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XXVII.

Es war spät in der Nacht.

Im Privatkontor von Felix Lerch herrschte reges Leben.

Ein paar Lohndiener hatten den Geschäftsraum zu einem eleganten Speisesaal umgewandelt und waren eben im Begriff, die schweren, silbernen Leuchter zu entzünden, als Arthur und Felix eintraten.

Die Diener verbeugten sich ehrfurchtsvoll und nahmen ihnen die Sachen ab. Die beiden Herren waren in elegantem Gesellschaftsanzug. Arthurs Gesicht schien seltsam aufgedunsen, in seinen sonst so müden Augen flackerte es unstät. Ein beständiges, unveränderliches Lächeln umspielte seinen aufgeworfenen Mund. Felix' Züge dagegen waren straff und gespannt.

Nach einem flüchtigen Blick auf die Tafel und das im Hintergrunde aufgestellte kalte Büfett, auf dem die erlesensten Delikatessen ruhten, winkte Arthur mit müder Bewegung den Lakaien, die sofort verschwanden und in Eiskübeln den Wein hereintrugen.

»Sie können jetzt gehen,« sagte Arthur leise zu den Dienern, »oder halt,« fügte er hinzu, »öffnen Sie erst eine Flasche!«

Der eine der Livrierten gehorchte stumm. Der Pfropfen flog beinah geräuschlos in die Höhe, und einige Tropfen des edlen Naß spritzten empor.

Die Brüder hielten die feingeschliffenen Gläser einen Augenblick an das flackernde Licht der Kerzen und sahen sich bedeutsam an, dann stießen sie, nachdem die Diener lautlos davongeschlichen, die Gläser zusammen. Sie sprachen kein Wort. Ihre bleichen Gesichter spiegelten jedoch ihre innere Erregung wieder. In der tiefen Stille der Nacht, die nur durch dieses flirrende, scheue Licht Leben erhielt, hörten sie beide ihren unruhigen Atem und das bewegte Schlagen ihrer Herzen. Wie auf ein inneres Zeichen gossen sie plötzlich den Wein hinunter, füllten sich von neuem die Gläser, um wiederum schweigend zu trinken und sich die letzte Sorge zu brechen. Ein schwaches Rot trat auf ihre Züge, und ein Zittern ging mit einem Male durch Arthurs Körper, und ein rührender Ausdruck trat auf seine Miene. Ganz unvermittelt beugte er sich tief herab, ergriff die Hand von Felix und bedeckte sie, ehe dieser es hindern konnte, mit bebenden Küssen, indes er leise schluchzte.

»Du ... Du ...« stammelte Felix verwirrt. Aber auch ihn ergriff eine weiche, hingebende Stimmung; wie ein Kind nahm er den Zwillingsbruder in die Arme und drückte ihn an sich. In diesem Augenblick durchdrang ihn ein feierliches Gefühl, eine nie gekannte Frömmigkeit, eine geheimnisvolle Wehmut, eine scheue Angst. Lange hielt er ihn umschlungen, als könnte er diesem absonderlichen Empfinden nicht entsagen. Ihm wurde seltsam zumute, ihm ahnte, daß er zum ersten Male einen tiefen Blick in das Innerste seines Wesens getan und an das Geheimnis seines Ichs, das bange Rätsel alles Menschlichen überhaupt, flüchtig gerührt hätte.

Es kreuzten sich in ihm tausend unlösbare Fragen, unzählige Erinnerungen. Alles Dunkle in ihm ward hell, und er fühlte sich weit und hoch emporgehoben und frei und leicht. Längst entschwundener Kinderglaube und eine ihm kaum bewußt werdende Erinnerung an süße Ammenlieder schufen ihm eine feine Wollust, ließen ein Sehnen in ihm erwachen, das er im Leben nie gekannt hatte.

»Du,« sagte er plötzlich mit weicher Stimme, indem er sich gewaltsam aus dieser fremden Welt der Träume losriß, »geh nicht mit mir, höre noch einmal auf mich.«

Da sah ihn Arthur so trostlos, so verzweifelt an und umklammerte so ängstlich seine Hand, daß Felix den Blick von ihm wandte und kein Wort mehr sprach.

Nach einer langen Weile sprach Felix mehr zu sich: »Die Mutter dauert mich.«

Er drehte sich wieder zu Arthur um, der, als fröstelte es ihn, zusammenzuckte. Ein letztes Mal stießen sie an mit Steinberger Kabinet, älteste Auslese, auf das Wohl der Mutter.

Von den Speisen rührten sie nichts an.

Dann sah Felix den Bruder durchdringend in die schreckerfüllten, weit hervorquellenden Augen, verband sie ihm jählings mit einem seidenen Tüchelchen, schob den Riegel der Tür vor, und ohne zu zucken mit starrer Miene erlöste er den in Todesfurcht Bebenden.

Noch einmal warf er sich über ihn und küßte, während ein kalter Schweiß ihm aus der Stirn drang, die bleiche Stirn des lebenslustigen Tölpels.

Und nun preßte er die Lippen fest aufeinander, betastete noch eine Sekunde das Pistolet – und mit einer entschlossenen Bewegung nahm er vom Leben Abschied.

Es war ein Sterben nicht ohne Feierlichkeit nach einem Leben, das einer Farce geglichen.


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