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XV.

In Berlin W. sprach man in den nächsten Tagen von nichts anderem, als dem Skandal, den Frau Regine heraufbeschworen.

Die Familie Lerch benahm sich mustergültig. Sie zeigte sich überall mit Heller und dementierte in auffälliger Art das Gerücht, das sich blitzschnell verbreitet hatte. Regine, hieß es, sei ihrer zerrütteten Nerven wegen abgereist, – die Freunde und Bekannten müßten schon den Trennungsschmerz eine kurze Zeit überwinden.

Der Gegenstand dieser Erörterungen, Frau Heller, war in jener Nacht nach Dresden gefahren und hatte sich am andern Tage nach Loschwitz begeben, wo sie unter fremdem Namen in einer Winterpension Aufnahme gefunden hatte. Aber die ersehnte Ruhe war nicht über sie gekommen. Ja, sie hatte Stunden, in denen sie sich zerrissener denn je fühlte.

Eine große Sehnsucht nach dem Kinde ergriff sie. Immer wieder fragte, sie, sich, ob sie um des Kindes willen so hatte handeln dürfen. Das Kind ... das Kind ... was würde aus dem Kinde werden! Was nützte ihr alle Freiheit ohne das Fritzel. Wer würde es trösten, wenn es wehklagend in seinem kleinen Bettchen sich emporrichtete und mit seinem lieben süßen Stimmchen; nach seinem Muttel verlangte.

Sie ging die erste Woche wie eine Nachtwandlerin einher; kein überflüssiges Wort sprach sie. Die Bonne, ein bescheidenes Mädchen, sah sie verlegen und ehrfurchtsvoll des öfteren von der Seite an. Sie wagte nicht, der Herrin sich zu nähern. So lebte sie in einsamer Qual, ja es dünkte sie zuweilen, als ob ihre Stimme allmählich verrostete, als ob langsam Leben und Bewegung Körper und Seele verlassen wollte. Dann wieder gab es bittere Augenblicke, in denen sie die Erinnerung an den einzigen Freund nicht bannen konnte. Und jener seltsame Zwiespalt, ob sie sich erwachendem Glücksempfinden hingeben dürfte, oder ob sie es niederkämpfen müßte, bemächtigte sich ihrer.

Nein, dessen war sie sicher, nicht um Gents willen hatte sie ihren Mann verlassen. Mit dem war sie längst fertig, und gleichgültig in ihrem Verhältnis zu ihm blieb es, daß ein anderer in die Erscheinung ihres Inneren getreten war. Unablässig ging sie mit sich in's Gericht. Sie wurde sich klar darüber, um Gents willen hatte sie den Gedanken an den Tod aufgegeben – um seinetwillen lebte sie, wenngleich sie sich ihm weder mit Worten noch Blicken je verraten hatte. Und in selbstquälerischer Pein empfand sie es, daß sie das Kind hatte für immer verlassen wollen, sie, die mit dem Leben also doch nicht völlig abgeschlossen hatte. Sie spürte ihr Gewissen pochen und erkannte in einer durchsichtigen Helligkeit die Grenzen ihrer Geistesfreiheit. Denn darüber kam sie nicht hinweg: Es gab trotz allen Grübelns eine Verantwortlichkeit – nicht vor einem persönlichen Gott nicht vor Menschen – aber doch vor sich selbst, und um so schärfer, als es vor dem Richter in der eigenen Brust kein Leugnen, keine Ausflüchte gab. Das Kind ... das Kind! ... Sie weinte tränenlos in sich hinein. War es denn möglich, daß eine Frau von ihrem Schicksal noch einmal das Glück erraffte? Und war sie fähig, es zu gewähren?

Sie fand auf all diese Fragen keine Antwort. Ja, sie schienen ihr unlösbar, wenn sie an Gent zurückdachte, der in jeder Hinsicht so ganz anders wie sie beschaffen war. Sie entsann sich, daß er niemals den Anspruch – erhoben, ein scharfer Denker zu sein, daß er sich nie vermessen, letzte Weisheiten finden zu wollen. Er war schlicht bemüht, einfach und brav zu sein. Ich habe nicht auf den neuen Menschen abonniert, hatte er einmal lächelnd geäußert, das soll nicht Ironie sein, gnädige Frau, nur die nüchterne Erkenntnis eines Durchschnittswesens.

Das hatte sie damals innerlich geschmerzt, sie war doch Frau genug, um den Mann, zu dessen Art sie sich hingezogen fühlte, im Wissen und Denken über alle anderen erhaben zu wünschen. Aber jetzt kam ihr das so dünkelhaft und töricht vor – jetzt, wo die Einsamkeit ihr klar gemacht, daß neben geistiger Größe noch etwas anderes zu Recht bestand: der sittlich-kräftige Mensch. Und das war Gent, seine Seele war hell und rein wie Bergesquell, keines unlauteren Gedankens fähig.

In ihrem Sehnen nach dem Kinde wollte sie an ihn sich wenden, aber eine feine Scham, vielleicht das Beste in jeder Frau, hielt sie zurück.

Sie wußte, daß er rang, sie wußte, daß die Liebe zu ihr in sein Empfinden wie ein starker, übermächtiger Feind, mit dem er ehrlich kämpfte, eingedrungen war. Aber sie wußte nicht, ob sie jemals den Mut finden würde, sich ihm zu geben, ob es nicht die höhere Pflicht war, sich zu versagen.

Pflicht ... Liebe ... Sittlichkeit – dem konsequenten Denker längst veraltete Begriffe, sie kehrten zu ihr zurück wie liebe, traute Kindermärchen. Und in all die Wehmut glitzerte Glück, wie feine Sonnenstrählchen, die schüchtern und kosend durch schweres Gewölk sich stehlen.

Als die zweite Woche ihrem Ende entgegenging, vermochte sie nicht länger ohne Nachricht über das Fritzel zu sein. Sie kam auf einen Ausweg. Sie sandte einen Brief nach Genf, an eine frühere Freundin mit der Bitte, ihr Schreiben nach Berlin zu befördern. Der Brief war an Heller gerichtet, enthielt die kurze Bemerkung, daß sie in die Schweiz geflüchtet sei, und verlangte poste restante Mitteilungen über das Kind. Jede Mühe, sie zu finden, solle er sparen.

Nun wartete sie voll Ungeduld.

Aber viel, viel schneller als sie es berechnet hatte, sandte die Freundin in Form eines Telegrammes die Antwort. Es enthielt die wenigen Worte: »Fritzel schwer krank. – Alles vergeben! Kehre zurück! Heller.«

Im ersten Augenblick war ihr's, als ob der Tod leise und unsichtbar dicht an sie herangetreten wäre. Jeder Tropfen Bluts wich aus ihren Zügen, das Herz stand ihr still. Dann aber lief sie wie von Hunden gehetzt zu dem kleinen Postamt und depeschierte an den alten Hausarzt.

In den nächsten zwei Stunden war sie ihrer selbst nicht Herr. Sie schloß sich ein. Sie stürzte wieder aus dem Zimmer, die kleine Dorfstraße entlang in der Richtung zur Post, um den Boten zu erspähen – wieder in die Villa zurück – und wieder auf die Straße.

Als er endlich kam, da riß sie ihm wie eine Irre den schmalen Umschlag aus den Händen und eilte atemlos in ihr Zimmer. Bebend betrachtete sie eine Spanne Zeit das Telegramm. Sie starrte auf das weiße Papier, als wenn ihr Todesurteil darin geschrieben wäre. Gott ... mein Gott hauchte sie, indes sie in raschem Entschluß das Papier erbrach.

Aber vor ihren Augen flirrte es. Kein Wort vermochte sie zu enträtseln. Unwillkürlich hielt sie die Hand an ihr pochendes Herz – und zwang sich. Sie las: Leichter Influenzafall. Kein Anlaß zur Sorge! Da sank sie in krampfhaftem Schluchzen auf ihr Bett.

Als sie sich erhob, leuchtete aus ihren Augen ein frommer Glanz. Sie griff wieder nach dem Telegramm, sie mußte es noch einmal und noch einmal lesen. Aber ihr Gesicht verdüsterte sich, und ein kurzes, schrilles Lachen verzerrte ihre Züge. Alles vergeben, murmelte sie und zerknitterte in der kleinen Faust Hellers Depesche. Er vergibt mir ... er vergibt mir! Aber nein ... nein ... nein, sie wollte sich die Freude nicht vergällen. Ein tiefer Ernst durchdrang sie. Das Kind, ihr Kind lebte; es hatte nicht die reinen, frommen Augen geschlossen, während sie, die Mutter, wie eine Diebin sich fortgeschlichen. Das Kind lebte! Sie faltete die Hände, ihre Lippen bewegten sich in murmelnden Lauten. Ihr war's, als ob Engel in hellen, weißen Gewändern vom blauen Himmel herniedergestiegen wären und auf goldenen, feinen Flügeln ihren Gram in die Lüfte getragen hätten, in den sonnigen Himmel hinein, wo Leid und Sorge vor Gottes Odem schweigt – wo Frieden ist.


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