Hans Hopfen
Arge Sitten
Hans Hopfen

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II.

– – Am anderen Tag nach dem anderen Tage (es war ein Freitag, also böser Vorbedeutung), sah man einen Mann, der den langschößigen Sonntagsrock und die troddelgeschmückten Kniestiefel eines Landpredigers trug, die gewundene steile Straße hinaufsteigen, in welcher wir uns bereits Eingangs dieser Geschichte befunden haben. Er zog einen Knaben an der Hand nach sich, einen kleinen Jungen von großem Kopf und kurzen Beinen, dessen Wachsthum hinter seinen Jahren zurückgeblieben war, da er obwohl schon über vierzehn alt, doch das Ansehen eines eilfjährigen hatte.

Vor der Schmiede Pyrian's angekommen, machte der Pfarrer Halt, um sich bei einem der mit glühendem Hufeisen in der Zange daherschreitenden Knechte endgültige Auskunft zu erholen.

Der Junge fuhr sich derweilen mit der Hand über die Augen und that einen Schluchzer, dann sah er auf das laute Treiben in der rührigen Schmiede und dachte an die stille Sauberkeit des sonntäglichen Pfarrgärtleins; er dachte an den wilden Wein, der über der Pforte des heimathlichen Hauses bis an die Stufen niederrankt, 27 und vertiefte sich, das junge Herz von trüben Ahnungen beklommen, in die drei Mischgestalten von Affe, Hund und Flügelthier, deren graugrün übertünchte Relieffe über der Pforte des Hauses Pyrian auf ihn niedergrinsten.

Da Beide über die erste Treppe waren, trafen sie auf ein Paar gesunder Jungen von zwölf bis dreizehn Jahren, zwei aufblühende Bürgergrenadiere der Zukunft, die mit wilden Kastanien spielten und über das unverhoffte Erscheinen niegesehener Fremdlinge in lachenden Zorn geriethen.

»Bauernfünfer! Mistgabelglachel!« schrieen sie aus kichernden Hälsen und warfen mit vollen Händen dem Pfarrer ihre Kastanien an den Kopf, daß ihm der struppige Hut dumpfaufknallend die Stiege hinabfiel.

Als er mit diesem wieder heraufkam, fand er seinen Pflegling, der die beiden würdebewußten Stadtkinder am Kragen hielt und ihre Köpfe an die Kanten des Stiegengeländers drückte, daß sie aufschrieen wie die Kälber unter dem Stich.

Während der Pfarrer mit salbungsvollen Verweisen, die er dem unschuldig in Händel Verfallenen gab, eine Treppe nach der andern erklomm, schrieen die Mißhandelten weinend nach dem Vater.

Die Fremdlinge waren schon über den fünften Stock gekommen und drehten sich rathlos zwischen den 28 wurmstichigen Thüren der Mansardenwohnungen um. Da sahen sie ein kleines Mädchen von etwa acht Jahren neben einer offenen Dachlucke sitzen. Der tanzende breite Sonnenstrahl, der sich quer über das dunkelbraune Gelaß legte, streifte goldbeschimmernd ihr rothblondes Haar, nach dessen niederhängenden Zöpfen eine kleine Katze mit spielenden Pfötchen griff. Das Kind hatte große graue Augen, eine blasse vorgeneigte Stirne, und lange rothe Hände; in diesen hielt es ein mächtiges, altes, in Schweinsleder gebundenes Buch, dessen krausbärtige Holzschnitte sie in der stillen Zurückgezogenheit ihres Dachwinkelchens ungestört bewunderte.

Als die Neuangekommenen sich bei ihr um die Wohnung des Herrn Professors Beißerle erkundigten, stand die Kleine auf, hüstelte ein Bißchen und kletterte den Fragenden voran über etliche, fastgerade aufstehende Treppen, welche allerdings einer Leiter ähnlicher sahen als einer Stiege. Die kleine graue Katze hüpfte hinter ihr drein.

Der Herr Professor Beißerle wohnte in jener Kammer unter dem Blitzableiter, deren vorhergehender Miether durch sein Leiden und seinen Tod der Tuberkelburg ihren volksthümlichen Namen gegeben hatte. Der Professor litt nicht auf der Brust; er gieng langsam und vorsichtig und besprach sich auf jedem Stockwerk ein Weilchen mit einem der Hausgenossen. Neben der 29 seinigen hielt er zwei andere kleinere Stuben, in welchen er ein halbdutzend böser Buben verschiedenen Alters untergebracht hatte. Diesen dreitheiligen Wohnungscomplex zunächst unter den Schindeln nannte man die Pension Beißerle.

Dieselbe stand in großer pädagogischer Renommee; es wurden in sie meist nur solche Zöglinge gesteckt, die in freierer Zucht durchaus nicht hatten gedeihen wollen und, trotz aller gewöhnlichen Anreizungsmethoden zum Studium, hinter ihren Altersgenossen in empfindlicher Weise zurückgeblieben waren. Selten daß es ein Pensionär länger denn anderthalb Jahre unter der Obhut des unerbittlichen Beißerle aushielt; denn alsdann hatte er nicht nur das Versäumte eingeholt, sondern dies Wissen fußte auf einer fleischgewordenen Gründlichkeit, welche für die übrige Dauer der Gymnasialzeit auch bei rückfälligen Sündern nie ganz zu erschüttern war.

Der Landgeistliche hatte nur von Beißerle's griechischem Unterricht Wunder sagen hören, sich aber um die Mährlein, die über dessen Erziehungsmethode umgiengen, wenig oder nichts gekümmert. Das Pensionshonorar war keineswegs geringe, da fast lediglich in den guten und besten Familien die Söhne wider ihren Willen zum Studium genöthigt werden. Und so klopfte Veits Wohlthäter, das hoffnungsstolze Herz 30 mit einer vollen Brieftasche gepanzert, an das unübertünchte, rohgehobelte Brett, welches als Thüre zu dem Heiligthum des greisen Präceptors diente.

»Herein, herein!« sagte eine heisere Stimme wohlwollend zu den Eintretenden und »arbeiten Sie nur ruhig fort!« etwas barscher zu einem hageren Jüngling, der mit den Blicken eines Gemarterten die Neuangekommenen wie unerwartete Erlöser begrüßte.

Der Professor Beißerle, ein dürrer Sechziger hatte in seiner rechten Hand ein breites Lineal, mit dessen Schneide er demonstrirend auf der Tischkante hin und her hämmerte, in der linken einen großen zinnernen Eßlöffel, mit welchem er aus einer colossalen Kaffeeschale saftige Brocken zum Munde führte, so groß als sie eben eingehen wollten.

Vor ihm, zwischen Büchern und Heften, zwischen Federn und Kerzenstümpfchen stand bei sieben Semmeln eine alte Kaffeemaschine über dem Spirituslämpchen, ein großer Milchhafen und ein hölzernes Bureautintenfaß zunächst daran. Der Tisch, auf welchem Beißerle seine Vielseitigkeit bethätigte, hatte nur drei Beine; an Stelle des vierten war ihm ein Stuhl untergeschoben, dessen Höhe soweit mit alten Büchern ergänzt war, bis sie die Leiste der Schieblade erreichte. Das übrige Meublement bestand aus einem noch ungemachten Bette, einem Kanapegestelle ohne Ueberzug und zwei 31 weiteren Stühlen von gleicher Farbe. An der einen geradestehenden Wand der Mansarde lagen etliche fünfzig Bücher dickbestaubt auf ihren Brettern; ein altes werthloses Familienbruststück ohne Rahmen hieng an der andern.

Der stehende Gesichtsausdruck Beißerle's war wohlwollendes Lächeln; die Haltung seines Körpers war die Krümmung dienstfertiger Ergebenheit. Während der halben Stunde, welche er mit dem Pfarrer sprach, hielt er Vitus' zagende Rechte, tätschelnd und streichelnd zwischen seinen runzligen Fingern derweil seine wasserblauen Augen, die er von Zeit zu Zeit wie staunend weit aufriß, unverwandt an den Lippen des Pfarrers hiengen, welche das Lob seines Pfleglings wider Gewohnheit gesprächig gemacht hatte.

Das erste, was der pensionirte Schulmann auf den Antrag des Geistlichen, seinen Veit in Zucht und Kost und Pflege zu nehmen, erwiderte, war:

»Sehen Sie doch, was dieses Zimmer für eine wunderbare Aussicht hat! in der ganzen Stadt finden Sie kein zweites. Die ganze Gebirgskette und die reine Luft!«

Es war eine treffliche Gewohnheit Beißerle's, auf jeden Vorschlag, den man an ihn richtete, mit einer Redensart zu antworten, welche mit jener nur durch einen weitreichenden Faden zusammenhieng. Dadurch verblüffte 32 und ermüdete er seine Antragsteller, gewann Zeit, in seinem Mißtrauen und seiner Gewinnsucht Alles dreimal zu überlegen, bis sich der andere zu nochmaliger Fragestellung aufsammelte, und er hatte außerdem immer die Möglichkeit in der Hand, sobald es ihn gut und förderlich däuchte, die Hauptsache an dem unsichtbaren Verbindungsfaden wieder in's Gespräch zu ziehen.

So erwiderte er dem Pfarrer, als dieser um die Honorarbedingungen fragte mit einer ziemlich weitausholenden Biographie. Er erzählte, wie er als armer Pastorssohn von den Studien gefesselt und von den empfindsamen Schwärmereien jener Zeit getragen worden wäre. Die Erhebung der Freiheitskriege hätte er wegen der Pocken, die ihn damals befallen, nicht werkthätig mitmachen können; aber bei der Leipziger Burschenschaft wäre er vierzehn Tage lang Sprecher gewesen. Nach der Gewohnheit seiner Väter hatte auch er Theologie studirt und selbst, als er die Gymnasialcarriere ergriffen, sich den Eintritt in die gottesdienstliche Aemterfolge bei den Ministerien vorbehalten; dieser Vorbehalt dauerte noch fort bis auf den heutigen Tag, da Niemand wissen könnte, wie ihn noch die Wechselfälle des Erdenwallens sein täglich Brod zu verdienen nöthigen möchten. Also betrachtete er sich gewissermaßen als College des ausübenden Seelsorgers und fand 33 bei der katholischen Geistlichkeit insonderheit die Gewohnheit des Cölibats hoch zu loben, welche einerseits den Mann von irdischen Sorgen loslöste und so in den Stand setzte, einzig und allein seiner Pflicht zu leben, welche anderseits schon den zur Gottseligkeit sich vorbereitenden Jüngling vor den Allotrien zeitraubender Empfindsamlichkeiten zurückhielte, die bei den Studirenden der protestantischen Theologie für fast ebenso unerläßlich gälten, als die Kenntniß der lutherischen Bibelübersetzung.

Was der Pflegevater Veits bei diesen einschmeichelnden Reden empfand, weiß ich nicht; er schwieg in gewohnter Weise und konnte sich denken was er mochte. Unterdessen fuhr Beißerle fort zu berichten, wie er nach viel Jahren der Noth und des Mangels sich endlich zum Gymnasialprofessor emporgeschwungen. Da plötzlich habe das Wiedererwachen Griechenlands den Cosmopolitismus, in dem seine von der Milch der Classiker aufgenährte Seele stets gelebt und gewebt, in einen leidenschaftlichen Philhellenismus verwandelt.

Aber alle Schwärmerei, so sie nicht gegenstandslos wie die Seufzer fünfzehnjähriger Mädchen, wenn sie im Finstern Clavier spielen, kostet meistens Geld, viel Geld, nicht selten unwiederbringliches.

So auch Beißerle die einzige Schwärmerei seines Lebens. Er hatte sie mit dem Eifer eines Coelibatars 34 ergriffen, der unangefochten von niederen Rücksichten einer Familie mit ganzem Wesen der Sache sich hingibt, die er als die seinige erwählt. Das wiedererwachte Hellas brauchte nichts nothwendiger als Geld. Die meisten der Philhellenen waren in allen Liebesdiensten eifriger denn im Zahlen. Anders unser Gymnasialprofessor; er nahm Geld auf unter erschwerenden Umständen und zeichnete Actien die Fülle in den übelbehüteten Stunden seiner Begeisterung.

So lange die Welt steht, wird das Erhabene verlästert und es fehlte nicht an hämischen Ehrabschneidern, die da herumschwatzten, Beißerle wolle mit seinem Philhellenismus blos ein gutes Geschäft machen. Der Erfolg zeigte klar genug, wie eitel diese Lästerungen gewesen.

Es waren schlechte Zahler die im freigebigen Deutschland so vielgeliebten, die allzeit zu spät verketzerten Bastardenkel der homerischen Helden, die geduldigen Objecte schulgerechter Apotheosen; und Ehrenmann Beißerle, der Professor an einem schlechtdotirten deutschen Gymnasium, er der niemalen an den Genüssen eines auch nur mäßigen Luxus genippt hatte, er der filzige Hagestolz, dessen Haupt- und Lieblingsnahrung seit den Tagen seiner Jugend Milchkaffee mit Semmeln geblieben war, er legte sich eines Abends nieder mit dem quälenden Gewissen eines Zahlungsunfähigen, der seine Gläubiger nach Dutzenden zählt.

35 Da machte er aus der Noth eine Tugend, quittirte sein Amt und suchte von nun an sein Können und Wissen auf möglichst einträglichem Wege zu verwenden. Seine anerkannten Fähigkeiten und die staunenswerthen Proben, welche der pädagogische Wundermann in Bälde ablegte, verschafften ihm Privatstunden, die seine Zeit vom grauenden Morgen bis in die sinkende Nacht in Anspruch nahmen. Es entstand die »Pension Beißerle«, Ruhm und Renten tragend, und ihr Rector zahlte Zinsen und Zinseszinsen und allmälig vom Capital ein Sümmchen nach dem andern ab. Dabei wuchs die Achtung, die ihm allgemeines Vertrauen schenkte, dabei wuchs seine Kenntniß in Geldgeschäften und seine knausernde Schlauheit; seine wachsende Wohlhabenheit war trotz ängstlich beibehaltenen Maske nothdürftiger Armseligkeit längst nur mehr ein öffentliches Geheimniß.

Er selbst lächelte fromm vor sich hin unter zwinkernden Blicken, wenn einer auf sein bitterlich Wehklagen über die griechische Schuld zu entgegnen wagte, daß ihn selbe nicht arg mehr drücken könnte. Dann sagte er wohl zuweilen, daß er freilich keinerlei Verwandte mehr über dem Erdboden habe, allein alle seine Mitmenschen seien von Adam her mit ihm verwandt, seine Glaubensbrüder am nächsten, und wenn sein mühsam Erspartes hinreiche, nach seinem Tode das lang schon als dringend gefühlte Bedürfniß, in hiesiger Stadt eine zweite 36 protestantische Kirche zu erbauen, der Erfüllung näher zu rücken, so werde er sein stilles Wirken segnen können in der Stunde des Absterbens. –

Während Beißerle, dem von verschiedenen Gefühlen bewegten Paar von der Geschichte seiner hellenischen Passion so viel mittheilte als ihm zweckdienlich schien, ward durch die Gewandtheit des Erzählers gleichzeitig auch die Honorarfrage für den neusten Zögling der Pension in's Reine gebracht und der Landpfarrer hatte soeben, den üblichen Gehalt für ein Halbjahr vorausbezahlend, seine Banknoten gegen genaue Quittung ausgetauscht, als ein außergewöhnliches Schreckniß nach barschem Klopfen in die Thüre des Philhellenen trat – Pyrian der Hausherr.

Er schüttelte die Stirne, als trüg' er auch baarhäuptig eine imaginäre Bärenmütze auf dem Kopfe; er räusperte sich und sprach eine längere grimmige Rede, in welcher die Worte: nothwendiges Ehrgefühl, Kindererziehung und Bauernbube zu wiederholten Malen und mit steigender Betonung vorkamen.

Beißerle, der aus dem Scharmützel der Knaben auf der Treppe alle Schauder einer abermaligen Miethzinssteigerung drohend emportauchen sah, lächelte den Schmiedmeister mit süßsäuerlicher Miene an, tätschelte mit den langen Händen und meinte sich nach Kräften entschuldigen zu müssen.

37 Zwischen den verzweifelnden Kosmopoliten und den scheltenden Partikularisten drängte sich dann in all seiner Bescheidenheit der Geistliche vom Lande mit fruchtlosen Verständigungsversuchen. Zu beiden Seiten des Schauplatzes öffneten sich sachte die Thüren; zur Rechten streckten die Zöglinge der Pension ihre neugierigen Gesichter in die Stube; zur Linken pflanzten sich die gezausten Sprößlinge des Schmiedes und hinter ihnen noch zwei jüngere Brüder auf die Schwelle, um den Vater für die gekränkte Ehre des Hauses donnern zu hören.

Es währte nicht lange, so waren die Putten zu beiden Seiten verschwunden; Pyrian war, nachdem er das Aergste, was er zu sagen gewußt, zwischen Thür und Angel verloren, die Leitern und Treppen hinabgepoltert und der ehrwürdige Wohlthäter hatte mit Ermahnungen zu Fleiß und Friedfertigkeit den kleinen Veit verlassen.

Diesem war zu Muth, als wäre sein guter Engel von ihm gegangen; krampfhaft preßte sich sein junges Herz zusammen und während er die trockenen heißen Augen über den staubigen Wust unfreundlicher Gelehrsamkeit, der ihn umgab, hin und her gleiten ließ, sehnte er sich mit allen Seelenkräften nach dem baarfüßigen Elend auf der Gänseweide zurück. In den Händen wand er ein kleines Büchlein herum, einen Horaz Elzevirescher Ausgabe, eine Kostbarkeit, welche ihm der 38 Pfarrer beim Scheiden geschenkt hatte zu künftiger Freude und Auferbauung für's ganze Leben.

Die Mitpensionäre drängten sich an den neuen Leidensgefährten mit dem offenherzigen Freimuth der ersten Jugend. Der peinigende Unterschied von Rang und Alter, der den meisten Zöglingen anderer Institute den Eintritt oft so widerwärtig macht, existirte hier nicht. Ein eisenfestes Schutz- und Trutzbündniß verband die sechs jungen Bösewichter gegen den gemeinsamen alleinigen Zuchtmeister unterschiedslos und gleichberechtigt. Veit hatte in einer Stunde mehr Schlimmes über den neuen Lehrer zu hören bekommen, als über irgend einen andern Menschen sein ganzes Leben vorher.

Also von verschiedenen Gefühlen bestimmt, versparte Veit seine Thränen bis zur Schlafenszeit. Aber die Ermüdung an Leib und Seele ließ ihn auch dann nicht lange weinen.

Kaum daß er sich in den Armen des ersten Schlummers bequem zu recht gelegt hatte, weckte ihn ein ungewohntes Lärmen, welches in dem Dachstübchen, das den stolzen Namen des »Schlafsaals« zu führen hatte, die Runde machte.

Er fuhr überrascht empor, fühlte jedoch im selben Augenblick einen so heftigen Schlag vor die Stirne, daß er in die Kissen zurücksank und die Augen schloß. 39 Mit der Hand nach oben tastend, merkte er, daß sein Kopfkissen gerade unter der schräglaufenden Wand der Mansarde gebettet lag und daß er in Zukunft nur mit aller Vorsicht sich aus dem Schlaf erheben durfte, wenn er nicht abermals mit der harten Wiederstandskraft seines schiefen Deckenwinkels schmerzliche Bekanntschaft machen wollte wie soeben.

Mittlerweile sah er, wie Professor Beißerle von Bett zu Bette gieng, die Zöglinge mit groben Handgriffen aus dem Schlummer aufrüttelte und in ihre mohnbetäubten Ohren irgend eine Frage aus der griechischen Formenlehre schrie, deren Beantwortung dem Inquirirten zu des Neulings Erstaunen meist gelang. Jeder Mangel an Wissen oder Geistesgegenwart wurde durch ein Paar Ohrfeigen bestraft, mit welchem sich der Betroffene ohne Murren zur Seite legte und weiter schlief. Dieses nächtliche Examen, welches der Schuldner um Griechenland für ebenso Fleiß befördernd als Gedächtniß stärkend erachtete, pflegte derselbe je nach Aufführung der Schüler oder eigener Laune in der Woche zwei bis drei Mal vorzunehmen und seinen Zöglingen war diese rohe Störung im besten Schlummer so wenig auffallend mehr, wie andern anderwärts das Nachtgebet.

Nachdem Beißerle als dem Letzten in der Reihe dem Bettnachbar des aus weitoffenen Augen schauenden Vitus 40 irgend eine Person eines Aorist eines unregelmäßigen Verbums abverlangt und die richtige Antwort nach etlichem Stottern erhalten hatte, ging er zornig, als grämte es ihn, daß er den Letztgekommnen noch nichts zu quälen hätte, an dessen Bett vorüber.

»Schlafen Sie!« herrschte er den aufrecht ihn Anstaunenden widerwillig an und schlug die Thüre hinter sich zu.

Veit drückte das schmerzende Haupt gehorsam in die verkühlten Kissen zurück und dachte während er sich die Augen rieb: »Es ist doch das Erste Mal in meinem Leben, daß mir einer das Einschlafen hat befehlen müssen!« 41

 


 


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