und es ward ihm dabei, als säßen tief im finsteren Winkel seines Stübchens die beiden Ritter aus der Weinstube und Helmtrost deduzirte seinem Freunde haarklein, wozu die Weiber auf der Welt wären und daß Geschwindigkeit keine Hexerei und daß derjenige der größte Narr unter der Sonne, der eine so außerordentlich günstige Gelegenheit unversucht und ungeküßt wieder aus seiner Thür entwischen ließ.

Da regten sich die Finger an Fanny's Händen und bald darnach öffnete sie die Augen, saß aufrecht, sah um sich und, als sie erkannte, wo sie wäre, und sich sagen ließ, wie sie hier heraufgekommen, bedeckte sie ihr schamhaft erglühendes Gesicht und fing an bitterlich zu weinen.

Veit näherte sich ihr. Sie zu beruhigen, zu trösten, 133 nahm er ihre Hände in die seinigen, streichelte ihr das blonde Haar aus dem Gesicht und redete mit ihr, wie mit einem erschrockenen Kinde. Sie sah ihn mit einem großen Blick aus feuchten Augen an; ihre Lippen waren sich so nahe, daß jedes den Hauch des anderen spürte, da sprang Fanny auf und öffnete rasch die Thüre.

Doch von der Stiege fiel der Schimmer eines Lichts herein. Eiligst ward der Schlüssel wieder zugedreht und beide horchten mit verhaltenem Athem, wie draußen zwei Männer langsam und in einem wichtigen Gespräche begriffen, die Leitern heraufkamen und Beißerle's Stube aufgeschlossen ward.

– »Ich sag' Ihnen, Herr Professor« vernahm man jetzt die Stimme des einen durch die dünne Bretterwand, welche die beiden Mansarden trennte, »ich sag's Ihnen und Sie werden dessen noch gedenken: in der Schweiz ist das Brandstiften angegangen; aus Frankreich weht der Wind, der die Feuersbrünste über Land trägt und ehe wir uns umsehen und nein sagen können, haben wir den Skandal und die Meuterei auf deutschem Boden. Die Communisten und die Freimaurer treiben uns dann mit Feuer und Schwert aus den eigenen Häusern, wenn nicht die Guten wach werden bei Zeiten und sich zusammenthun zu Schutz und Trutz.«

Fanny erzitterte am ganzen Leibe. »Das ist der Vater!« lispelte sie Veiten leise zu und kaum hatte sie 134 gehört, daß die beiden Alten ihre Stühle rückten und sich's bequem zu machen schienen, so war sie aus der Thüre gehuscht. Noch einmal kehrte sie sich flüchtig um, den Finger auf dem Munde, ein vertrauensvolles Bitten in den schönen Augen. Ein rascher Druck der kleinen Hand und sie war davon. Veit lehnte sich, so weit er konnte, über das Geländer und sah hinab in's unterschiedlose Dunkel des tiefen Stiegenhauses; er hörte das Kleid an den schmalen Wänden rascheln, er hörte die kleinen Sohlen hurtig über die Staffeln gleiten. Als die ferne Thüre der Wohnung Pyrians hinter Fanny in's Schloß gefallen, sah er sich wider Willen um, denn es war ihm, als hätte er Helmtrost hinter sich lachen gehört.

Es war nicht Helmtrost, es war Beißerle, dessen vielmißbrauchter Tenor sich zu energischen Protesten erhob. Aber Vater Pyrian schien sich nicht so leicht abschlagen zu lassen. Als Veit wieder in seine Stube trat, hörte er den Schmied aufs lauteste die Nothwendigkeit beschwören, daß der Professor dem »neuen Verein für christliche Bürgerpflicht und Unterthanentreue« beiträte.

Beißerle wand sich und wimmerte halb ängstlich, halb ärgerlich: »Ich bitte Sie um Alles in der Welt, mich mit solchen Zumuthungen in Ruhe zu lassen. Was soll ich denn in Ihrem Vereine? wie oft muß ich Ihnen 135 noch hoch und theuer versichern, daß mir Alles das, was Sie brüstend und prahlend Ihren Royalismus, Ihre hauptstädtischen Centralbesorgnisse nennen, so einerlei ist wie Fliegentod. Ich bin auf der Welt, um die, welche mich darum bitten und dafür bezahlen, griechisch und lateinisch zu lehren und mich durch einen rechtschaffenen Wandel und ein gottergebenes Streben der Wohlthaten des Evangeliums würdig zu erweisen. Was sonst geschieht in der weiten Welt braucht meines unkundigen Rathes so wenig, wie meiner müden Hände. Mögen sich die Könige bekriegen und die Völker empören, die kahlen Wände meines stillen Dachstübchens werden nicht wanken, ich werde arbeiten und beten können nach wie vor. Ja selbst, wenn das Entsetzliche geschieht, wovon Sie in ewigen Aengsten träumen, wenn die Männer der rohfäustigen Armuth an die Thüren der Besitzenden schlagen und ein gemessen Theil fordern von deren Ueberfluß, was soll ich armer Alter dagegen mich wehrhaft machen? Ich kann sie mit meinen halbtodten Knochen nicht hindern, Böses zu thun. Auch werden sie mir nichts nehmen und nichts anhaben, denn die ganze Stadt weiß, daß ich in den letzten Tagen meines Alters bitterlich arbeiten muß, um meine für Griechenland gemachten Schulden abzuzahlen, die einzigen meines Lebens, die ich mir im entschuldbaren Enthusiasmus eines von der Milch der 136 alten Classiker aufgesäugten Herzens aufgeladen habe. Wo nichts ist, kann nicht nur der Kaiser, da können auch die Communisten und Proletarier nichts wegnehmen!«

Beißerle, der seine kostbare Zeit und Nachtruhe durch das Drängen des eifrigen Vereinsmitglieds für christliche Bürgerpflicht und Unterthanentreue wesentlich beeinträchtigt fühlte, hatte die letzten Worte nicht ohne das wohlthuende Bewußtsein eines sicher treffenden Schützen betont. Aber Pyrian rief mit erzwungenem Gelächter:

»Hören Sie mir doch um Christi willen auf, von Ihrer Armuth zu sprechen! Sie sind reicher als ich und haben keine Kinder, während ich ein volles Dutzend solcher Orgelpfeifen in der Welt herum laufen habe, die, wenn ich demnächst sterben sollte, (was Gott verhüte!) sich in mein Weniges zu theilen haben.« Und ohne sich durch des Schulmanns ungläubiges Brummen irren zu lassen, fuhr er mit gehobener Stimme fort:

»Wie, gilt Ihnen das Wohl und Wehe unseres angestammten Königshauses, der ungestörte Friede innerhalb unseres sich in allen seinen gesunden Gliedern so glücklich fühlenden Staates so gar Nichts? Ist es nicht Pflicht jedes vernünftigen Bürgers, ja Pflicht jedes Menschen, der nur noch einen Funken Ehrgefühl im 137 Leibe hat, ein treuer, thätiger Royalist zu sein bis zum letzten Athemzuge?«

Der Schmied schlug bei diesen seinen Fragen mit den breiten Fäusten abwechselnd auf seine feste Brust und auf Beißerle's zitternden Tisch, so daß dieser mit sorgenden Händen bald den statt des vierten Beines untergeschobenen Stuhl, bald die klirrend wankenden Näpfchen und Töpfchen seines morgigen Frühstücks befühlte und dabei nach Möglichkeit in Aerger und Entrüstung gerieth.

»Sie sind wohl nicht recht gescheit mit ihrem Royalismus?« rief er, den weinerlichen Ton der Stimme bis zu heiserem Pathos steigernd. »Warum soll ich mich für das Wohl und Wehe eines Königthums, für die Grenzbeschaffenheit eines Provinzencomplexes interessiren, welche beide vor nichts weniger als unvordenklicher Zeit die entehrende Laune eines fremden Eroberers zusammengewürfelt und die Diplomatie der gegenseitigen Uebervortheilung gut geheißen hat? Die alten Griechen und Römer wußten nichts von dem, was man in verkommeneren Zeiten Royalismus nannte und nennt. Jedenfalls hat der Royalismus nur so lang einen verständigen Sinn, als die Person des Königes die Idee des Staates körperlich vertritt; trifft es sich eines Tages, daß diese Person und diese Idee sich aus Zufall, Unbedacht oder Nothwendigkeit von einander scheiden, so können Sie 138 von Gefolgschaftstreue, von Dienertreue, meinethalben von Hundetreue reden, aber die Unterthanentreue, die Bürgerpflicht muß nach allem gesunden Menschenverstand ihr seliges Ende erreicht haben. Von den schottischen Cavalieren, von den legitimistischen Emigranten und den Bauern in der Vendee will ich es begreifen, wenn sie sich Royalisten nannten. Ja selbst wenn es sich um einen Herrscherthron handeln könnte, der die Gränzen der deutschredenden Völker oder gar die Machtweite des mittelalterlichen Kaiserreichs auf einmal unter sich wanken fühlte, könnt' ich Ihre Angst und Sorgfalt verstehen und mit Rücksicht auf Ihr Temperament und Ihren Ehrgeiz auch gut heißen! Aber, ich bitte Sie, wenn Sie einer Herrschaft über ein Paar Millionen Menschen – und nicht etwa ungewöhnlich ausgerüsteter Menschen wie es die Griechen und Römer gewesen – welterschütternde Wichtigkeit beilegen, so weiß man nicht, soll man lachen oder weinen. Und was wollen Sie denn überhaupt? ist denn der Thron, das Land gefährdet? keine Spur! Alles ist in schönster Ordnung, alle Ihre werthen Mitbürger sitzen jetzt ganz sorglos im Wirthshaus oder liegen behaglichst in ihren Betten. Und ich, der ich ein armer alter gebrechlicher Mann bin, den sein mühsames Tagewerk nur kümmerlich nährt, dafür aber an Leib und Seele ermüdet, ich möchte gleichfalls zu Bette gehen. Nehmen Sie mir 139 das um Gottes Willen ja nicht übel, verehrtester Hauseigenthümer!«

Beißerle suchte durch diesen versöhnlichen Schnörkel, welchen die Bestürzung über seine eigene Kühnheit anzubringen gebot, den Eindruck der herberen Worte zu mildern, welche ihm in ärgerlicher Uebereilung entronnen waren. Aber Pyrian, der Würdebewußte, verstand keinen Spaß; mit gehobenem Kinn und zwinkernden Nasenflügeln sagte er leise, doch mit scharfer Betonung:

»Herr Professor, Sie vergessen, mit wem Sie zu disputiren die Ehre haben; ich hoffe, daß sich Ew. Wohlgeboren bis morgen daran erinnern und zu entschuldigen wissen werden.«

Damit schüttelte er den steifen Hals, als ob er die Bärenmütze auf dem Haupte trüge, und schlug lautschallend die Thüre hinter sich zu.

An seiner Statt betrat nun Veit die Mansarde des Lehrers. Derselbe saß erschöpft auf demjenigen Meubel, welches er Sopha nannte, trocknete sich die Stirne und streckte die zitternden Beine von sich.

Veit näherte sich mit aufgeregtem Angesicht dem Geängsteten und sprach: »Entschuldigen Sie, lieber Professor, da ich die Bretterwand zwischen unseren Stuben weder verzwei- noch vervierfachen kann, habe 140 ich nolens volens mit angehört, wie Sie diesem Kirchthurmspatrioten heimgegeigt haben.«

»Was Patriot?« ächzte Beißerle unter Räuspern und Hüsteln und Schnäuzen, »von Patriotismus keine Spur! Einen Orden will er haben, der ehrsüchtige in sich selbst verliebte Hanswurst. Daß er sich kein violettes Bändchen in's linke Knopfloch seiner Nachtjacke nähen lassen kann, das ist es, was den Biedermann schon lang im Schlafe stört. Hinc illæ lacrymæ! Und ich mit meinem Eintritt in den Verein soll ihm nur dazu verhelfen«.

»Wie ist das möglich? Sie, ein Schulmann –«

»Höchst einfach« unterbrach Beißerle den Unterbrechenden, »der Verein für christliche Bürgerpflicht und Unterthanentreue, welcher seit dem Sonderbundskriege in der Schweiz sein mir höchst gleichgültiges Wesen treibt, geht einer Neuwahl des Vorstandes entgegen. Zu seinen einflußreichsten Mitgliedern zählt er ein Dutzend Kaufleute und Staatsbeamte, welche mit mir im Ausschuß der Actionäre für das kleine Steinkohlenbergwerk in Ambeckelgrunzersdorf sitzen – da ich nun, Gott sei's geklagt, der am meisten betheiligte der Actionäre zu sein, das zweifelhafte Vergnügen habe, und Herr Pyrian dieß weiß, so weiß er auch, daß meine Herren Collegen vom Ambeckelgrunzersdorfer Actienausschuß sich bei der Präsidentenwahl des neuen Vereins 141 für christliche Bürgerpflicht et caetera von meinem Votum leicht würden bestimmen lassen. Ich aber muß doch wohl, weil ich sein Dichten und Trachten kenne, und meinem Wissen und Gewissen das Ergebniß der Wahl höchst gleichgiltig ist, meinem Hauswirthe die kleine Gefälligkeit erweisen. Thu' ich es nicht, so steigert er mir armen Mann den Zinsbetrag oder zwingt mich gar zum Auszug, was meinem Geldbeutel, meiner Gesundheit, meiner Lebensgewohnheit, meiner Lectionenzeit, kurz Allem in Allem Abbruch thun würde. – Ist er aber nur einmal Präsident des Vereins, so bricht er die erste beste Gelegenheit vom Zaune, zur Bethätigung der loyalen Gesinnung oder »zur Erweiterung des Ehrgefühls und der Bürgerpflicht« oder wenn nichts anderes herhalten will, »zum Besten verarmter Bürgermilizveteranen« ein solennes Fest zu veranstalten. Er empfängt die Minister an der Pforte, er darf vielleicht gar die Majestäten zu ihren Sesseln geleiten, dann hält er eine oder auch zwei von seinen einfältigsten Reden – und über Nacht und Morgen fliegt ihm ein Orden an den Frack, glänzend wie der Lucifer und kostbar wie die Seele eines uneigennützigen Royalisten.«

Beißerle schwieg, einem Manne vergleichbar, der eben einen Riesen getödtet. Sich selbst in ungewöhnlicher Weise belohnend, langte er noch ein Stückchen aus der 142 Zuckerdose und schob es langsam im Vollgefühl des Außerordentlichen von einem Mundwinkel in den andern.

Veit, welcher eine Zeitlang seinen Gedanken nachgehangen, unterbrach nun die Stille im guten Glauben, das schweigende Sinnen des Professors wäre derweilen mit dem seinigen einträchtiglichst den gleichen Weg gegangen:

»Ein Paar Mal haben Sie mir so recht aus der Seele gesprochen,« sagte er mit einem Tone dankbarer Freudigkeit. »Auf der See muß ein deutscher Mann gelebt haben, um die trostlose Zerfahrenheit unserer staatlichen Zustände so recht von Grund auf zu verwünschen. Der lumpigste Häringsfänger einer anderen Nation dünkt sich was Rechtes als Theil jenes geschlossenen Ganzen, dem er angehört, dessen Flagge stolz von seinen Masten flattert. Nur der Deutsche ist vaterlandslos, selbst auf der See; sein Vaterland hat keine Flagge, ja es straft mit Kerker und Verbannung diejenigen die an die Farben des alten Reichs erinnern und die Enkel der Weltbeherrscher sind zum Kinderspott der Nationen geworden, seit sie den Reichsaar von den Fahnen gerissen und jeder einzelne den Wetterhahn seines Dorfkirchthurms dafür als Symbol des in allen Stücken ungenügenden Vaterländchens sich gesetzt hat. Aber das Sterbestündlein des partikularistischen Treibens wird schlagen und in Bälde und alsdann muß es 143 kommen, wie Sie es in ihren Worten eben angedeutet, Ein Volk, Ein Staat, soweit die deutsche Zunge klingt, Ein Staat, Ein Volk, der Väter Größe würdig!«

Beißerle hörte dem begeisterten Interpreten seiner vermeintlichen Ueberzeugung mit wachsendem Unbehagen zu und sagte nun mit dem zürnenden Gesichte eines widerrechtlich Gelangweilten: »Ich flehe um Gottes Willen, daß Sie mir mit diesen Dummheiten vom Leibe bleiben. Das ist nur der Revers der landläufigen Narretheien, von denen Pyrian das Vordertheil gezeigt, und jenes weist um keinen Gedanken mehr Werth auf als dieses. Was wollen Sie denn, das an den deutschen Zuständen vernünftiger werden soll? Erfüllen wir nicht besser als irgend eine Nation den Beruf, der unsere Bestimmung heißen muß? Unsere Altvorderen sind lange genug die Narren des welteroberungsberufenen Kaiserschwindels gewesen; aber seit der großen Zeit der Humanisten hat sich der Geist der Nation auf sich selbst besonnen, wir wissen seitdem, daß wir berufen sind die wiedergefundenen Schätze des alten Griechenlands, des alten Roms den staunenden Nachgeborenen zu vermitteln und dieselben durch die Beleuchtung unseres mühsam genährten Scharfblickes vor ihrer Empfänglichkeit neu aufleben zu lassen. Die classische Periode unserer eigenen Literatur sollte unser Bewußtsein zum Gemeingut machen, daß wir berufen seien, die reine 144 Menschenwürde, unangekränkelt von nationalen Eifersüchteleien und blutsfreundschaftlichem Bauernstolz, unter den Völkern zu verbreiten. Einem vernagelten Querkopf wie diesem Pyrian kann ich so etwas nicht eintrichtern, denn man kann ihm so wenig wie kleinen Kindern mit anderen Einwänden kommen, als solchen, die er auf den ersten Blick zu fassen vermag. Was zum Guckguck aber kann Sie, der Sie Philolog werden wollen, bestimmen, für das hohle windige Phantasma einer einheitlichen deutschen Großmacht zu schwadroniren? Wenn ich Ihnen den Homer erkläre oder Ihre Uebersetzungen des Horatius censire, ist es Ihnen dann nicht einerlei, ob ich ein kaiserlich königlich Oesterreichischer oder ein fürstlich-lippe-schaumburgischer Unterthan bin und ob die wurmstichigen Pfähle an der nächsten Landesgrenze schwarzrothgold oder aschegraudunkelblau angetüncht sind? Lernen Sie was Ordentliches, auf daß man Sie eines Tages zu den Auserwählten im Geiste rechnen möge, aber kümmern Sie sich nicht um die staatliche Bestimmung unserer mehr oder minder normalen Zustände. Man giebt Ihnen Zeit und Gelegenheit Alles zu lernen, was Sie nur wollen, man stört Niemanden in seinem Fleiße und erkennt das wissenschaftliche Verdienst an, wenn es sich nicht zu wühlerischen Zwecken mißbrauchen läßt. Also molestiren Sie Niemanden, auf daß Sie nicht wieder molestirt werden. Ich war auch einmal 145 jung und thöricht, ja ich war sogar vierzehn Tage lang Sprecher der Burschenschaft zu Leipzig; da hab' ich all den deutschthümelnden Unsinn aus erster Hand genossen, aber ich versichere Sie, mir ward dieser ungesunde Phrasenrausch bald in die Seele hinein zuwider. Unterofficiere und Armeelieferanten, Tagdiebe, welche nichts zu thun und nichts zu verlieren haben. Schenkwirthe, welche vom hitzigen Kannegießern, das den Durst ihrer Gäste reizt, nur gewinnen können, solche und ähnliche Leute mögen ihre Wünsche an die gewaltsame Veränderung oder an gewaltsame Erhaltung der bestehenden Zustände hängen; quid ad nos? Lassen Sie uns vom mühsam erklommenen Ufer unseres höheren Menschenthums im Bewußtsein unseres reineren Elementes ruhig auf den tosenden Wellensturm herabsehen, der das vielköpfige Meer unter unseren Füßen in Aufruhr setzt. Es mag den Saum an unseren Kleidern mit Gischte bespritzen, allein den Fels, auf dem wir fußen, wird es mit allem Ungestüm nicht erschüttern noch gar hinwegspülen können.«

Beißerle belohnte sich abermals durch ein Stück aus seiner Zuckerdose. Veit schwieg. Er hatte Manches auf dem Herzen gegen den Vertreter des geläuterten Menschenthums, des von allen politischen und natürlichen Grenzen entbundenen Cosmopolitismus; aber er fühlte sich in diesem Augenblick zwischen den 146 Indifferentismus des eigensüchtigen Schulmannes und die kleinbürgerliche behagliche Donquixoterie des ehrgeizigen Partikularisten mit so entschiedener Gegensätzlichkeit nach beiden Seiten in die Mitte gestellt, daß ihm solchen Seelen gegenüber Worte für eitel Verschwendung galten. Stumm verabschiedete er sich bei dem greisen Stubennachbar und legte sich verstimmt und von wechselnden Gedanken bestürmt auf das Lager, nachdem er die vom Abenteuer zerdrückten Kissen noch eine gute Weile betrachtet hatte.

Er konnte lange keinen Schlaf finden, dann wälzte er sich in schweren Träumen herum. Es war ihm, als sähe er den heiligen Geist in der beliebten Erscheinung einer Taube über sich schweben, aber die Taube wuchs und nahm immer riesigere Gestalt an bis sie aussah wie ein ungeheuerer weißer Adler, von dessen mächtigem Flügelschlag erzitterte die Luft und das Meer und die Erde. In den gewaltigen rothen Fängen hielt er eine stählerne Wage, deren Zünglein hin und herschwankte wie die zitternde Bussole eines Schiffes das der Sturm über und unter die Wellen jagt. In der einen Schale saßen mit umschlingenden Armen fest an einander gedrückt, der Professor Beißerle und der Schmied Pyrian, aber sie sahen beide nicht aus, wie gewöhnlich am Tage, sondern wie apokalyptische Figuren, der eine hatte den Kopf eines Ochsen auf den Schultern sitzen, zwischen dessen Hörnern eine colossale Bärenmütze mit 147 ragendem, rothem Federbusch eingeklemmt war; der andere trug das regungslose, grünlich blasse Gesicht eines Todten und vor die Stirne war eine in altes Schweinsleder gebundene lateinische Grammatik mit blanken Nägeln festgeschlagen. In der andern Schale saß Veit unter dem linken Arm ein kleines Dampfschiff, unter dem rechten Arm das lebendig gewordene Wappenthier des weiland heiligen römischen Reichs. Die winzige Mannschaft des Schiffes war sehr eifrig und rührig und zog abwechselnd allerlei Flaggen und Wimpel auf; von dem heiser quickenden Wappenvogel aber gieng ein widriger Modergeruch aus und bei jedem Ruck fielen ihm die zerdrückten Federn aus, daß er bald mauserig kahl war. Die beiden Alten in der jenseitigen Schale arbeiteten mit Händen und Füßen, um das Gewicht ihrer Schwere der schwankenden Schale besser fühlen zu lassen. Drum griff Veit in seine Tasche und warf mit Handgranaten nach den beiden Gegnern. Aber er traf nur immer die Bärenmütze oder die Grammatik, nicht diejenigen so darunter standen; wo die Kugeln aufschlugen, rauchten die Mützenhaare, zeigten sieh brandige Flecken auf dem Schweinsleder, aber Dampf und Flecken verschwanden alsbald wieder, die beiden Alten schlenkerten und zappelten an Armen und Beinen noch gefährlicher als vorher und Vitus schwitzte vor Aerger und Anstrengung am ganzen Leibe.

148 Da kam ein großmächtiger Mann daher; den hörte man nicht kommen, denn er schlich auf großen Filzlappen; der führte eine Scheere und ein Löschhorn im Gürtel seines dunkelblau geblümten Schlafrockes und auf dem Haupt eine riesige himmelanstrebende schneeweiße Nachtmütze. Aber unter der Nachtmütze trug er kein menschlich Angesicht, sondern eine runde mildleuchtende Scheibe, so groß und glänzend wie der Vollmond, wenn er in Sommermitternächten langsam an dem tiefdunklen Himmel emporsteigt. Der Mann löschte mit seinem Horne alle Lichter aus, daß aller Glanz nur mehr von seinem Angesicht ausgieng; er schnitt mit seiner Scheere die sechs Stränge durch, welche die beiden Wagschalen an die Pole der Querstangen befestigten, so daß sie sammt ihrem Inhalt in die Tiefe stürzten. Kopfüber fallend sah Veit noch wie der Gewaltthätige den weißen Riesenadler, in den sich die Taube des heiligen Geistes ausgewachsen hatte, beim Kragen nahm. Er steckte ihn in seine große Zipfelmütze und band sie sodann mit einem rothen Strumpfbande fest zu.

Veit war's, als fiele er mit jedem Athemzug eine Meile tief. Das Dampfschiff war in die Luft davongefahren, der Reichspaniervogel in Staub und Moder zerflogen wie Pulver im Winde. Auch von Pyrian und Beißerle war nichts mehr zu sehen. Veit fühlte nur wie er immer tiefer und tiefer, bald mit den 149 Beinen, bald mit dem Kopf nach unten, dahinstürzte in's Bodenlose, in's Unendliche. Da ward's ihm auf einmal klar, daß es nicht fallen, nicht fliegen, sondern fahren sei, was er empfände. Windschnelles fahren in einem gar bequem gepolsterten, gefederten Wagen. Auf dem Kutscherbocke saß Helmtrost von der Schneppe; lachend trieb er die hurtigen Rosse und sah zuweilen mit überlegenem Spott in den Augen rückwärts durch die Scheiben zu Veit herein. Dieser aber kehrte sich nicht an sein Gesicht, denn neben ihm lag Fanny Pyrian bleich, mit geschlossenen Wimpern und gelöstem Goldhaar in odemloser Ohnmacht. Veit hielt ihr die Hände und sah ihr auf den Mund, der ihm mit einem Male die Lösung aller der Räthsel zu enthalten schien, die seine arme Seele aus dem mühsam erworbenen Frieden aufgescheucht hatten.

Da regten sich die langen Wimpern und die rothen Lippen der Bewußtlosen. Aber Veit konnte nicht mehr hören, was sie sagen wollten, denn vor Staunen und Schrecken und Erwartung zuckte er so heftig zusammen, daß er erwachte. 150

 


 


 << zurück weiter >>