Hans Hopfen
Arge Sitten
Hans Hopfen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VII.

Ueber Veit war eine namenlose Unruhe und Unzufriedenheit gekommen. Er saß am frühen Morgen, ehe noch Beißerle erwacht war, vor den Büchern. Aber die Buchstaben sahen ihn an wie sinnlose Zeichen, während sich seine losgebundene Phantasie nicht wieder einfangen lassen wollte und Bilder und Empfindungen vor seinen Augen aufwirbelte, die keinen gelassen haftenden Durchblick nach erwünschter Geistesthätigkeit gestatteten, sondern die Seele kopfüber in ihre wilde Jagd mit fortrissen.

»Was soll denn aus mir werden?« tönte es dazwischen immer wieder. Er war zu den verlassenen Studien zurückgekehrt aus innerem Bedürfniß, in der drückenden Bewußtheit einer halbvollendeten Bildung. Aber was dann? Wollte er, der reifere, durch des Lebens Wind und Wetter geprüfte, das was der Knabe als höchstes Ziel des irdischen Strebens mit gefalteten Händen, mit heiligen Schauern ersehnt, noch heute, wollte er wirklich danach streben, Pfarrer auf seinem 151 Heimathdorfe zu werden? Konnte er das noch mit redlichem Gewissen? Und wenn das nicht? Seine selbsterworbenen Mittel waren gering. Ein Paar Jährchen höchstens konnten bei strenger Sparsamkeit und stoischen Gepflogenheiten ohne ängstlichen Broderwerb verstudirt werden. Er war nicht mehr jung. Langsam zum Gymnasiallehrer sich emporzuarbeiten, das wäre schön; aber des irdischen Gewinnes wegen hätte er dann besser gethan, Steuermann zu bleiben. Und doch mußte er sich sagen, daß er im Kern des Wesens eine Landratte geblieben. Warum also nicht Theologe werden? Er war katholisch und das Cölibat fiel ihm so schwer aufs Herz, daß er aufseufzen mußte.

Warum dachte er heute an das Cölibat? Es hatte ihn doch sonst nie genirt. Da war die Straße wieder vor seinem Geiste da, die nächtliche, in der die Gaslampen sich in langen Kothlachen bespiegelten; und wenn er Fanny's Gesicht sehen wollte, so brauchte er nur die Augen zu schließen, da war's, die rothen Bäckchen, das goldige Haar, vom schwarzen Sammet umrahmt. Und ach die Augen!

Unwillig sprang er vom Stuhl empor und warf die erste beste Schartecke, so unschuldig gerade sie an seinem Zustande war, ingrimmig an die Wand, daß der Mörtel abfiel und Beißerle in der anderen Stube 152 von dem Schall erwachte und mit heiserem Husten, Räuspern und Schnäuzen die Sonne begrüßte.

Solch eine Stimmung hatte Veit noch nie im Leben erfahren. Ihm war, als sollte er aus der Haut und mit dem Kopf gegen die Wand springen. Noch wußte er nicht, welch seltsamer Dämon sich in seinem Herzen zu Gaste geladen; noch nannte er Zerstreuung, was doch die Liebe war; er schalt sich, weil er sich selber zu bekennen, zu schüchtern vor sich selber war. Hätte einer ihm genannt, was ihm fehlte, er wäre blutroth geworden wie ein lügendes Kind. Fanny berührten selbst seine Gedanken in ihrem wilden Kreisel nicht und doch war sie schon der Mittelpunkt seiner Gedanken.

Das kommt davon, wenn man sich in anderer Leute Angelegenheiten mischt. »Wär' ich daheim geblieben und hätte ordentlich griechisch gelesen, mir wäre das Alles nimmerdar widerfahren!« sagte er bitterlich zu sich selber, als wenn ihm Fanny nicht zu jeder Tagesstunde auf jeder Treppe der Tuberkelburg hätte begegnen können. Und immer tiefer sich in Selbsttäuschungen verlierend, rief er aus: »Es wird ja bald vorübergehn!«

»Sind Sie schon fleißig?« rief jetzt Beißerle aus seiner Stube herüber.

»Guten Morgen, Herr Professor!« gab Veit zur 153 Antwort und schickte sich an, bei seinem Nachbar einzutreten, um ihm, dem Weisen und Geprüften, das Bündel seiner Sorgen vor die Füße zu legen.

Aber der erste Blick in diese unheimliche, invalide, spinnewebenüberhangene Altejunggesellenhöhle genügte, um Veit's voreiliges Vertrauen von der Schwelle seines Mundes in des Herzens letzten Winkel zurückzuscheuchen. Gab es eine traurigere, entschiedenere, bestimmtere Antwort auf die Frage, ob es gut, daß der Mensch allein sei?

Beißerle war eben im Begriff, mit dem sprichwörtlichen linken Fuß aus dem Bette zu steigen; er ließ denselben aber noch unentschieden neben der Lade schlenkern und schien mit melancholischem Behagen eines Scheidenden die letzte Bettwärme zu genießen, die letzten Mohnkörner aus den gläsernen Augen fallen zu lassen. Er preßte den Federsack vor den Bauch, hüstelte und ließ die blassen Blicke langsam über die kahlen Wände, über den verstaubten Hausrath gehen und verzog den Mund, als wollt' er sagen: wieder ein Tag und wieder und wieder das abgeschmackte Tagwerk des immer Wiederkäuens!

Noch war kein Luftzug des frischen Morgens in das Gemisch vom Geruche modernder Scharteken, unbehelligt sich häufenden Staubes und professoralischer Leibesausdünstung gedrungen. Es versagte Veit den 154 Athem, ihm war als neigten sich die Wände und schütteten allen Dust und Mottenfraß aus den morschen Bücherregalen auf ihn herab. Er hatte nur einen Gedanken: Hinaus!

»Ich bin,« sagte er, »ich bin nach jahrelanger Beschäftigung in freier scharfer Luft, das stundenlange Stillsitzen im verschlossenen Zimmer noch nicht gewöhnt. Man kann seine Lebensweise nicht übers Knie abbrechen. Ich habe ordentlich Heimweh nach einem Tag unter freiem Himmel. Wenn Sie nichts dagegen hätten, Herr Professor, so möcht ich heute blauen Montag machen und den schönen Wintermorgen zu einem raschen Gang über Feld benützen.«

»Schon heute!« erwiederte heiser der Professor, indem er seine Finger zog, daß die Gelenke knackten. »Das kommt früh! zu früh! Ueberlegen Sie sich's noch einmal, ob Sie nicht besser ganz von der heiligen Gelehrsamkeit wegbleiben sollten.«

»Ich will, ich muß mein Abiturientenexamen machen. Man gilt sonst nicht für voll in der geistigen Welt! Und ich werd' es durchzusetzen wissen, was ich muß und will!« war Veit's Antwort.

»Dann rath' ich Ihnen,« entgegnete der Alte, der nun in seine Schlappschuhe gerutscht war und die Zipfel seines fadenscheinigen Cattunschlafrockes mit übereinander gekreuzten Händen über dem Bauch 155 zusammenhielt – »Dann rath' ich Ihnen aufs Dringendste, die langen Abende nicht in Weinspelunken zu verlungern. Ich seh' es Ihnen an Mund und Augen an, was Ihnen fehlt. Bapperlabap, Heimweh! Uebel ist Ihnen, Sie haben einen Katzenjammer und sehnen sich weit weniger nach frischer Morgenluft, als nach einem sauern Häring. Plenus venter non studet libenter! Alte Geschichte!«

»Sie mögen Recht haben!« versetzte Veit, der vor Allem fortzukommen trachtete und seinen Urlaub nahm, den Beißerle mit verdrossenem Hüsteln gab.

Veit lief in Eile die steile Straße hinab und schaute sich nicht um, bis er zum Thore hinaus war und das freie Feld vor sich hatte. Da stand er still und sah die weithin überschneiten Flächen mit Millionen leuchtenden Pünktchen in der aufgehenden Sonne glitzern, daß ihm die Augen übergiengen. Die breite Landstraße hatte das gestrige Thauwetter schwarzbraun gefärbt, aber da es die Nacht über doch ein wenig gefroren, hatte die Feuchtigkeit sie meist verglast und knisterten die dünnen Frostscheiben, welche des Wanderers Fuß zertrat, wie leises Kichern unter seinen Sohlen. »Wohin, wohin?« rief es in seinem Innern und er seufzte hoch auf, blieb wieder stehen und sah dem feinen Rauche nach, zu dem die Kälte seines Mundes Hauch verdichtete.

Der Rauch flog südwärts, wie der Wind ihn zog. 156 Da hinab lag Veit's Heimathsdorf mit der Gänseweide und dem Schweineteich und dem besten der Menschen.

»Wie lange hab' ich ihn nicht wieder gesehn!« rief die Seele des Unschlüssigen, der nun auf einmal sich verwandelte. Er wußte, wohin ihn jetzt seine Füße tragen sollten. Er eilte fliegenden Schrittes an den Feldern dahin, an Dörfern vorüber, den Nadelwald hindurch. Mitten im Walde, jenseits des ersten Meilensteines kam ein Brauwagen rasselnd des Weges dahergefahren, den rüstigen Fußgänger überholend. Der rief den Fuhrmann an, welcher flugs die starken Pferde zum Stehen brachte und gegen einen Groschen Trinkgeld und eine Pfeife Tabak den Landsmann neben sich sitzen hieß. –

Noch war es nicht Mittagszeit, da gieng Veit bereits über die Brücke unter den langen Pappeln und sah vom Geländer hinab auf die schlammige Decke des alten Teichs, auf dem lange brüchige Eisschollen sich kaum merklich an einander bewegten, während grünliches Gewässer zwischen deren Fugen rann. Ein Rabe kam und setzte sich ans Ufer, schlug mit den Flügeln, als wollt' er sich Wärme geben, und flog laut krächzend wieder davon über die Dächer des Dörfchens dem Walde zu.

Veit trocknete die Stirne voll Schweiß und blickte dem Vogel nach. Er lächelte und wußte nicht warum. 157 Er sah an den kahlen Bäumen hinauf, als suchte er ein altbefreundetes Gesicht an ihnen. Er hielt öfters im Gehen inne, schaute sich um und schaute zur Seite. Er war neugierig, wer ihm wohl zuerst begegnen möchte und ob es ein Bekannter sein würde. Aber es begegnete ihm Niemand. Und ohne Gruß und Frage gelangte er zu dem kleinen Gottesacker hinter der Kirche und kniete ungesehen in den Schnee, der das verwahrloste Grab seiner armen Eltern mit gleicher weißer Decke überzogen wie die Hügel wohlhabender Leute, deren Nachkommen am jüngsten Allerseelentag hier Blumen und Kränze aufgehängt hatten.

Und nun auf und hinüber nach dem Pfarrhause! Es war alles noch wie dazumal, und doch so anders, so ganz anders! Wie schlug ihm das Herz! Ob er noch lebt der Wohlthäter seiner Jugend? und wie wird ihn der schwer Enttäuschte aufnehmen? Wie der Vater im Evangelium den verlorenen Sohn – das wußt' er ja, aber war er denn noch am Leben?

Ein Bäuerlein, das ihm über den Weg trat, bejahte dies und setzte ein Gott sei gelobt! hinzu.

Nachdem das Bäuerlein etliche Schritte gegangen, blieb es stehen, rief Veiten nochmals an, und die Pfeife aus dem Munde nehmend und mit derselben nach der Schwelle des Pfarrhauses weisend, sagt' es: »da schaut 158 nur hin! o der Mann!« und mit einem dankbaren Blick gegen Himmel ging es weiter.

Vor dem Pfarrhause fand Veit ein Dutzend Menschen verschiedensten Alters, Männer, Weiber und Kinder. Die einen waren, wie man aus ihren Gesprächen bald erkannte, aus dem Orte selbst, die andern aber von den umliegenden Dörfern herangekommen. Ein kleiner Junge mit gerötheten entzündeten Augen saß furchtsam weinend auf der Schwelle, während eine hochbetagte Greisin seitab alleine stand und zwischen zitternden Fingern einen abgegriffenen Rosenkranz bewegend, mit welken Lippen ein Gebet lallend, frohmüthig nach der Wintersonne emporsah, die heute so klar und freundlich vom Himmel schien.

Veit wagte nicht zu fragen, was die Leute hier wollten oder ob der Pfarrer daheim wäre. Er war so bewegt, daß ihm die Stimme versagt hätte. Was ihn herausgetrieben, daran dacht' er nicht mehr. Die heiligste Freude nur, die Sehnsucht säumig sich scheltender Dankbarkeit und das Bangen uneigennütziger Liebe füllte sein ganzes Herz aus.

Er wußte noch gut Bescheid im Hause, er eilte die Treppe hinauf und über den Gang. Da stand er vor des Pfarrers Thüre mit pochendem Herzen und pochendem Finger. Aber Niemand sagte herein. Es blieb Alles stille, nur das Holz im Ofen hörte man durch 159 die Thüre hindurch, wie es knisterte und sprühte. Veit konnte sich's nicht länger versagen, das lange gemiedene Heiligthum zu betreten.

Es überraschte ihn. Wie eng, wie klein die Stube, die seinen Kindersinn so schauerlich groß gedünkt. Aber auch wie heimlich!

Der gelehrte Hausrath des Pfarrers hatte sich vermehrt und verändert. Die Bücher standen in Schränken; was auf dem Schreibtisch umherlag, waren – wie verwunderte sich Veit – meist medizinische Schriften. Daneben auch wohl ein Feuerbach, ein Stirner, ein Bauer, und aufgeschlagen über den andern Strauß' »christliche Glaubenslehre«.

Veit kannte Werth und Bedeutung dieser Bücher an diesem Ort noch nicht genug, um sich genugsam zu verwundern. Ihm fiel weit mehr das Behagen und die Bequemlichkeit in's Auge, welcher die sonst so ärmliche Umgebung gewichen. Weiße frischgewaschene Vorhänge an den kleinen viereckigen Fenstern, polirte Möbel, ein Fußteppich, freilich ein kleiner, vor dem Schreibtisch, mehr, weit mehr Bücher als weiland. An der Wand hieng ein großes schweres Crucifix von schwarzem Ebenholz, das sich blendend von der blank getünchten Mauer abhob. Es war kein Heiland darauf. Und war auch sonst kein Bildwerk im Zimmer zu sehen. Aber neben dem Schreibzeug stand eine Blume in einem 160 geschliffenen Glase, – eine einzelne Blume mitten im Winter – wie ein räthselhaftes und doch vielsagendes Gedicht.

Auf einem Seitentische fand Vitus Retorten, Kolben und Schalen und wieder einige medizinische und pharmaceutische Schriften. Nicht weit davon in einer Mauernische ein Fläschchen Wein, davon bereits ein Glas genommen sein mochte.

Eine glühende Kohle fiel aus dem Ofen. Aber sie fiel nicht auf den Estrich, sondern auf eine schützende Handschaufel von Weißblech, die davorstand. »Die hat der Pfarrer nicht hergestellt!« mußte Veit sich denken, derweil er die Kohle wieder in den Ofen warf und sich dabei die Finger verbrannte. »Der Pfarrer scheint sorgliche Leute um sich zu haben,« dachte er weiter, »aber die einäugige Afra kann doch nicht mehr leben. Sie war damals schon über die achtzig. Nach ihr sieht's nicht aus hier herum; sie hatte weder hurtige noch reinliche Hände – aber sie war eine gutherzige und gewissenhafte alte Jungfer, die beileibe nicht für Nichtsthun das Gnadenbrod essen wollte, das ihr der Pfarrer so oft antrug. Eine andere neben sich hätte sie aber auch nicht geduldet, so blieb's denn beim Alten, um des lieben Hausfriedens und der guten Gewohnheit willen. Es wurde aber doch zuweilen etwas gemeistert oder doch geseufzt. Aber Vorschläge verfiengen nicht und zu Befehlen kam's nicht. Nur Veit durfte damals der 161 Afra als Küchenjunge, Holzmacher und Wasserträger an die Hand gehen. Wer wohl nach ihm diese Hülfen gegeben? Und jetzt braucht Jungfer Afra wohl über Jahr und Tag schon keine menschliche Hülfe mehr!

Veit schwelgte in Anschaun und Erinnern. Er hätte am liebsten jede Kante, jedes Blatt mit Fingern befühlt. Was ihm am besten gefiel von all den guten Sachen? fragte er sich und die Antwort war: Ei der Lehnstuhl der behaglich tiefe mit grünem Leder überzogene wie die Fußbank davor. Er versagte sich's nicht, sich so recht wohlig hineinzudrücken. Da störte ihn aber etwas im Sitzen, er griff hinter sich und zog ein ungebunden Buch hervor, das der Lesende, als er abbrechen gemußt, wie er's just in Händen gehalten, zwischen Sitz und Lehne festgesteckt hatte.

Es waren Heinrich Heines »neue Gedichte« mit dem »Deutschland ein Wintermärchen«. Veit las die aufgeschlagene Stelle:

»Die Sonne gieng auf bei Paderborn«

hub es an, kopfschüttelnd las er das »Caput« zu Ende und ein »Gott, wie unvorsichtig!« gieng über seine Lippen.

Von der Kirche herüber hörte man nun Geläute. Es war die alte Glocke noch, an deren Strängen Veit so oft über Mannslänge vom Boden auf sich hatte 162 fliegen lassen, wenn er dem Meßner helfen durfte. Er kannte den Ton und er gieng ihm zu Herzen.

»Nun wird der Pfarrer gleich da sein!« Richtig, die Thüre, die in's Innere nach der Wohnung und dann nach dem verdeckten Gange führte, welcher das Pfarrhaus mit der Sakristei verband, öffnete sich schon, aber so ganz geräuschlos ohne Bewegung der Klinke, daß sie angelehnt, nicht geschlossen gewesen sein konnte. Was aber nun in Veit's Gesichtskreis kam, das war nicht die wohlbekannte hagere Gestalt, das war überhaupt kein Pfarrherr in schwarzem Habit, sondern ein kleines, feistes, rundliches Kind mit lachenden Augen und offenem Mund und stampfenden Beinchen. Es mochte etwa anderthalb Jahr alt sein, denn die Gewohnheit des Gehens schien ihm manchmal abhanden zu kommen. So gelangte es halb auf allen Vieren kriechend, halb stolz und stramm auf dicken Füßchen stapfend, zum Lehnstuhl, in welchen der Betrachter zurückgesunken war. Es lachte in Veits freundliches Gesicht, streckte die Händchen zu ihm empor und sagte »Bah!« womit es wohl andeuten wollte, daß es auf den Schoß gehoben zu werden wünschte.

Wenigstens verstand Veit so und der Kleine, der nun auf seinem Knie ritt, schien ganz damit zufrieden.

»Wie heißest Du denn?«

»Veit!« antwortete das Kind und drückte das 163 fette Kinn gegen den Hals und bohrte die Fingerchen in die Maschen seiner wollenen Jacke.

»Ei was? Veit? wirklich! und wem gehörst Du denn?«

»Meiner Mama,« versetzte der Kleine arglos. Veit dachte, es wird wohl einem von den kranken Leuten gehören, die ich vor dem Hause gesehen habe. Es war aber nicht an dem und das Kind hatte unbewußt eine bittere Wahrheit ausgesprochen, denn es folgte »der ärgeren Hand«.

Veit wollte jetzt nach dem Vater fragen, aber das Kind war schon ungeduldig geworden, es wollte auf den Boden hinab und strebte der Thüre zu. Und nun vernahm auch Veit den schweren Schritt eines Kommenden.

Der Pfarrer stand im Zimmer. Er staunte oder besser, er erschrack, als er des Fremden ansichtig wurde. Er trat einen Schritt zwischen jenen und das Kind und warf das rothe, gelbgeblümte Sacktuch, welches er eben in Händen hielt, auf den Schreibtisch über Strauß christliche Glaubenslehre.

»Wer sind Sie? Wie kommen Sie hier herein? Wer schickt Sie zu mir?« rief der Ueberraschte.

Veit aber, rothglühenden Angesichts und mit den Händen zitternd, stammelte nur: »Herr Pfarrer!« und jenem fiel es schon wie Schuppen von den Augen.

164 Er faltete die Hände, sah Veiten in's Weiße der Augen und sagte: »Sie sind's«, dann schüttelte er das Haupt und erhob mehrmals die gefalteten Hände. »Wer hätte das gedacht! Sie sind's! So überraschend plötzlich, so wie aus dem Fußboden gesprungen . . . hier und jetzt! Hem hem.« Er seufzte, gieng einmal die Stube auf und ab und blieb endlich vor Veit stehen, der den Kopf auf die Brust hatte sinken lassen. Er strich ihm mit der einen Hand das Haar aus der geneigten Stirne, faßte mit der anderen seine Rechte und sprach mit vollem Herzenston:

»Nun also! seien Sie mir willkommen!«

Veit führte die liebe knöchrige Hand an seine Lippen, die »Haben Sie mir verziehen, mein Wohlthäter?« stammelten.

»Was hatt' ich zu verzeihen?« entgegnete der Pfarrer gutmüthig lächelnd und mit den Achseln zuckend. »Aber in Sorgen, in großen Sorgen bin ich um Ihretwegen gewesen. Ja! Nun sagen Sie mir, sind Sie was Rechtes geworden? sind Sie brav geblieben in der Welt, wie Sie gewesen? Sie sollen mir schon Alles beichten!« damit hob er den rechten Zeigefinger scherzhaft drohend in die Luft und gieng wieder mit langen Schritten im Zimmer auf und ab.

»Sie haben sich viel verändert,« fuhr er ohne stehen zu bleiben fort, »und doch hab ich Sie rasch erkannt. 165 Hem hem! Sie sehen viel älter aus als Sie sind! Verwittert, gebräunt und wie scharf sind Ihre Züge geworden!« damit stand er wieder still und betrachtete das vergilbte Gemeindekind, das lächelnd erwiderte:

»Die See macht alt!«

»Die See? hem hem!«

»Sie aber, Hochwürden, sehen wie verjüngt aus, die Jahre scheinen spurlos über Ihrem Haupte geschwunden zu sein.«

»Redensarten, mein Junge, hast Du das in der weiten Welt gelernt?« war des Pfarrers Antwort, doch schmunzelte er, indem er sich von Veit abwandte und an's Fenster trat, auf dem die letzten Fasern einer Blume zerthauten, welche der Frost heute Morgen auf die Scheibe gezeichnet.

Es ward stille für ein kleines Weilchen, dann hub der Seelenhirt selbst wieder an: »Deutlich geredet, sollt' ich Ihnen ein wenig böse sein. Ja Sie sind – ohne es zu wissen – an Mancherlei schuld geworden! Ja ja! Hätt' ich Sie bei mir behalten – aber warum hab' ich Sie nicht behalten? Ich meint' es gut. Na und ich meine, daß ich Ihnen nicht böse bin, nein gar nicht! und ich meine, daß es keine Sünde gewesen, daß auch mir – wie unser lateinischer Poeta singt – auch mir nichts Menschliches fremd geblieben.«

Er wandte rasch das Gesicht ab und hob den 166 kleinen Jungen vom Estrich, auf welchem jener sich's bequem gemacht und während des Gesprächs mit den schwarzen Troddeln zu spielen begonnen hatte, welche des Pfarrers Stiefelschäfte zierten. »Und Du Menschlein«, rief er, »wie kommst Du hieher? Mach daß Du fort und daß Du nach Hause kommst!«

Damit küßte er das Kind in's Haar, öffnete die Thüre und rief dem Scheidenden lächelnd nach: »nicht fallen, ja nicht fallen. Gott segne Dich!«

Dann ergriff er nochmals Veits Hand und drückte sie: »Sie müssen mir viel, müssen mir Alles erzählen. Aber nicht jetzt, nein bei Tische. Sie bleiben bei mir zu Tische, jawohl! die Stunde vor dem Essen aber gehört meinen Patienten. Lachen Sie nur, wenn ich sage, meinen Patienten, es ist doch die Wahrheit und ich habe leibhaftige veritable Kranke zu versorgen. Ich bin ein richtiger Curpfuscher geworden. Hem hem. Na es ist nicht so gefährlich. Sie wissen, daß ich damit angefangen hatte, auf der Alma mater Arzneikunde zu treiben. Ich bracht' es aber nicht weit. Denn eines Tags hatte ich nicht mehr zu essen bei meinem Brodstudium. Man verwies mich auf die Stipendien, die in der theologischen Facultät so reichlich floßen. Und so ward ich denn in Gottes Namen »geistlich«. Das ist die Geschichte vieler Studenten und ist die meinige. Nun es war schon gut so! 167 O ja! Und ich hätte nimmer gedacht, daß ich jemals wieder im Leben unter Aesculap zu dienen hätte. Hem! Der Mensch denkt, Gott lenkt. (Hier nahm der Sprechende eine sehr umständliche Prise Schnupftabak.) Da hatten wir Armen auf Meilenweite in der Runde keine ärztliche Hilfe, als einen alten Gerichtsphysikus, der Trunkenbold, Jagdfreund, Siebenschläfer, Pferdekenner, kurz und gut Alles eher denn ein richtiger tüchtiger Mediziner vor dem Herrn war. Er mag in jüngeren Jahren wohl Gott wohlgefälliger und seinen Mitmenschen fördersamer gewesen sein, aber seit Langem hatte er sein Schäfchen im Trockenen und wenn ein Bäuerlein in's Nasse gerieth und Hilfe schrie, fiel es ihm nicht ein, so rasch mir nichts dir nichts Meilenweit über elende Vizinalwege zu kutschiren. Solch' eine Roßnatur, meinte der Gerechte, hilft sich am besten selbst und thut sie's nicht, ist ohnehin Mathä' am letzten und der Seelsorger nöthiger als der Leibsorger. Es ist hart, lieber Freund, und doppelt hart für den Hirten einer Gemeinde, am Bette eines Sterbenden zu sitzen, stundenlang, halbe Tage lang dem Leidenden von der Fürsorge Gottes in's Gewissen zu predigen, welcher die Lilien auf dem Felde kleidet und keinen Spatzen vom Dache fallen läßt et caetera, und dabei sich innerlich immer sagen zu müssen: der Mann stirbt nur, weil ihm keine Hilfe, keine rechtzeitige ärztliche Hilfe wird, 168 sich sagen zu müssen: der Zustand dieses Weibes verschlimmert sich von Stunde zu Stunde, weil für den, der zu helfen, zu sorgen verpflichtet ist, im Gewissen keine Uhr aufgehängt ist, sich sagen zu müssen: diese Eltern haben kein Kind, diese unmündigen keine Eltern mehr, weil einer, der graue Haare hat, vergessen gekonnt, daß er selber einmal ein hülfloses Kind gewesen.

»Na, lieber Vitus, ich hab' immer dafür gehalten, daß handeln besser als predigen ist. Und nachdem ich's mehrmals vergebens versucht, dem besoffenen Nimrod von Gerichtsarzt in's taube Gewissen zu reden, faßt' ich einen Entschluß und postirte das hochwürdige Sitzfleisch wieder auf die alten Studirhosen.

»Mein Gott, ich bin kein ganzer Arzt geworden! Alles menschliche Wissen ist Stückwerk und – ›ein jeder lernt nur was er lernen kann‹. Aber (dabei nahm der Sprechende den Arm Veits und drückte ihn vertraulich an seine Brust, während er blinzelnd die Augen fast zudrückte) die Statistik spricht für mich. Ja wohl! Wo wir früher jährlich fünfundzwanzig Todte hatten, bringen wir's jetzt im Durchschnitt kaum auf sieben und einen halben. Ahaha! Ja! Handeln, Freund, thätig sein, wirken, Leben geben und Leben erhalten – das ist Menschenbestimmung und Menschenpflicht!

»Freilich wo ich sonst nach dem Credo blos und 169 dem Sündenregister fragte, da thu' ich jetzt auch noch fragen, aber nachher fühl' ich den Puls und lasse mir die Zunge blöcken u. s. w.

»Nennen Sie mich immerhin einen Kurpfuscher, meinetwegen! – Aber so wie Sie mich sehen, bin ich halt doch Seelsorger, Hebamme, Arzt und Apotheker meiner Pfarrkinder in einer und derselben Person!«

»Sind Sie niemals in diesem Berufe, der so viele in sich vereinigt, sind Sie niemals in dieser heilbringenden Thätigkeit gestört worden?« fragte Veit.

»Von wem?« fragte der Pfarrer!

»Von oben,« antwortete Veit.

»Bewahre! der Gerichtsarzt weiß freilich darum, daß ich ihm in's Handwerk greife und – hätte dieß Handwerk in unserer Gegend einen goldenen Boden, ei ja dann würd' er vielleicht weder Bischof noch Präsidenten schonen, um ein anathema sit gegen mich heraufzubeschwören, daß mir Zeit Lebens alle Lust und Möglichkeit zu so menschenfreundlichen Allotrien verginge. Aber so ist er todtfroh, daß ich ihm Müh' und Zeitverlust und Reisekosten erspare. Ich versichere Sie, er liebt mich mehr als Jemanden und schickt mir womöglich noch Patienten zu, wenn's auf gute Art geschehen kann.«

»Aber die Patienten selbst?« versetzte Veit »verrathen Sie die Bauern nicht?«

170 »Oh! die Bauern sind so schlau!« war des Pfarrers Antwort. »Die wissen was sie an mir haben und hüten sich wohl, einen Seelsorger zu verlieren, der auch den Leib versorgt, und einen andern dafür einzutauschen, der nichts von Hahnemann weiß. Oh! die Bauern sind schlau und wer kann sich mit ihnen an Mißtrauen und Vorsicht messen! Das kommt mir, respective ihnen zu Statten. Glauben Sie, daß einer bei mir anklopft und sagt: Hochwürden, ich habe Leibschneiden? oder: Hochwürden, ich will mir das Fieber abschütteln lassen? bewahre Gott! Er sagt: Hochwürden, ich hab' eine schwere Sünd' auf dem Herzen. Wo, denken Sie, daß ich mein Bißchen ärztliches Wissen am meisten zu Rathe halten muß? Wo? Im Beichtstuhl. Die Leute, die Sie da drunten vor der Thüre haben stehen sehen, sind lauter frisch absolvirte Beichtkinder. Natürlich bescheid' ich mir wo's noth thut, diese reumüthigen Sünder noch nachträglich in's Pfarrhaus, um ihnen – ein unschuldiges Hausmittel zu schenken. Der ganze Kasten da lauter unschuldige Hausmittel, an arme Sünder gratis zu verschenken!

»Wenn Sie aber denken, daß dieß Alles meiner Seelsorge Schaden, auch nur den geringsten Schaden bringt, so irren Sie sich. Meine Macht über die Seelen ist gewachsen, wie das Bedürfniß nach mir und das Vertrauen zu mir in ihnen gewachsen ist. Ich 171 meine, eine neue Zeit – und wir gehen einer neuen Zeit entgegen! – eine neue Zeit sollte dahin gelangen, von allen Geistlichen ärztliche Kenntnisse zu heischen. Lachen Sie nicht! Und lassen Sie mich hinzufügen: es würde nicht minder dem Arzte als solchem nützen, auch der Seelsorger seines Patienten zu sein! Freilich ein ächter Arzt hat immer den Schlüssel zur Seele des Patienten in der Tasche. Und so behaupte ich: in mir hat der Arzt dem Seelsorger und der Pfarrer dem Medicus unglaublich in die Hand gearbeitet. Manches, was mir der Kranke zu sagen gehabt hätte, hat mir der Sünder erst gebeichtet und wie manche Seele hab' ich gerettet, weil ich dem Teufel zusetzen konnte, der ihr körperliches Dasein in seine Knechtschaft gebracht hatte. Arzt und Seelsorger in einer Person und Thätigkeit, wer es ganz und richtig sein könnte! Aber eine neue Zeit wird auch diesen Gedanken verwirklichen und zu gemeinem Nutzen ausbreiten! Ich glaube felsenfest daran!«

Der Pfarrer war mit einem Blick auf die Zimmerdecke stehen geblieben und faltete die Hände. Veit räusperte sich und sagte schüchtern:

»Aber die neue Zeit dringt überall auf Arbeitstheilung.«

»Das möchte sie immerhin und unbeschadet!« antwortete der Pfarrer wie aus einem Traum (jedoch 172 nicht unsanft) erwachend. Dann trieb er Veiten in den Hof hinab, denn mit seinen Beichtkindern mußte er allein reden, eines Theils, weil das zum Wesen ihres Zutrauens gehörte, anderntheils, weil er selbst zu schamhaft und verlegen sei, um mit seiner Curpfuscherei, wie er sich ausdrückte, vor dem jüngeren Mann Parade zu halten.

Eine Stunde später saßen beide in tiefen aufregenden Gesprächen mit einander bei Tische, einen gebratenen Vogel und einen mächtigen Bierkrug vor sich.

Der Pfarrer war ein Mensch vom besten Herzen und Character und von gründlicher, wenn auch nicht allgemeiner Bildung. Aber bei der Mildthätigkeit seines Wesens und in der Einsamkeit, Weltabgeschiedenheit seiner armen Dörfer war er spät und unberathen an Studien gekommen, die ihn wohl über Bestehendes aufklärten, aber zu einer Schwelgerei und Schwärmerei in utopistischen Zukunftsconstructionen verführten, die ohne Wiederspruch fortwucherten und einander fröhlich überwuchsen.

Nach seiner Meinung stand das tausendjährige Reich des allgemeinen Glückes und ewigen Friedens dicht vor der Thüre und die Menschheit war eben mit nichts Anderem beschäftigt, als diese Thüre sorgfältig und möglichst geräuschlos zu öffnen, damit der draußen 173 Harrende unbeschädigt und unerschreckt einziehen könnte in die weihevoll vorbereitete, bräutlich gerüstete Welt.

Insbesondere hatte er sich in seinen Gedanken ein Priesterthum construirt, dessen Klarlegung heute den größten Theil seiner Auseinandersetzungen füllte und Veit's Kopfschütteln und Staunen mit lächelnder Siegesgewißheit überstand.

Der brave Mann glich einem Menschen, der, ohne einen Tropfen Wein genossen zu haben, in einen Keller gestiegen und, von den Dünsten berauscht, taumelnd und schwindelnd zurückgekehrt ist.

Aber er meinte es ehrlich und treuherzig. Gewinnsucht, Vortheil, Eigennutz hatten nie seine Seele betreten. Er wähnte mit aller Welt im Einverständniß zu leben und wußte nicht, daß er als Schwärmer galt, den alle Welt mißbrauchen zu dürfen glaubte.

Der Bischof seiner Diöcöse war ihm persönlich wohlgewogen und mit seinem Einfluß auf die Pfarrei zufrieden, doch fehlte es nicht an Widersachern, die ihm in den Ohren lagen und den braven Mann als einen Ketzer und Schismatiker verschrieen.

Er aber wußte nichts von Wetter und Wolken, er saß still und nachdenklich über verbotenen Büchern auf dem freundlichen Pfarrhof, den Eiferern zum Aergerniß, den Gerechten zur Auferbauung, den Armen und Elenden zu Trost und Hülfe, und spann an 174 schneeweißen Problemen des ewigen Friedens und baldiger Welt- und Kirchenverbesserung.

Als der gastliche Seelenhirt am Nachmittage seinen einstigen Pflegling entließ, hatte dieser denn doch zum Schluß die lang verhaltene Frage vorgebracht: ob es gut, daß der Mensch allein sei. Es war gerade als sie sich die Hände hielten. Da schüttelte der geistliche Herr schweigend sein Haupt, wandte sich rasch ab und gieng zum Dorfe zurück.

Es war vier Uhr des Nachmittags. Die Sonne gieng eben unter und legte einen glänzenden Strahl über den Weg des schweigenden Wandlers. Veit blieb auf der Stelle stehen, da sie von einander geschieden, und schaute jenem so lange nach, als er ihn nur erblicken konnte. Der andere aber sah sich nicht um und gieng gleichmäßigen Schrittes, aufrecht seinen Pfad heim, lichtumflossen, lichtverklärt. 175

 


 


 << zurück weiter >>