Hans Hopfen
Arge Sitten
Hans Hopfen

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XII.

Die drittletzte der Eisenbahnstationen vor der Hauptstadt, in welcher diese Geschichte begonnen. heißt Poltrach.

Von Poltrach bis Katharinenreuth ist eine Wegstrecke von nahezu sechsthalb Meilen. Der Ort, obwohl er ein Landgericht und ein Rentamt, eine für nicht mineralhaltig befundene Quelle, drei namhafte Brauereien, eine gewesene Glasfabrik und fünf leere. vom Staat angekaufte Scheunen hat, in welche den Sommer und Herbst über anderthalb Compagnieen Infanterie gelegt werden – Katharinenreuth ist trotz alledem ein stiller, wenig besuchter, von den Verkehrsstraßen ziemlich weitab liegender Ort und wird aus eben diesem Grunde von kindergesegneten Beamten und kleinen Pensionären nicht selten zur Sommerfrische gewählt.

Da nun wenig Leute diesem Orte zustreben, und seine Einwohner nichtsdestoweniger so zufrieden und bescheiden sind, daß sie selten und auch dann nicht sehr weit von ihm hinweg verlangen, so ist der gewöhnliche 84 Verkehr auf der Straße von Katharinenreuth nach Poltrach kein sehr lebhafter.

Die regelmäßige Vermittlung des Personalaustausches zwischen Poltrach und Katharinenreuth für diejenigen Sterblichen, welchen der Eilwagen zu aufregend oder zu kostspielig und das Zufußgehen hinwiederum doch zu beschwerlich erscheint, versieht »der Blitz«.

Schnell wie der Gedanke, furchtbar und geheimnißvoll wie die Rache aus der Dunkelheit hervorbrechend, reinigend die schwülen Dünste aus dem Luftkreis bannend, leuchtend und schön, und rasch wie er geboren, dem staunenden Menschenauge wieder verschwindend – alles das war dieser »Blitz« niemalen gewesen.

»Der Blitz« war ein schmaler, einstmals gelbangestrichener, nunmehr außerordentlich gebrechlicher Wagenkasten; im Innern barg er zwei Reihen unbequemer, mit bläulichem Zizz überzogener Sitze »für zehn Personen«, wie über einem blind gewordenen Spiegel auf fliegenbeschmutztem Kärtchen zu lesen stand, obwohl kaum ihrer achte dicht nebeneinander darin sitzen konnten. Dieser Kasten war feder- und schwunglos auf vier gemüthskranke Räder gestellt, die, ein ächzendes, jammerorgelndes Quartett, schon von weitem auf der Landstraße zu hören waren. Den »Blitz« zogen zwei ehemalige Hengste, nunmehr zur Disposition gestellte Sandführersgäule, die sehr zufrieden über ihr leichtgewordenes Loos im 85 Alter die kargbehaarten Schwänze um die hagervorstehenden Schenkelknochen schlugen, auf daß sie die Mücken abwehrten, die im Abendroth tanzend auf ihren nie wieder von Schweiß bedeckten Hinterbacken ausrasten wollten.

Langsam und bedächtig einen Huf vor den andern setzend, zogen die beiden Mähren den wackelnden »Blitz« über den gewohnten Weg dahin. Ein krankes Kind, das kaum aus dem Fallkorb entlassen, seine fetten Beinchen übt, hätte neben ihm hergehen und Schritt halten können und wär' auch trotz etlichen Ausrastens und Einkehrens unterwegs nicht später in Katharinenreuth angelangt, als jenes namengewaltige, vierrädrige Fuhrwerk mit zweier Pferde Kraft.

Und trotz alledem fuhr der Blitz doch zweimal die Woche nach Poltrach an den Stationsbahnhof und wieder heim, und jedesmal, wenn er heimkam, steckten die Katharinenreuther die Köpfe neugierig zum Fenster heraus. Aber es hielt's niemand lang aus, dem Blitz auf seinem Wege nachzuschauen; wer sich das Geduldspiel auferlegte, zuzugucken, wenn die Pferdeköpfe hinter einem Baum angekommen, bis das letzte Rad dahinter weg war, der hatte zum mindesten dreimal gegähnt.

Warum schaffte man ein so unzweckmäßiges lächerliches Beförderungsmittel nicht ab in der Zeit des Dampfes und des raschen Fortschritts? Je nun, bei dem 86 Besitzer war es Ehrgeiz, Stolz der Familie, in welcher der morsche Kasten vom Vater auf den Sohn übergieng; beim »reisenden« Publikum war es Gewohnheit, Anhänglichkeit an der Väter Fuhrwerk, Sicherheit vor allen Gefahren großer Geschwindigkeit, Mangel an Werthschätzung der Zeit, konservativer Sinn überhaupt. Was wundert Ihr Euch, liebe Leser, daß der »Blitz« zwischen Poltrach und Katharinenreuth so lang am Leben blieb? Wie lange doch lebte der Bundestag in der schönen Kaiserstadt Frankfurt am Main!

Aber wir wollen nicht vom Bundestage reden, sondern vom »Blitz«, und dieser glich auch jenem nicht so ganz und gar, denn er hatte doch Eine gute Gewohnheit.

Das war die, zur Sommerszeit bei Nacht zu fahren. Mit sinkender Sonne zog er von Poltrach ab und wenn man am andern Ort ankam, war noch Zeit genug, sich vor dem Mittagessen umzukleiden. –

Der Regen regnete, als wären alle Schleußen am Himmel gerissen, aber kalten Bluts wie zwischen Flaum und Eiderdunen hielt der Lenker des Blitzes seinen gewohnten Schlaf hinter dem tropfenden Vordach. Er hatte die wollene Mütze tief über Stirn und Ohren gezogen, die schlaffen Zügel um den rechten Hinterschenkel gewickelt, die Geißel zwischen die Kniee und die Hände jede in der andern Rockärmel gesteckt. Die 87 Pferde, welche gleichfalls zu schlafen schienen, kannten ja ihren Weg. So war des Lenkers Gewissen beruhigt und die Landgerichts-Polizei kümmerte sich nicht um den Blitz und das Schlafen seines Kutschers auf dem Bock, denn der Blitz stand in günstigstem Ruf eines loyalen, ächt conservativen Instituts. So oft ein Stein, oder eine andere Unebenheit des Weges dem Wagen einen empfindlichen Stoß gab, schlug das Haupt mit der wollenen Nachtmütze gegen die lederüberzogene Wand, aber der Eigenthümer des Hauptes mit der Schlafmütze antwortete nur mit einem um so gemüthlicheren Schnarchen.

Im Innern des Blitzes saßen, jeder in einem andern Winkel, zwei Männer. Sie schienen sich nicht zu kennen und musterten einander mit unbehaglichen verstohlenen Blicken. Der eine, ein kurzer stämmiger Geselle mit üppigem wirren rothen Bart und Haar, rückte einen bräunlichen Schlapphut unschlüssig auf seinem Kopf hin und her oder er trommelte mit seinem mächtigen Knotenstock auf dem halbmorschen Boden des invaliden Omnibus den Tact zu einem alten Marschliede. Die Melodie desselben tönte in abgerissenem leisen Pfeifen aus blanken Zähnen, die ab und zu an einer ausgegangenen Cigarre zupften. Da erlitt der federlose Blitz wieder einen so heftigen Stoß, daß sein wurmstichiges Getäfel in allen Fugen knackte und die beiden Passagiere eine unwillkürliche tiefe Verbeugung nach Vorne 88 machten. Darauf hatte das leise Concert ein Ende, man hörte nichts als das Aechzen der Räder, das Rieseln des Regens rings um den windigen Kasten, das Rollen des Donners in der Ferne und das zeitweilige Hüsteln des andern Passagieres, der, sobald er sich von dem Struppigen nicht bemerkt glaubte, zwischen seinen zitternden Knieen die Hände rang.

Da zog der in der finstern Ecke Sitzende die beiden Beine auf den Sitz, lehnte den Rücken an die unterste, die schmale Wand des Wagens, schob den Hut vor's Gesicht, als fürchtete er, daß ihn das einzige trübe, mit dem Erlöschen kämpfende Flämmchen über dem Stückchen Spiegelglase blenden möchte und affectirte nun alsbald das regelmäßige Schnarchen eines sorglosen Schläfers.

Der andere, welcher zunächst unter dem Lämpchen saß, mit Hülfe dessen wir Professor Beißerle's Züge nicht ohne Mühe und nicht auf den ersten Blick erkennen müssen, der andere ließ nun die Maske des Schlummers fallen, und rückte ein kaum merkliches Ende dem Liegenden näher. Seine Nasenflügel zwinkerten, während er den Habitus des Reisegefährten musterte. Ein Paar ganz neuer, grober, schwergenagelter Schuhe ließen auf einen Mann schließen, der viel und rüstig zu Fuß gieng – in dieser Gegend? was hatte da einer zu gehen? dachte Beißerle, und wenn er so 89 ein rüstiger Fußgänger war, was fuhr er mit dem langsamen Blitz? und warum fuhr er gerade heute, da Professor Beißerle sich nach Katharinenreuth transportiren zu lassen für gut befunden. Des Alten graue und weiße Haare schienen sich ein wenig zu sträuben.

Ueber diesen bedeutungsvollen Schuhen trug der muthmaßlich Verdächtige eine alte zerflickte Uniformshose und eine ditto Jacke von dunkelblauem Tuch mit schmutzigen rothen Litzen besetzt; – aber die meisten Straßenräuber, sagte sich der angstgequälte Beißerle, sind gediente Soldaten, daher die Keckheit und der sichere Blick und die rasche Hand. Indem er die unpassende Zusammenstellung einer, wenn auch noch so verkommenen Uniform mit einem derartig verwilderten Bart und langem Haar und einem löcherigen Hut mit einer rothen Hahnenfeder bis in ihre letzten Consequenzen fühlte, galt ihm kein Zweifel mehr, daß er einen ausgemachten Gebirgs- und Straßenräuber zu Fuß vor sich liegen habe. Und als der Schnarchende vollends eine kleine Wendung machte und also den breiten Holzknauf eines Schnappmessers sehen ließ, welches über dem rechten Schenkel in der Hose saß, da fuhr Beißerle schaudernd zurück, soweit es die Enge des Raumes nur gestattete.

Der Wagen stieß zwei-, dreimal hintereinander, daß Beißerle meinte, die furchtsame Seele fahre ihm aus dem schlottrigen Leibe, und dem schlafenden Rothkopf der Hut 90 herabfiel. Die beiden Mannsbilder sahen sich lange fragend in die unzuverlässigen Augen; draußen polterte das näher kommende Donnerwetter und der Wind pfiff und rauschte und raschelte durch die schwankenden triefenden Waldbäume. Da kratzte sich der Liegende anhaltend und empfindlich unter dem rothen Haar und sang dazu nach gemüthlicher Handwerksburschenmelodie

                »Der Mond scheint hell
Hurrah die Todten reiten schnell.
Graut Liebchen auch vor Todten?«

Beißerle schwitzte den kalten Schweiß der Angst. Da saß der Stämmige mit Einem Ruck aufrecht ihm gegenüber und fragte ihn grinsenden Angesichts:

»Um Vergebung, mein Herr, können Sie keinen Bedienten brauchen?«

Beißerle lächelte sein unschuldigstes Lächeln und stotterte: »Na-nane-nenein, ich bin ein blutarmer quiescirter Studienlehrer mit zweihundert Gulden Pension ohne Aufbesserung und Zulage, der sich seine Stiefel selber putzt und gar nicht weiß, wie ein Bedienter aussieht.«

»So, so,« sagte der Andere, indem er sich bedenklich kratzend den alten Hut mit der Hahnenfeder in's Gesicht schob. »Gymnasiallehrer sind Sie, mhm!«

Das ist dem Räuber nicht genug! er sieht, daß er sich verrechnet, und brütet dafür Rache an Leib und Leben! dachte der geängstete Geizhals und um den Spitzbuben 91 möglicherweise durch Leutseligkeit und Liebenswürdigkeit und Erregung seines Mitleids zu besänftigen, sagte er:

»Ja Gymnasiallehrer in Pension – und was sind Sie, wenn ich fragen darf?«

»Ich?« entgegnete der andere – »Literat!«

»Schriftsteller!« wiederholte Beißerle staunend und fuhr verbindlichst lächelnd weiter, »ach das ist schön von Ihnen und in welchem Fache führen Sie die Feder? Sind sie Jurist, Philologe, Naturwissenschafter –«

»Freischärler,« unterbrach ihn der andere und seufzte und Beißerle ward wirklich übel.

»Vor der Revolution,« ergänzte sich jener, »war ich ein einfacher intelligenter Schustergeselle, da wurd' ich wegen einiger mißverständlich ausgelegter Errungenschaften so oft abgewandelt, daß ich nachgerade die Heimath dick hatte. So gieng ich nach Holstein, trat in ein Freicorps, und machte den Krieg gegen die Dänen mit. In meinem Bataillon waren sehr viele Leute, die sich durch Berichte vom Kriegsschauplatz bei dieser und jener Zeitung ein Stück Geld verdienten. Da kam ich in den Mußestunden, deren ich viele hatte auf die Idee, gleichfalls den Literaten in's Handwerk zu pfuschen. Und warum nicht? Ich sag' Ihnen, ich bin noch lange nicht der letzte. Aber, mein Herrjeses, es sah auch nicht viel dabei heraus und nun hat man die Freicorps aufgelöst, dieweil sie dem regulären Militär an Ruhm 92 und Freigeist weit überlegen waren. Bombenelement, ich sag Ihnen, da bei Dings –« Aber er hielt plötzlich inne, griff mit der linken Hand in den Hosensack, zog ihn heraus und da nichts als etliche alte Brodkrümchen davon abfielen, seufzte er: »Ach Du mein Elend! undankbares Vaterland!«

»Sind Sie in Katharinenreuth bekannt?« fuhr er nach kurzer Pause fort und fieng wieder an mit dem Knotenstock zu klopfen.

»Nein – ja,« antwortete Beißerle unentschlossen, »ich will – ich habe – ja ich habe dort vor vielen Jahren nach einer Krankheit, die mich arg mitgenommen, etliche Wochen zu meiner Erholung zugebracht, wissen Sie, weil man dort so billig lebt und ich, wie ich Ihnen mir schon zu sagen erlaubt, gesagt zu haben mich erinnere, ein blutarmer armer Mensch bin – damals hab' ich – das heißt nunmehr will ich – ach Gott, wissen Sie, ich habe auf dem Landgericht zu thun.«

»Herr,« rief jener mit jähen Worten und indem er sich so nahe an den Professor heransetzte, daß er mit den Kniescheiben dessen Schenkel umschloß, »Sie sind doch nicht von der Polizei?«

»Nein!« schrie Beißerle zappelnd vor Angst, »ich hasse, ich verabscheue die Polizei, sie ist nur dazu da, um freimüthigen Leuten den anständigen Broderwerb zu schmälern, vergeßliche Reisende mit Paß und 93 Legitimationsplackereien zu nergeln und armen Teufeln, wie wir zwei Beide sind, das letzte Fell über die Ohren zu ziehen.«

»Ach, was reden Sie mir von Armuth?« lachte der mit der rothen bitter vor sich hin.

»Ich bin arm!« betheuerte hastig der Professor und die Augen drängten sich ihm aus den Höhlen.

»Sie wissen nicht, was Sie reden!«

»Doch!« versetzte weinerlich der Professor.

»Nein!« schrie der Stämmige und stampfte mit dem Stock und der feige Alte winselte:

»Es ist möglich, daß ich mich täusche – wenn Sie befehlen.«

Nun gieng aber auch der Andere aus dem dumpfen Tone mehr und mehr in den weinerlichen über:

»Sie haben gefrühstückt, Sie haben zu Mittag gespeist, zu Abend gegessen, heute, gestern, vorgestern –«

»Ich esse nie zu Abend!« unterbrach ihn, die Hand auf der Brust, der Alte.

»Einerlei,« greinte jener, »dann haben Sie eben keinen Hunger; aber ich, ich habe Hunger, sehr viel Hunger und nichts zu essen und ich darf mich nicht sehen lassen, um Arbeit zu suchen, denn die dummen Leute sind hinter mir her wie närrisch und wenn mich der Gensdarm oder Gerichtsdiener greift, hab' ich keinen Paß und kein Reisegeld und keine Zehrung auf den 94 Weg und werde eingehenkt und geschubbt. Ach, mein guter Herr,« fuhr er sänftiglich fort, indem er den Hut vom Kopf nahm und, das Haupt bittweise zu einer Seite geneigt, eine große hohle Hand vor Beißerle's Brust hielt. »Ach, schenken Sie mir ein kleines Almosen, nur ein paar Groschen auf eine Maaß Bier und Brod und warme Suppe, Gott wird's Ihnen vergelten; lassen Sie's einen Vierundzwanziger, lassen Sie's einen lumpigen halben Gulden sein, Sie brauchen sich deßhalb nicht wehe zu thun, Sie leben nach wie vor und denken, Sie hätten den halben Gulden verloren oder das Fahrgeld auf dem Blitz wäre um dreißig Kreuzer theurer; ich aber hab' einen Sonntag wie lang keinen mehr und warm zu essen und will Gottes Segen auf ihren weißen Kopf beten. Nicht wahr?«

Der zudringliche Bettler war mit seinem Winseln dem Alten immer näher an den Leib gerückt. Der Professor stemmte die Hände gegen den Sitz und wand sich hin und her. »Ich habe nichts bei mir, nichts, gar nichts!« rief er, »lassen Sie mich, lassen Sie mich, ich will aussteigen.«

Damit erhob er sich vor dem andern und wollte nach dem Wagenschlag. Der Freicorpsmann aber bat mit erhobenen Händen um Ruhe, dann faßte er den Widerstrebenden an den Rockzipfeln und rief: »Ich bitte Sie um Gottes Willen, thun Sie mir nur das 95 nicht an; ich will ja still sein, ich will kein Almosen mehr von Ihnen haben, ich will selber aussteigen, nur bleiben Sie wo Sie sind und wecken Sie mir den Kutscher nicht auf. Ich bin seiner Schwester Kind, darum hatte er Erbarmen mit mir. Wissen Sie, wenn er daheim bleibt, läßt er mich im Stall bei den Pferden schlafen und, wenn er ausfährt, setz' ich mich des Nachts zu ihm auf den Bock, denn ich wüßt' ja nicht, wo ich bleiben sollt' und auf den Blitz hat die Polizei keine Acht, dessen ist man sicher. Heut', weil's gar so gotteslästerlich regnete und Sie ein guter, stiller, schläfriger Herr zu sein scheinen, heut' hat er mir erlaubt, mich hier herein zu legen. Wenn Sie nun Lärm machen, so ist's auch mit diesem meinem Nachtquartier dahin und am Ende, wenn Sie gar aussteigen und der arme Kerl ohne seinen Passagier ankommt, so jagt ihn sein Herr aus dem Dienst. Ich bitte Sie um Gottes Willen –«

»Ich mache keinen Lärm,« keuchte Beißerle, von Hüsteln unterbrochen, »nur aussteigen will ich, aussteigen und zu Fuß gehen!«

»Bei diesem Hundewetter? es ist so rabenhagelfinster, daß Sie beim vierten Schritt mit dem Hirnkasten an einen Baum rennen und in der ersten besten Regenlache übernachten müssen,« remonstrirte der mit der Hahnenfeder und versuchte den Schulmann an den Rockzipfeln auf den Sitz niederzuhalten.

96 Beißerle stemmte sich mit Händen und Füßen in die Höhe, indem er immer fort wiederholte: »Hinaus will ich, zu Fuß gehen, ich habe keinen überflüssigen halben Gulden.«

Der eine stieß, der andere zog, der Wagen schwankte, das Flämmchen hüpfte auf dem halbvertrockneten Docht, der Rothhaarige winselte, die Räder ächzten, da knack! barst an Beißerle's Rock die Nath, beide Männer fielen auf ihren Sitz zurück und das Flämmchen erlosch nach einem letzten Aufflackern.

Mit ihm war auch der letzte Rest von gesundem Besinnungsvermögen in der engen Seele des alten Geizhalses entschwunden und, von kaltem Schweiß übergossen, tastete er sich auf allen Vieren an den Ausgang des engen in Finsterniß wackelnden Gefährts.

Der andere aber schrie ihm in Besorgniß zornig zu: »Herr, Sie dürfen nicht hinaus, ich lasse Sie nicht!« und dann packte er den Professor fest am Kragen, während Beide durch das heftige Holpern des Wagens hin- und hergeworfen wurden.

»Ich bitte Sie um Gottes Willen!« erinnerte der heiser gewordene Beißerle, »ich kann Ihnen nichts geben, ich muß zu Fuß gehen, lassen Sie mich hinaus!«

»Sie bleiben!«

»Ach, ich muß hinaus, ich muß auf's Landgericht, ich will, ich muß dort ein Testament widerrufen, 97 welches ich vor Jahren nach meiner Krankheit dorten zu Gerichtshänden deponirt habe; ich muß, ich will, ich werde ein neues Testament machen, ich, ja ich schwöre es Ihnen hoch und theuer, ich werde Sie zum Erben einsetzen, ja Sie werd' ich zum Erben einsetzen, aber unter der Bedingung, daß Sie mich zum Wagen hinauslassen und das sogleich, sogleich!«

»Hol' der Teufel Ihr Testament und Ihre Erbschaft, acht Groschen wollt' ich von Ihnen, behalten Sie die auch für sich, ja ich will Ihnen noch die zwei Kreuzer geben, die ich in diesem Säcklein habe, alter Narr, der Sie sind, aber hierinnen bleiben Sie!«

»Nein!«

»Ja!«

»Zu Hülfe, zu Hülfe!«

»Wollen Sie Ihr einfältiges Maul halten?«

»Ku-Ku-Ku-Kutscher! haaalten!«

»Bleiben Sie sitzen!«

»Nein, hi-hina-naus mu-uß ich!«

Da knack, ruck, rack! knackte, schwankte, kollerte dumpfaufknallend der Blitz linksab über die Straße und über einen Haufen Chausseesteine in den hochaufspritzenden Regenschlamm des Grabens.

Die beiden Räder der linken Seite waren abgegangen, die linke Wand und ein Theil des Daches in Splitter und Fetzen, der Kutscherbock in die Wiese 98 geschnellt, die Deichselstange mitten entzweigebrochen. Von den Pferden lag das eine an der nassen Erde, die Beine gleichmäßig ausstreckend, ein wenig an den Knieen verschunden, ohne sich sonst jedoch erheblich beschädigt zu haben. Das andere stand ruhig und gelassen über seinen geborstenen Strängen, schüttelte die zitternden Ohren und schlug gemüthlich und gelassen, als wäre nichts geschehen, mit kargem Schweiflein um die regentriefenden Hüftknochen.

Das erste Tagesahnen dämmerte durch den rieselnden Wald, ein starker Geruch gieng von den feuchten Bäumen und herbe Kühle schauerte leise durch alles Empfinden.

Des Stallknechts rothhaariger Schwestersohn schnitt ein trübseliges Gesicht, er streckte die Hände aus und befühlte sich den Kopf und dann die Beine, ohne jedoch einen Versuch zu machen, sich aus seiner kritischen Lage zu erheben. Er betastete seinen Leib an allen Seiten, wo er Schmerzen fühlte, es war Alles geprellt, doch nichts gebrochen; ein leises Surren gieng ihm noch durch den Kopf, als hätte er das Heimchen im Ohr. Dann rieb er sich die Augen und sah um sich. Ein scharfkantiger mächtiger Splitterfetzen des Deckenholzes schwankte so nahe über seinem Haupte, daß er ihm ab und zu das sträubende Haar berührte; in seiner rechten Hand hielt er ein abgerissen Trumm des breiten 99 Wandriemens, neben seiner linken lagen die tausend Scherben eines Wagenfensters. Scheu zog er die linke Hand zurück und alsbald drang der feuchte graue Schlamm in raschem Fluß durch die Lücke; eine tiefe Pfütze füllte schleunigst die untere Wagenecke und das alte schmierige Lämpchen schwamm sofort vergnüglich darin hin und her.

Der stämmige Mann suchte sich aus der Nässe aufzuraffen und sah über sich und um sich, auf daß er nirgends mit dem Schädel anrennte, wenn er durch ein Fenster stiege, da der hintere Wagentheil mit der Thüre am tiefsten in den Graben und den Koth gerannt war.

Da sah er auch in die obere Wagenecke und eiskalter Schauer griff ihm ans Herz und fuhr ihm unter die Haare. Im obersten Winkel mit dem Gesäß in die Bank eingebrochen, zusammengeknickt wie ein Taschenmesser, die Füße vornüberhängend und mit den schlaff ausgestreckten Händen die Stiefel rührend, den Schädel im Nacken, das Kinn gen Himmel, hockte der Präceptor regungslos, athemlos, leblos in den morschen Fetzen des zerstürzten Gerümpels da. Durch die zersprungene Glasscheibe neben ihm drang der kühle Frühwind und spielte leise mit dem kargen greisen Haar des Todten. Der erste Schimmer des Morgengrauens fiel gerade auf die starren Züge.

»Balthes, Balthes! lebst noch?« rief der Pferdeknecht, welcher sich mittlerweile vom feuchten Rasen 100 aufgemacht und über den Steinhaufen an den Wagen geklettert war. Dabei klopfte er an eine der nach oben gekehrten Scheiben, daß sie in Stücke sprang und er das Schiebfenster, behutsam durch die Scherben langend, öffnen und niederlassen konnte.

»Ich lebe noch und als ein Ganzer,« versetzte der Angeredete, der sich duckte und den Arm vor die Augen drückte, auf daß ihn die fallenden Glasscherben nicht schädigten. Alsdann kroch er, hob er sich aus dem Fensterschub in's Freie. Er athmete auf, schüttelte die schlammtriefenden Kleider und sprach indem er dem verdutzten Kutscher ins kreideweise Angesicht schaute:

»Ich bin's, aber der andere Passagier hat an's Umschmeißen glauben müssen. Der runzlige Herr ist maustodt und kann sich nicht mehr rühren. Ich weiß nicht, hat er sich im Fallen das Genick gebrochen oder hat ihm der jähe Schreck den Garaus gemacht mit einem Herzschlag, den der alte Adam nicht mehr vertragen konnte. Schau nur, wie er da drinnen liegt!«

Die beiden Kerle guckten durch die oberste Fensterscheibe und sahen so gerade dem todten Beißerle in's Antlitz. Die glanzlosen Augen waren weit aufgerissen und glotzten abscheulich aus den knöcherigen Höhlen, der Mund schien lippenlos und zwischen den halbgeöffneten Zähnen stach die Zungenspitze hervor.

»Pfui Tausend!« sagte der Fuhrknecht und spuckte 101 zur Erde, »wär's nicht sündhaft, so sagt' ich, dem hat der Leibhaftige den Hals abgebissen.«

»Du bist ein Esel!« fuhr der Rothhaarige heraus und indem er dem Bruder seiner Mutter die Hand auf die Achsel legte und mit der andern nach Gewohnheit unter den eigenen Hut griff, sagte er weiter: »Der ist versorgt wo er auch sein mag. Aber ich armer Teufel? was wird nun aus mir werden? Nun wir wollen sehen. Bei Dir ist nun meines Bleibens keinesfalls weiter, denn Du wirst untersucht vom Hemde auf dem Leibe bis unter's Stroh über Deinem Stallboden. Der Blitz ist auch dahin. Und griffen Sie mich, so inquirirten sie mir den todten Mann da drinnen auf den Hals und mich wegen mangelnden Beweises gnädigst auf zwanzig Jahr in's Zuchthaus, blos weil ich keinen Paß und keine Reisezehrung im Sack habe. Davor dank' ich schönstens! Also ist das Gescheidteste, Du nimmst Deine Gäule und reitest damit direkt auf's Landgericht, dort machst Du die Anzeige haarklein, wie Alles gekommen und gegangen ist, mit der einzigen Ausnahme, daß Du meiner Person mit keiner Silbe Erwähnung thust. Verstanden, Ambros! denn das könnte Dich in unnützen und ungerechten Verdacht bringen und mich in verfrühte Bekanntschaft mit der Polizei. Also denk' ich, wir geben uns jetzt die Händ' auf Langnichtwiedersehen; ich werd' mich schon weiterbringen und Dir vergelt's 102 Gott, was Du an mir armen Kerl Gutes gethan hast. Es war nicht viel, aber fast mehr als Dir möglich gewesen. Behüt' Dich der Himmel!«

»So wird's am Gescheidtesten sein, wie Du da sagst,« meinte der Kutscher, indem er die Schlafmütze über's rechte Ohr hinaufschob und dann mit den Achseln zuckte. »Was können Sie mir anhaben? Nichts, gar nichts! umschmeißen das kann Jeder.«

»Nicht einmal Jeder!« lachte Balthasar, aber er knöpfte sich den Rock dabei bis an den Hals zu, denn der feuchte Wind fröstelte barsch ihn an.

»Nun ja!« beschloß Ambros das Gespräch, »behüt' Dich Gott, Balthes, und laß Dir's halt nicht gar zu schlecht gehen. Adies!«

Jeder gieng seiner Wege. Der Roßknecht griff sich noch die Pfeife aus der Tasche des Kutscherbocks, dann half er dem einen Pferd vom Boden auf, sprang dem andern in den Hals und seit langen Jahren hatten die beiden Mähren nicht mehr so rasch die Hufe hinter sich geworfen als jetzo, da sie zum ersten Mal blitzledig dem Heimathdorfe zutrollten.

Balthes sah über die Achsel zurück; die Pferde waren nicht mehr zu sehen, man hörte ihren Trab schon fern und ferner. Abermals fuhr sich der Zögernde mit den Nägeln in's Haar und sprach zu sich selber: »Ich will ihm doch die Augen zudrücken, dem Alten.« 103 Er gieng zu dem zerfallenen Blitz zurück und beugte sich sorgsam über das geöffnete Fenster. Es war ziemlich lichter Morgen geworden und die Regenwolken vertheilten sich. Als Balthasar dem Todten in's Gesicht sah, schüttelte es ihn zwar ein wenig, aber er verwand es bald, griff sich mit ausgestreckter Hand in den Wagen hinab und schloß Beißerle die Lider.

»Schau Alter,« sagte er, »wer weiß, hättest Du mir die Kreuzer geschenkt, um die ich Dich gebeten, oder hättest Du nur ein Bißchen Vernunft annehmen wollen in Deiner hirnwüthigen Angst, der Blitz stünde zur Stunde noch auf vier Rädern oder aber wir wären vielleicht anders gefallen, ich zu unterst mit abgeknicktem Hals und Du drüberher, ohne Dir ein Leid zu thun. – Nun ist's gekommen, wie's gekommen ist. Der Friede sei mit Dir, Du armer Kerl!«

Balthasar wollte sich abwenden, allein es ließ ihn noch nicht davon, er mußte den Alten noch einmal ansehen und sagte:

»Schau, jetzt könnt' ich Dir Alles nehmen, was Du hast in Deinem Seckel und es wird wohl mehr sein als ein halber Gulden und ich bin ein elender Teufel, der nicht weiß, wo er heute Mittag einen Bissen zu kauen kriegen soll, aber ich bin kein Dieb, wie Du geglaubt hast, und will auch dem Todten nicht wegnehmen, was mir der Lebendige nicht hat geben wollen.«

104 »Am Ende bin ich ein Narr! Was wär's auch, ein Paar Groschen oder Gulden weniger, er hat doch nichts mehr davon noch darum.«

Abermals langte die Hand durch das Wagenfenster und rührte bereits das Zeug an Beißerle's Rock.

»Fürchtest du dich, Balthes? – Dummheit! kommst du nicht aus dem Kriege? wär's der erste Leichnam in freier Luft, dem du nach dem Ledertäschlein griffest?«

»Aber nein und abermals nein, du willst kein Dieb sein, ob dich der Teufel reitet noch so sehr! Du hast da eine schöne goldene Uhr und Thaler im Sack, wie ich sehe, aber Du hast vielleicht daheim ein gebrechlich Weib und Kinder, die sich noch nicht ihres Leibes nähren können. Du sollst Alles behalten und ruhig schlafen. Amen!«

Es geschieht manchmal, daß man glaubt, ein Todter, dem man lange in's Gesicht gesehen, habe jetzt leise, kaum merklich einen Zug, ein Fältchen um Mund oder Augen bewegt; jetzt werde er's nochmals thun, und nun die Stirn und dann die Hand regen, Lebenszeichen von sich geben.

So kam auch dem aufgeregten Balthasar plötzlich der Einfall: »Wie, wenn Du nicht todt wärest, wenn Dich der Schreck nur betäubt, der Schlag nicht bis in's Herz gerührt hätte?« Er riß sich ein Haar aus 105 und hielt es dem Leichnam vor den Mund; aber es rührte sich nicht im Geringsten. Er fühlte mit der weiter ausgereckten Hand nach dem Herzen – der Mann war eiskalt und regungslos wie ein Stein.

Da, als er mit der Hand aus der Weste Beißerle's zurückfuhr, streifte ihm ein zusammengefalteter Bogen Papier die Hand.

»Neugier ist kein Diebstahl,« sagte Balthasar selbstzufrieden, »ich möchte doch wissen, was Du mit Deinem Testament hast schaffen wollen, daß Du –«

Das Blatt Papier stack fest in einem alten Notizbuch, dessen Deckel von grüner Pappe mit einem Bindfaden zugebunden waren. Balthes wickelte das Büchelchen auf, entfaltete das Papier und hub an zu lesen: »Codizill zu dem Vermächtniß, welches ich beim kgl. Landgericht Katharinenreuth versiegelt zu Gerichtshanden hinterlassen habe. Nummer 13742 am 12. . . .«

»– O Du verlogener Spitzbub'!« unterbrach sich Balthes, dessen Augen schneller gelesen hatten, als seine Lippen. Aber er schlug sich sofort mit vier Fingern auf den Mund und sagte: »Gott verzeih' mir's, de mortuis nil nisi bene! – Aber wissen möcht' ich doch, warum denn das Alles und wie so und zu was für Ende und – dann glaub' ich jedenfalls . . .«

Aber im selben Augenblick war es dem Lesenden, als hörte er Geräusch von kommenden Leuten.

106 Er versuchte Büchlein und Papier zusammenzustecken und zu binden und an dieselbe Stelle zu schieben wie vordem. Aber Stimmen und Tritte kamen immer näher. Das ist die Polizei, die den Augenschein vornehmen will, – raunte ihm die Angst und die Vorsicht in die Ohren – und wenn sie das Geschreibsel aufgebunden und dem Alten nur so zugeschoben finden, argwöhnen sie Diebstahl, Raub, Raubmord, suchen nach Schuldigen, Mitschuldigen. Nimm den Trödel rasch in Deinen Rock und Deine Beine auf den Rücken. Niemand sucht darnach und Du findest wohl, wem Du's heimzugeben hast, bei gelegener Zeit!

Er steckte eiligst Beißerle's Notizheft und Codizill in die Brusttasche seiner Jacke und knöpfte sie sorgfältig darüber zu, während er raschen Schrittes hindann eilte.

Bald war er zwischen Bäumen und Sträuchern verschwunden und der Regen, der noch einmal mit ganzer Heftigkeit sich über dem Wald ausschüttete, hatte nach wenigen Minuten schon die Spur seiner Sohlen verwischt. 107

 


 


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