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IX.

Als Advokat Gent an einem der folgenden Tage ziemlich früh im Untersuchungsgefängnis erschien, erhielt er die grausige Nachricht, daß seine Klientin sich in der vergangenen Nacht das Leben genommen.

Er war in den ersten Minuten so betäubt, daß er keine Frage zu tun vermochte. Erst der Gefängniswärter rüttelte ihn auf.

»Sie war nie ganz geheuer,« sagte er. »So was Absonderliches war an der Person vom ersten Tage an – man soll wohl über die Toten nichts Schlimmes reden, Herr Doktor, aber hochmütig war die – na! ...«

Der Advokat raffte sich. »Hat sie etwas hinterlassen?« fragte er mit unsicherer Stimme.

»Nicht eine Sterbenssilbe!«

Er ging. Aber ihm war zu Mute, als wenn sich alles in ihm drehte. Ein ihm fremdes Wesen, eine Geschichte, wie man sie so oft in den Blättern lesen konnte – und er, trotz alledem erschüttert bis in den Grund seiner Seele. Er ging, wie ein Trunkener, keinen Menschen sah er, und nicht einen klaren Gedanken konnte er fassen. Lange mochte er so dahingeschritten sein, als er sich auf einmal erschreckt umsah, und bemerkte, daß er sich in einen entlegenen Teil des Tiergartens verirrt hatte. Es war schneidend kalt, auf den Bäumen lag Rauhreif. Der Advokat zog die Uhr: dreiviertel Zwölf. Jetzt fiel ihm plötzlich ein, daß er um elf Uhr Termin gehabt. Was konnten sich daraus für Unannehmlichkeiten ergeben! Aber was scherte ihn das – nur Ruhe wollte er, nur Ruhe! Er durchschritt den Tiergarten, er wollte wissen, wo er eigentlich war. Aha! Station Bellevue! Er winkte einem Kutscher. »Bendlerstraße dreizehn! So schnell wie möglich! Sie bekommen das Doppelte!« Der Mann hieb auf den armen Gaul, als wollte er ihm das Blut auspeitschen.

In seinem Zimmer schloß sich der Advokat ein und durchmaß unruhig den Raum. Er kam endlich zu einem Entschluß. Er mußte die Dinge niederschreiben, um sich Ruhe zu schaffen. So nahm er denn Papier und Feder vor und trat an sein Pult. Er schrieb folgendes: Ich habe Jahre meines Lebens nur in Reflexionen gelebt. Die Dinge der Außenwelt haben an mir fast gar nicht gerührt. Jetzt dringen plötzlich Ereignisse auf mich ein und bedrohen mich in meinem innersten Wesen. Ich sehe Welt und Menschen mit anderen Augen an wie ehedem, ich beginne zu zweifeln nicht mehr aus blutleeren Reflexionen heraus, sondern weil ich aufgehört habe schematisch zu denken. Ich bin persönlichen Schicksalen gegenübergetreten, die vielleicht auf mein eigenes Los in höherem Maß, als ich mir selbst noch darüber klar geworden bin, einwirken. Mir ist zumute, als müßte mir die nächste Zukunft schon Enthüllungen bringen.

Er legte das kleine Blatt zusammen, tat es in ein Kuvert und schrieb das Datum des Tages auf. Dann schloß er es eilig. Nun starrte er ratlos vor sich nieder. Um zwei Gestalten bewegten sich seine Gedanken: um die arme Tote – und Frau Heller. Er konnte die beiden Menschen nicht mehr trennen, in einem Bilde waren sie ihm verschwommen. Wenn ich jetzt ein Dichter wäre, dachte er, so hätte ich Stoff zu einem Sittenroman. Und was ließe sich mit einiger Phantasie nicht alles in den Tod des unseligen Geschöpfes hineindeuten.

»Herr Doktor,« rief die Haushälterin, »Herr Doktor!«

Er ging rasch zur Tür und schloß auf.

»Ja, was ist denn?« fragte er verwirrt.

Der armen Person rannen die Tränen über die runzligen Wangen. Sie sah ihn einen Moment in banger Sorge an. »Ich hab schon zweimal geklopft,« sagte sie in unterdrücktem Schluchzen, »der Herr Heller ist nämlich da!«

»Bitte, führen Sie den Herrn schnell herein – oder warten Sie, ich hol ihn selbst.« Er schob sie ein wenig unsanft beiseite und ging Heller entgegen.

Der drückte ihm in nervösem Ungestüm die Hand. Er sah sehr blaß aus.

»Herr Kollege, ich möchte mit Ihnen sprechen.«

»Bitte sehr!« sagte Gent und schritt voran.

»Sind wir ungestört?« fragte Heller.

»Durchaus!«

»Herr Kollege,« begann Heller zögernd von neuem, »wenn ich mit Ihnen darüber rede, so mögen Sie das als einen besonderen Beweis meines Vertrauens auffassen. Um kurz zu sein, bei mir im Hause« ... er brach ab und sah plötzlich Gent mißtrauisch und durchdringend an. »Sie ahnen ... Sie wissen wohl, was ich Ihnen zu sagen habe?«

Gent fiel dieser absonderliche Ton auf.

»Ich weiß wirklich nicht, was Sie damit meinen,« entgegnete er zurückhaltend.

Heller wandte sich bei diesen Worten ab – und auf einmal hörte Gent etwas, das wie Weinen klang.

»Um Gotteswillen, was ist vorgefallen, Heller, so reden Sie doch.«

Kollege Heller raffte sich zusammen. »Vorgefallen ... nichts ist eigentlich vorgefallen ... ich wollte Ihnen nur sagen ... ich glaube ... ich fürchte ... die Kur schlägt am Ende doch fehl ... meine Frau ...« er brach wieder ab und durchmaß mehrere Male das Zimmer, bis er schließlich dicht vor Gent stehen blieb. »Lieber Kollege, tun Sie mir den Gefallen und gehen Sie zu meiner Frau – Sie sind der einzige Mensch, zu dem sie Zutrauen hat.«

»Wüßte ich nur, was ich dort soll!«

Eine flüchtige Minute schwiegen sie beide. Endlich sagte Heller: »Es sind diese trostlosen Stimmungen, die meine Frau überfallen. Ich glaube, sie braucht dringend jemanden, mit dem sie sich aussprechen kann. Sie werden sagen, der Nächste dazu wäre ich ... das ist ein Irrtum ... das ist ein psychologischer Irrtum. So spricht einer, der die Ehe nicht kennt. Es gibt sogenannte kleine Mißverständnisse, ganz unbedeutende Dinge, aber sie bilden doch ein Hemmnis, ein unüberwindliches Hemmnis. Und was den Fall meiner Frau anbelangt – wenn meine Frau von ihren Stimmungen heimgesucht wird, dann ist jedes Wort von meiner Seite eher eine Gefahr. Sie kriegt dann ihre pathologischen Wünsche. Ich kann es gar nicht anders bezeichnen, vollständig pathologisch. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen – wollen sie aus Freundschaft für uns das Opfer ...«

»Von Opfer bringen ist keine Rede,« schnitt Gent ihm das Wort ab. »Wenn Sie meinen, daß ich auf Ihre Frau Gemahlin irgend welchen beruhigenden Einfluß ausüben kann, so bin ich sofort bereit, Sie zu begleiten.«

Der andere schüttelte ihm die Hand. »Sehen Sie ... sehen Sie, das wußte ich. Mein Wort darauf, ich hatte keine andere Antwort erwartet.«

Gent erwiderte keine Silbe. Den Kopf ein wenig gesenkt, folgte er nachdenklich Heller, der bereits die Tür aufgedrückt hatte und draußen sich hastig verabschiedete.

»Treff Sie doch noch, Kollege, was?« Und mit einem raschen Händedruck verschwand er in der nächsten Straße.

Er mußte zur Schwiegermutter. Unterwegs überdachte er noch einmal die letzten Ereignisse. Wieder hatte es zwischen ihnen eine jener Szenen gegeben, die ihn um den Verstand zu bringen drohten. Fort wollte sie, um jeden Preis fort. Gedroht hatte sie, ihm auf und davon zu gehen, wenn er nicht in die Trennung willigte. Und weshalb das alles? Sie hatte ihn dabei erwischt, wie er mit ihrer verflixten hübschen Jungfer ein bißchen geschäkert hatte. Die kleine Hexe hatte sich etwas zu laut gesträubt. War ungeschickt von ihm gewesen, gab er ohne weiteres zu. Aber war das ein Grund, die Kabinettfrage zu stellen? Und schließlich, konnte man es einem Mann in seiner Lage verdenken, wenn er sich schadlos zu halten suchte?

Langsam und widerstrebender Empfindungen voll war Gent seinen Weg gegangen. In welche Wirren war er hineingeraten – und wie würde sich das Ende gestalten, das Ende, vor dem ihm graute.

Oben bei Hellers angelangt, ließ er sich nicht melden. Er schob das Mädchen beiseite und ging ohne weiteres in den Salon, von wo aus er Frau Reginens Stimme gehört zu haben glaubte. In der Tür blieb er betroffen stehen: Sie hielt ihr Kind fest an sich gepreßt und schluchzte fassungslos in sich hinein.

Er wollte sich auf der Stelle geräuschlos entfernen. Sie aber bat ihn hastig und mit scheuen Worten, doch zu bleiben, da sie manches mit ihm zu besprechen hätte. Er nickte nur still, während er verstohlen in ihrem bekümmerten Gesicht forschte. Ihm tat es weh, wie sie mühsam nun versuchte eine heitere Miene aufzusetzen.

Als die Jungfer das Fritzel aus dem Zimmer geholt hatte, sagte sie mit unsicherer Stimme: »Was macht Ihre arme Klientin?«

Bei dieser unvermittelten Frage sah Gent gequält zu Boden und in einer Art von Frostgefühl schüttelte er sich. »Meine Klientin,« entgegnete er dann mit schwerer Zunge, »die, Frau Heller, hat sich freigesprochen von aller Erdenlast.«

Einen Augenblick, einen flüchtigen Augenblick sah sie unschlüssig zu ihm empor, dann hatte sie begriffen und beugte ihren Kopf tief herab. Lange verharrte sie so. Endlich sagte sie wie abwesend, in einem Ton, der geradezu feierlich klang: »In meinem Herzen lese ich ihr eine Totenmesse – und wenn Gott ist, so wird er diese arme Seele begreifen.«

»Gott ist!« sagte er mehr zu sich selbst.

Sie trat eine Sekunde an das Fenster und blickte in das helle, freudige Winterwetter, blickte auf die drängenden Menschen, die unter den weißen, lichten Flocken dahintrieben. Sie wandte sich wieder zu Gent. »Wer will es entscheiden,« sagte sie gedrückt, »ob sie nicht recht getan, so still und ohne jedes Hoffen, so todesmutig davon zu gehen – wer will es entscheiden!«

Er schüttelte abwehrend den Kopf.

»Niemand kann das!« entgegnete er. »Und das war doch auch ein Wesen,« fuhr er in sich selbst erschüttert fort, »das einmal dem Leben entgegengejauchzt und tausend Schlösser in die Luft gebaut hat.«

»Ja,«, antwortete sie traurig, »man soll nicht Schlösser bauen.«

Dann trat sie an einen kleinen Schrank und nahm mehrere verbriefte Papiere aus einem der Fächer.

»Ich möchte mit Ihnen einige Dinge besprechen, die rein geschäftlicher Natur sind und unter uns bleiben mögen.«

Advokat Gent verbeugte sich.

»Ich habe in der letzten Zeit einige Willensbestimmungen aufgesetzt, die ich gern rechtsgültig wüßte. Man kann ja nicht wissen, was einem der andere Tag bringt.«

Gent erhob sich. »Gnädige Frau,« sagte er, und seine Stimme bebte, »ich habe mich niemals, nein niemals in Ihre Angelegenheiten gedrängt – aber wenn Sie mich jetzt zu Ihrem Rechtsbeistand machen – eine Ehre, die ich zu würdigen weiß – dann darf ich zuvor als Freund ein paar Worte an Sie richten. Liebe gnädige Frau, mir ist bange um Ihretwillen, mir ist, als ob Sie in einem unglückseligen Entschluß etwas begehen könnten, das anderen namenlosen Schmerz schaffen würde ... das ... mit einem Worte, gnädige Frau, Sie dürfen sich nicht mit Todesgedanken tragen. Und das tun Sie,« rief er verzweifelt, »sonst würden Sie nicht an letzte Willensbestimmungen denken. Mir aber,« schloß er schmerzlich, »haben Sie die Rolle des Totengräbers zugemutet.«

Er sah sie mit flehenden Augen an – aber ihr Gesicht blieb starr und bewegungslos.

»Sie irren, Doktor, Sie irren vollkommen. Ich bin nicht so heroisch wie das arme Sündenkind, noch nicht, Herr Doktor, ganz gewiß nicht.« Sie sah in seine bittere und bekümmerte Miene, und ein feines Mitleid erfüllte sie. »Wäre ich's, Doktor,« fuhr sie fort, »so setzte ich mich nicht der Gefahr Ihrer treuen Augen aus. Für so schwach dürfen Sie mich nicht halten.«

In seinem Gesicht leuchtete es auf. Sie bemerkte es und preßte in einem Gefühl von Unbehaglichkeit die schmalen Lippen aufeinander. Dem Advokaten entging diese Veränderung nicht; wie ein kalter Strom überlief es ihn. Da blickte sie freimütig zu ihm auf, und in einem Anflug von Lustigkeit sagte sie: »Ich denke sogar in den nächsten Tagen bei meinem Bruder mit Ihnen festlich zusammenzutreffen. Nur möchte ich,« fuhr sie in herzhaftem Eifer fort, »Ihnen diese Schriftstücke geben, mit der Bitte, sie rechtskräftig zu machen. Wollen Sie das?«

»Ich wünsche,« entgegnete er langsam, »ich dürfte mehr für Sie tun.«

Sie zeichnete mit der Hand eine ablehnende Bewegung, sodaß er es aufgab, weiter in sie zu dringen.

»Dies hier ist die Bestimmung, die meinen Sohn betrifft, während ich Ihnen hier ein Dokument übergebe, das ...,« sie stockte eine Weile, »ein Legat von hunderttausend Mark enthält. Die Zinsen dieser Summe,« fuhr sie hastig fort, »sollen ohne jede Beschränkung und ohne jedes Wehtun armen Müttern zufallen. Ich bin zu dieser Bestimmung,« schloß sie verlegen, »durch den Fall der Verstorbenen veranlaßt worden. Sie hatte die erste sein sollen, der das armselige Geld zu einer Existenz ...«

Sie brach jählings ab. Nach einer kleinen Pause sagte sie: »Das Kapital mag gleich in Kraft treten. Ich denke, es werden sich noch arme Seelen finden, die es brauchen können. Daß mein Name nicht genannt wird, ist ja selbstverständlich. So, das wären meine geschäftlichen Sorgen.«

Der Advokat hatte schweigend die Papiere in seine Rocktasche gesteckt. Er gehörte nicht zu den Engherzigen, und doch empfand er die Art, wie sie gab, als besonders schlicht und vornehm.

»Noch etwas,« begann sie langsam und zögernd von neuem, »um für alle Fälle vorgesorgt zu haben: Ihrer nazarenischen Freundschaft vertraue ich meinen Sohn an, wenn ich ihm in seinen Kämpfen nicht selbst beistehen kann ... Darf ich das?« Sie fragte es ganz leise. Er aber nahm ihre schmale Hand, die er eine flüchtige Spanne Zeit in der seinen hielt.

»Gnädige Frau,« erwiderte er dann, indem er sie hilflos und gramvoll ansah, »liebe gnädige Frau, auch ich wage eine Bitte: Versprechen Sie mir, bevor Sie irgend etwas unternehmen, etwas das ...« die Stimme schlug ihm über, »versprechen Sie, noch einmal Auge in Auge mit mir zu stehen. Mein Wort darauf: Nach dieser Unterredung werde ich Ihnen nicht mehr lästig fallen.«

Ihre tiefliegenden Augen öffneten sich bei seinen Worten weit, und ein weicher, übersinnlicher Ausdruck verklärte ihre Züge.

»Das verspreche ich Ihnen,« sagte sie kaum hörbar.


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