Hans Hoffmann
Der eiserne Rittmeister
Hans Hoffmann

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Sechzehntes Kapitel

Der Rittmeister wird von den Franzosen eingefangen und Hildegard von Ulrich.

Auf dem Gipfel einer hohen Düne saß Hildegard einsam im tiefen Sande und blickte staunend in die feierliche Weite des Meeres hinaus. Seltsam schimmerten rings um sie her im Mondlicht die weißlichen Flächen, Abhänge und Kuppen des wunderbaren Sandgebirges, das sich mit dem schmalen Landstreifen der Nehrung nach zwei Seiten hin zwischen den großen Wassern ins Unendliche zog; Höhe und Tiefe, Düne und Strand, alles nackte, sandige Wellen und Wogen, unbewachsen und unbewohnt, eine ungeheure Wüste in all ihrer stillen Größe und mit all ihren Schauern. Dumpf rauschte die Brandung des Meeres aus mäßiger Ferne herüber, dicht am Fuße des steilen Gipfels spülten die leiseren Wellen des fernumgrenzten, schön ausruhenden Haffs.

Als sie lange so still in Andacht gesessen unter dem schweigenden Wandel der sommerlichen Sterne, ward sie aufgestört durch die nahende dunkle Gestalt ihres Geleitsmannes, des Physikus, die, mühsam über das schräge Sandfeld aufwärts pflügend, wunderlich bewegte Schatten auf die schimmernde Fläche warf.

»Meine allerschönste Demoiselle«, rief er ihr dicht unter der Höhe keuchend entgegen, »zum Trotz aller Gefahr, Sie in wertvollen Gefühlsübungen zu unterbrechen, dringe ich in Ihre lichte Höhe, um Ihnen die ganze Fülle meines Dankes auf einmal zu opfern. Alles ist in glücklicher Ordnung, meine Ladung in Sicherheit. Sehen Sie, dort unten streicht mein hoffnungsschweres Fahrzeug im Mondschatten der Dünen durch die Uferbinsen, um binnen kurzem abbiegend das Haff an der schmalsten Stelle zu durchkreuzen und jenseits seine Fracht in kundige Hände zu überliefern.«

386 Hildegard blickte aufstehend in der bezeichneten Richtung über das Haff hinüber.

»Was bedeuten dort hinten seitwärts die fünf – sechs roten Lichter, die wie Sterne auf dem Wasser zu schwimmen scheinen?« fragte sie nach einer Pause.

Der Physikus spähte, wohin ihre Hand deutete.

»Meine alten Augen reichen freilich nicht so weit«, sagte er, »doch wenn mich meine bewährte Ahnungsfähigkeit nicht diesmal täuscht, so werden es tugendhafte Fahrzeuge im Dienst der hohen Obrigkeiten sein. Da wird es freilich Zeit, unser kleines Boot im Dorfe zur Ruhe zu betten und uns selbst dem Auge des Argwohns zu entziehen. Ich vermute, Ihre Elbinger Kammerjungfer wird auch zufrieden sein, den Genuß dieser zweifelhaften Landschaft mit einem warmen Bette oder mindestens einer Koje zu vertauschen. – Ei der Tausend, ja, und jetzt sehe ich die Lichter auch. Wahrhaftig, drei – vier – fünf – sechs. Und bemerken Sie nur, wie eigentümlich die Linie derselben sich jetzt verschiebt; die Entfernung zwischen den einzelnen wächst; es ist offenbar, daß sie strahlenförmig auseinandersegeln, um alles Verdächtige unterwegs mit desto schönerer Sicherheit in ihrem Netze einzufangen.«

»Aber ich sehe die Lichter nicht mehr!« rief Hildegard auf einmal lebhaft, »in diesem Augenblick sind sie alle verschwunden.«

»Dann haben die böswilligen Subjekte sie ausgelöscht«, bemerkte der Physikus, »um die treuherzigen Menschen zu betrügen, die etwa zur Zeit auf dem Haff spazieren segeln oder gar in den Dünen Mondschein trinken. Nun, meinethalben, uns fangen sie nicht, wir sind eine Stunde früher als sie im Dorfe, auch wenn sie dorthin steuern; und vor mir liegt ein ruhiges Nachtquartier, vor Ihnen nach Belieben dasselbe oder die sichere Breite der offenen See. – Aber, was Teufel«, unterbrach er sich, nachdem er, im Begriff hinabzusteigen, noch einen flüchtigen Blick nach der Seeseite hinausgeworfen hatte, »was bedeutet nun dies? Sehen Sie dort auf See die drei schwarzen, langbeinig zappelnden Spinnen? 387 Entweder sind das auch Zollwächter – nein, kein Zweifel, es sind die Bösewichter, die den bestehenden Gesetzen zuwider sich aus dem Import von tödlichen Mordgewehren ein scheußliches Gewerbe machen. Kommen Sie, Demoiselle, der Zwischenfall gebietet beschleunigte Gangart; ich möchte um alles nicht in der Nähe so schlechter Menschen betroffen werden; sonst möchte selbst der ärztliche Reisebegleiter einer Dame mit geordneten Papieren, ja diese Dame selbst nicht völlig vor rohen Verdächtigungen sicher sein. Ich bitte Sie, eilen wir.«

Hildegard zögerte noch. »Wir werden den Leuten ein Warnungszeichen geben müssen«, sagte sie, »denn soviel ich aus Ihrer krausen Redeweise entnehmen kann, muß ich sie für gute Patrioten halten, die französischen Zwang durch preußische List zu umgehen suchen.«

»Ihr Scharfsinn ist bewundernswert«, entgegnete der Physikus, »und Ihre Absicht entzückend großherzig. Nur ausführbar ist sie freilich nicht. Sie unterschätzen die Entfernungen; die Leute werden nicht hier, sondern eine gute Strecke weiter nordöstlich landen; ich sehe es an ihrem Kurs. Sie, Mademoiselle, können selbst mit Ihren flinken Füßchen den Weg dorthin und zu unserem Boot zurück nicht machen, ohne sich und Ihre Freunde durch den Zeitverlust mit Sicherheit in die Arme der Zollwächter zu führen und vielleicht noch größerer Gefahr auszusetzen als jene Wildfremden dort. Man könnte doch durch einen bösen Zufall versteckte Waffen finden und uns mit einem häßlichen Verdacht belasten. Ich erlaube mir also ganz gehorsamst zu protestieren.«

»Ich muß Ihnen wohl recht geben«, meinte Hildegard unschlüssig, »und doch widerstrebt es mir, die Unglücklichen ungewarnt einem schrecklichen Schicksal zu überlassen.«

»Sie dürfen sich beruhigen, Demoiselle«, erwiderte der Physikus, »die Burschen werden sich selbst zu helfen wissen. Entweder sind sie schon gewarnt oder von Hause aus sehr scheue Vögel, sonst wären sie auf dem Haff wie wir und nicht auf der See gekommen. Dort steht ihnen für alle Fälle der Rückzug zu dem befreundeten Schiffe offen. – Wenn Sie aber durchaus eine Verschwendung von Christenpflichten 388 üben wollen, so rate ich, schicken Sie den Galgenvögeln vom Dorfe aus einen Boten nach. Es ist nicht unmöglich, daß ein solcher sie noch zur rechten Zeit erreicht. Auf jeden Fall wäre dies die einzige Möglichkeit, Ihrem guten Herzen Luft zu machen.«

Hildegard entschloß sich endlich, nachzugeben. Beide stiegen von der Düne durch stiebenden Sand hinab ans Haffufer und segelten längs desselben in westlicher Richtung von dannen.

Nicht lange danach trieben der Rittmeister und seine Genossen ihre drei Boote durch die Brandung auf den breiten Seestrand und gingen nach vorsichtiger Umschau unverzüglich an ihre Arbeit. Den tiefen, schweren Sand durchwatend, stiegen sie über die niedrige Vordüne und durch den ebenen Zwischenstrich die hohe Hauptdüne hinauf und fanden unter Ulrichs Führung leicht die Stelle, wo die Gewehre lagen. Es war ein tiefer, rundlicher Sandkessel, auf der Kammhöhe des Hügelzuges jäh einsinkend, von keiner Seite her früher zu bemerken, bis man hart an seinem Rande stand. In Abständen stellten sie sich niedersteigend in dem knietiefen Sande der steilen Kesselwand auf und warfen als Handlanger einander die einzelnen Gewehre aus den aufgeschnürten Packen zu, bis der letzte Mann auf der Höhe sie auffing und zu kleineren Bündeln geordnet nebeneinanderlegte. Nachdem so der ganze Vorrat hinaufgeschafft war, beluden sich die elf Männer nach Kräften und stiegen in langer Linie den sanfter geneigten Hang nach der Seeseite hinab.

Die erste Tracht, fast die Hälfte der ganzen Sendung, ward in das größte der drei Boote geladen, dieses mit vier Leuten bemannt und sogleich in See geschickt. Die übrigen machten den beschwerlichen Marsch noch einmal hin und beladen wieder zurück, und das zweite Boot steuerte mit weiteren vier Mann durch die Brandung hinaus. So war der größte Teil des Gutes und alle geworbenen Leute in Sicherheit gebracht; der Rittmeister, Ulrich und der wackere Pastor schickten sich an, das letzte Stück der Arbeit allein zu vollbringen.

389 Eben hatten sie die geringe Höhe der Vordüne erstiegen, als Ulrich einen Ruf der Überraschung und halben Schreckens ausstieß. Die anderen folgten der Richtung seiner Hand und erblickten in schimmernder Ferne einen dicht am Wasser hersprengenden Reiter, der bisweilen ein hell leuchtendes Tuch wie eine Fahne zu schwenken schien. Die drei warfen sich ein wenig zurückweichend in den Sand und spähten zwischen den dürren und seltenen Halmen des Strandhafers hindurch nach dem Nahenden aus.

»Es muß ein Bote sein von meinen Leuten«, sagte der Pastor, »und dann bedeutet's eine dringende Gefahr; wir werden darauf gefaßt sein müssen, den Rest unserer Ware in Stich zu lassen.«

»Ich springe noch hinauf«, rief Ulrich schnell, »hole, soviel ich tragen kann, und sehe zugleich, ob es auf dem Haff etwas Neues gibt.«

»Du bleibst hier«, befahl der Rittmeister kurz, »wir drei haben uns zusammenzuhalten; ein Narr, wer jetzt noch an eigene Heldentaten denkt. – Himmeldonner! Es ist ein Frauenzimmer.«

»Hildegard!« sagte Ulrich leise mit einer jähen Ahnung, ehe sein Auge noch irgend sie zu erkennen vermochte.

Doch er täuschte sich nicht; sie kam näher, schwenkte noch einmal das flatternde rote Tuch und erreichte das Boot, dessen Vorderteil im Sande festlag. Sie hielt ihr Pferd an und forschte umher; die Männer sprangen auf und eilten ihr entgegen zum Strande hinab.

Sie sprang sogleich und ohne Hilfe vom Pferde in den Sand, denn sie bedachte, daß ihr kurzer Reiserock den strengen Diensten eines Reitkleides nicht gewachsen war, und rief mit tapferer Stimme:

»Bitte, meine Herren, eilen Sie sich, lassen Sie alles im Stich, steigen Sie ins Boot und suchen Sie die hohe See zu gewinnen, wenn es noch möglich ist; die Zollwächter landen an mehreren Stellen und umzingeln Sie von allen Seiten; auch von der See her; im Dorfe war eine starke Abteilung; sie schossen auf ein Boot, das eben landen 390 wollte, und stiegen dann selbst in eins der Fahrzeuge, um es zu verfolgen, doch ist es entkommen und ein anderes auch, das ihnen begegnete; jetzt sind sie auf dem Wege hierher! Schnell! Nur fort von dieser Stelle, die Sie verraten oder verdächtigen muß; ich fahre mit Ihnen; trifft man uns unterwegs, ehe wir das Schiff erreichen, so hoffe ich Rat zu finden. Nur jetzt keine Zögerung.«

Sie sprach hastig, mit stockendem Atem, die Wangen glühend, die Augen niedergeschlagen; kaum ein Blick streifte Ulrich, der keines Wortes mächtig zur Seite stand.

»Vorwärts!« sagte der Rittmeister kurz, »wackre Marjell!« Und er half ihr ins Boot, um selbst ohne Verzug ihr nachzusteigen. Die anderen folgten dem Beispiel.

»Und das Pferd?« fragte Hildegard.

»Findet schon seinen Weg zurück«, sagte der Pastor und gab dem Tiere einen kräftigen Schlag auf den Schenkel, daß es mit gewaltigen Sätzen die Düne hinaufsprang und für eine Weile ihren Blicken entschwand. Nachher sahen sie es die geneigte breite Fläche der entfernteren Hauptdüne entlang rasen, vom fliegenden Sande umstäubt wie von weißem Wellenschaum, ein schwarzes, unheimlich bewegtes Gebilde auf den öden Hängen, die ruhig und licht im Mondschein wie riesige Schneefelder glänzten.

Schnell war das Fahrzeug abgebracht und durch die Brandung gesteuert. Ulrich und der Rittmeister ruderten, Hildegard saß ängstlich ausspähend bei dem Pastor, der das Steuerruder hielt. Ulrich suchte vergebens ihren Blick. Er wagte in dem Ernst der Lage keine Anrede. Plötzlich stieß der Rittmeister einen lauten Ruf aus. »Verflucht! Sie haben unsere Gewehre! Die Spürhunde! Aber da muß Verrat im Spiele sein.«

Da sahen auch die anderen dunkle Gestalten auf der höchsten Düne sich bewegen. Es war die Stelle, wo der Rest ihrer Waffen lag.

»So war es die höchste Zeit, daß uns die Warnung kam«, sagte der Pastor mit einem dankbaren Blick auf seine Nachbarin. »– Und wir sind doch verloren!« fügte er schnell hinzu und deutete aufs offene Meer hinaus, wo in nicht zu 391 großer Ferne jetzt die niedrige Masse eines Fahrzeugs sichtbar wurde, das bereits imstande sein mußte, ihnen mit Sicherheit den Weg abzuschneiden. Zugleich erscholl von der Dünenhöhe das Knattern von Gewehren herüber, zweifellos ein Signal für jenes gefährliche Boot.

»Dann, meine Herren«, rief Hildegard schnell, »ist es besser, jeden weiteren Fluchtversuch zu meiden; rudern Sie gerade darauf los; bleiben Sie unbefangen. Bitte, bemerken Sie: Sie sind meine Begleiter und Schützer auf der Reise nach Danzig; ich habe gute Geleitpapiere; eine romantische Laune, nicht wahr? verleitete mich zu dieser seltsamen Mondscheinfahrt. Vielleicht ist diese Ausrede scheinbar genug, um Sie zu schützen, wenn nicht vor dem Verdacht, so doch vor der Überweisung.«

»Ein kluger Gedanke«, sagte der Pastor nach kurzem Besinnen, »nur wird das Ziel Ihrer Reise Pillau sein müssen, mein Fräulein; denn daß dies Boot aus meinem Dorfe stammt, ist allzuleicht zu erweisen, und die Richtung von dort nach Danzig ist dies nun eben nicht.«

Ulrich fuhr zornig auf. »Fahren wir ihnen lieber in die Rippen«, rief er hitzig, »wie die Fischer drüben auf dem Haff dem anderen Franzosen, und wir haben die Bahn frei ohne sonderliche Künste und Ausflüchte.«

Der alte Pastor aber lenkte ruhig den Kurs des Bootes nach Nordosten herum. »Verehrter junger Freund«, sagte er, »solche wilden Kunststücke gelingen einmal, wo der Feind auf gar nichts vorbereitet ist; hier aber genügt eine Bewegung des mißtrauisch-aufmerksamen Gegners, die Sache umzukehren und uns selbst in die Wellen zu werfen. Das wird aber schwerlich nach dem Geschmack unserer jungen Dame sein. Ich denke, wir lassen es wirklich lieber in Frieden darauf ankommen. Unser gnädiges altpreußisches Gottchen wird uns nicht verlassen.«

Ulrich zuckte zusammen, senkte den Kopf und sprach nichts weiter dagegen. Der Rittmeister ruderte mit allen Kräften fort, starrte jedoch wie geistesabwesend in grimmigem Nachdenken schweigsam vor sich hin.

392 Das Zollboot, von einer vierfachen Ruderzahl getrieben, kam rasch näher, und bald zwang ein allzu vernehmbarer Ruf die Flüchtigen, beizudrehen oder es auf Feindseligkeiten ankommen zu lassen. Der Pastor warf das Steuerruder herum, und binnen kurzem lagen beide Fahrzeuge, durch Taue verbunden, Seite an Seite. Eine große Laterne beleuchtete mit grellem Licht die Gesichter der vier Gefangenen.

»Ah, siehe da«, rief die Stimme des Kapitän Schmälzle, »eine liebenswürdige Überraschung! Wenn ich vor einigen Sekunden gefragt worden wäre, wem ich in diesem Augenblick und an dieser Stelle von allen Menschen am liebsten begegnen möchte, ich würde ohne Besinnen erwidert haben: dem Herrn Rittmeister von Jageteufel. Und siehe, meine schönste Hoffnung ist erfüllt. Sie begreifen daher, Herr von Jageteufel, wenn ich mich nach solchem Wiederfinden nicht so eilig wieder von Ihnen zu trennen vermag, Sie vielmehr recht dringend ersuche, an meiner Seite auszuharren und mit mir gemeinsam zunächst an diesem öden Strande gewisse Tatsachen festzustellen, darauf aber in den meinem Befehl unterstellten Räumen Ihres heimatlichen Schlosses für einige Zeit feste Wohnung zu nehmen. – Wahrhaft bedaure ich, auch die anderen Herrschaften belästigen zu müssen, zumal sich eine so schöne Dame unter ihnen befindet, indessen der Herr Rittmeister selbst wird Ihnen auseinandersetzen, daß die Erfüllung der Pflicht auch jede Unhöflichkeit entschuldigt –«

Er verbeugte sich mit seiner gewohnten Artigkeit; Hildegard aber fiel ihm schnell in die Rede:

»Mein Herr, wollen Sie uns nur gütigst erklären, welche traurige Pflicht Sie zu der nutzlosen Unhöflichkeit zwingen kann, harmlose Reisende auf ihrem Wege aufzuhalten und vielleicht gar deren Abfahrt unliebsam zu verzögern. Ich beabsichtige, in Pillau ein Schiff nach Kopenhagen zu besteigen, und diese Herren hatten die Güte, mir ihre Begleitung und ihren Schutz zu gewähren, ja sogar meiner sentimentalischen Neigung, das Meer bei Mondschein in einem Nachen zu befahren, sind sie nachsichtig entgegengekommen – der Gedanke wäre mir abscheulich, ich sollte sie durch meinen 393 Übermut in Unannehmlichkeiten verwickelt haben. Wenn Sie sich vielleicht von der guten Ordnung meiner Reisepässe überzeugen wollen – ich stamme aus dem Großherzogtum Frankfurt, einer Frankreich treu verbündeten Macht –«

»Aber, ich bitte doch, mein gnädiges Fräulein«, sagte der französische Offizier, die gebotenen Papiere zurückweisend, »wie sollte mir nicht Ihr bloßes Wort genügen? Überdies bin ich vollkommen ausreichend über Sie und Ihre Reise unterrichtet: Fräulein Hildegard Hammer aus Frankfurt am Main verließ gestern um Mittag mit Extrapost unsere Stadt in der Richtung auf Elbing zu; genau um dieselbe Stunde verschwand ein mit ebendemselben Postwagen frisch angekommener Herr Ulrich Seybold, Architekt, ebenfalls aus Frankfurt am Main zugereist, in etwas geheimnisvoller Weise aus den Augen meiner Beamten; an welcher Stelle und durch welche Mittel derselbe etwa Ihren Wagen erreicht und bestiegen haben mag, ist mir unbekannt geblieben; vielleicht aber irre ich nicht, wenn ich Sie, mein Herr, unter dem Namen Seybold begrüße«, fügte er mit einer Verbeugung hinzu, die Ulrich schweigend erwiderte; »dieser Zufall aber würde mir nicht die geringste Veranlassung geben, störend in Ihre Reisepläne einzugreifen, wenn Sie mir nur freundlichst erklären wollten, wie der Herr von Jageteufel und jener andere unbekannte Herr dort mit diesen Plänen zusammenhängen, und wie dieselben in Ihre Gesellschaft gelangt sind.«

»Ich bin der Pfarrer des Dorfes Pröbbernau«, stellte der Unbekannte sich vor.

Hildegard ward selbst ein wenig überrascht durch die Standesbezeichnung des jägerhaften Greises, faßte sich jedoch mit raschem Geist und benutzte die Entdeckung für ihre Zwecke.

»Sie hören, Herr Kapitän –« sagte sie, sich über den Rand ihres Bootes beugend, mit leiserer Stimme, »und ich weiß nicht, ob der Zartsinn eines Franzosen Ihnen nach dieser Erklärung gestattet, hier noch weiter zu forschen –«

»Sie sehen mich unglücklich, dennoch dazu gezwungen zu sein«, versetzte der Kapitän, »denn immer noch weiß ich nicht, wie ich meinen Vorgesetzten die so ganz unvermutete 394 Anwesenheit des Herrn von Jageteufel deuten soll, falls dieser nicht etwa selbst«, fügte er laut hinzu, »mir Geständnisse zu machen hat, die geeignet sind, die übrigen Teilnehmer an dieser auffallenden Wasserfahrt zu entlasten –«

»Zum Teufel, ja, das kann ich und will ich!« brach hier der Rittmeister los, »es paßt mir durchaus nicht, daß hier unschuldige Frauenzimmer und Pastoren um meinetwillen sich die Finger verbrennen sollen. Wenn diese verfluchten französischen Windbeutel denn durchaus wissen wollen, was wir gegen sie zusammenbrauen –«

»Bitte sehr, Herr Rittmeister«, schnitt ihm Hildegard mit scharfer Betonung das Wort ab, »ich glaube nicht, daß Sie ein Recht haben, vor fremden Ohren meine Geheimnisse ans Licht zu ziehen. Herr Kapitän«, fuhr sie fort, sich zu diesem wendend, »Ihr französisches Zartgefühl wird begreifen – ein heimliches Verlöbnis – die Mutter und der Oheim, dieser Herr von Jageteufel, mißbilligen es; wir versuchten beide durch einen Fußfall zu rühren; vergebens. Da suchten wir unser Heil in gewaltsamer Flucht; der Herr Pfarrer hier ist ein alter Freund meines – des Herrn Seybold; von ihm hofften wir die kirchliche Einsegnung unseres Bundes zu erlangen; doch indem er schwankt und zögert, wird die Ankunft des Herrn von Jageteufel gemeldet, der uns verfolgt; wir entfliehen abermals, von dem guten Pfarrer geleitet, zu Fuß dem Strande folgend; der zornige Oheim eilt zu Schiff uns nach, entdeckt und erreicht uns – doch freilich gelingt es der Fürsprache des alten Freundes, ihn milder zu stimmen – vielleicht, daß wir schon auf seine Verzeihung hoffen durften, wenn nicht – Sie begreifen nun, Heer Kapitän, wie peinlich Ihr Eingriff uns überraschte, wie berechtigt meine Hoffnung ist, durch Ihren Edelsinn uns bald aus dieser unverdienten Gefangenschaft erlöst zu sehen –«

Der Offizier schien in der Tat durch den kecken Bericht ein wenig in Verwirrung gesetzt zu sein und zauderte mit der Antwort. Doch kam das Boot gerade in diesem Augenblicke in die Brandung, und die stärkeren Schwankungen fesselten für einige Minuten alle Aufmerksamkeit.

395 Eben aber, als der Kiel mit lautem Knirschen auf den Sand lief, kam ein kleiner Trupp französischer Soldaten von der Vordüne herab den Landenden entgegengeeilt, beladen mit den auf der Höhe gefundenen Gewehren. Der Rittmeister starrte finster auf die schlimmen Zeugen seiner Tat und folgte in stolzem Schweigen der Aufforderung, ans Land zu treten. Alle anderen, Freund und Feind, taten das Gleiche, und nun standen die vier Gefangenen inmitten ihrer Wächter, deren Reihe jedoch weit auseinandergezogen sie nur in entfernterem Kreise umgab. Der Kapitän allein blieb bei ihnen stehen und begann jetzt mit einem Lächeln, das nur noch eine unbefangene und leicht überlegene Liebenswürdigkeit zeigte:

»Mein Fräulein, das edle und zarte Vertrauen, mit dem Sie mich durch Ihre anmutige Aufklärung eines finsteren Rätsels beehrt haben, verpflichtet mich zu der rückhaltlosen Mitteilung eines Sie vermutlich näher angehenden Vorfalles – im Hinblick auf die hierselbst soeben im Dünensande von meinen Leuten aufgefundenen Waffen, deren landesverräterische Bestimmung keinen Zweifel unterliegen kann. Das Vorhandensein einer solchen geheimen Waffensendung in eben dieser Gegend wurde mir heute früh zur Anzeige gebracht durch einen herrschaftlichen Diener Namens Reff; dieser bekundet gleichzeitig mit Bestimmtheit, Veranstalter und Unternehmer des vorliegenden staatsgefährlichen Schmuggels sei kein anderer als ein gewisser zugereister Herr Doktor Hartmut Hammer, wohnhaft zu Heidelberg im Staate Baden, gebürtig aus Frankfurt am Main. Selbstverständlich gebot mir meine Pflicht, den so Beschuldigten unverzüglich festzunehmen und eine strenge Untersuchung mit ihm anzustellen. Obgleich nun diese bisher durchaus nichts ergeben hat, das zu seiner Entlastung dienen könnte, bin ich dennoch im Herzen ein wenig geneigt, ihn für minder schuldig, vielleicht für das Opfer eines Irrtums zu halten, und ich würde nicht einen Augenblick zögern, ihn mit allen Ehren in Freiheit zu setzen, sobald es mir irgend gelänge, den wahren Hauptschuldigen des geplanten Landesverrates festzustellen und zur 396 Verantwortung zu ziehen. Bis dahin freilich bleibt der Verdacht auf ihm haften, und der Verdacht, als auf einem ausdrücklichen Zeugnisse beruhend, kann sich sehr bald zur Gewißheit steigern, falls nicht eine andere Aufklärung des seltsamen Falles gelingt.

Sie begreifen daher, mein Fräulein, daß Sie ein vielleicht noch ernsteres Interesse daran haben, zur Entdeckung des wahren Täters mitzuwirken, als ich selbst.«

Hildegards zuversichtliche Haltung war völlig gewichen; entsetzt und fassungslos stand sie da.

»Mein Herr«, rief sie leidenschaftlich, »nie hätte ich einen Franzosen der Grausamkeit für fähig gehalten, mich vor eine solche Wahl zu stellen – ich soll einen Bruder leiden sehen oder einen anderen Unschuldigen verklagen –«

»Einen Schuldigen, muß ich sehr bitten«, bemerkte der Franzose trocken mit einer leichten Verbeugung.

»Der Schuldige bin ich, Herr Kapitän«, rief hier Ulrich rasch vortretend, »ich brachte die Waffen von Danzig hierher und versuchte sie weiterzuführen. Sie haben das Recht, mich in Haft zu nehmen, und die Pflicht, Ihre anderen Gefangenen zu entlassen.«

»Der Junge lügt«, rief der Rittmeister schnell dazwischen, »der Herr Kapitän weiß selbst am besten, wer der Täter ist. Ich stehe zur Verfügung. Der Junge hat ganz andere Dummheiten im Kopf als Waffenschmuggel.«

Doch auch der alte Pastor zögerte nicht, sich selbst zu verklagen. »Halt«, rief er, »das kann ich nicht mit anhören. Herr Kapitän, dies sind junge Leute, die schwatzen, was sie nicht verantworten können, um mich alten Sünder aus der Patsche zu ziehen. Ich bin der, den Sie suchen, und kann es beweisen. Kann es beweisen, sage ich. Die anderen können das nicht. Dazu bin ich ein alter, wurmstichiger Kasten, bei dem es nicht darauf ankommt, ob er heut oder morgen dem lieben Herrgott Bericht erstattet, wie es hier unten in seinem Preußen aussieht. Machen Sie mit mir, was Sie wollen.«

Der Kapitän verbeugte sich höflich gegen alle drei, wandte sich aber sogleich wieder an Hildegard und sprach:

397 »Sie sehen, mein Fräulein, wie sehr Sie unrecht hatten, mich irgendeiner Grausamkeit anzuklagen, da ich mich doch im Gegenteil einer seltenen, ja fast unerhörten Milde berühmen darf. Sie hören ja selbst, wir haben nicht einen, sondern vier Schuldige, alle geständig: ich müßte sie also nach strengem Rechte alle vier in Haft behalten und vor das Kriegsgericht stellen. Statt dessen, sehen Sie, begnüge ich mich mit einem, schenke dreien die Freiheit: und Ihnen, mein Fräulein, überlasse ich das schöne Gnadenrecht, drei Ihrer Freunde vom Tode zu erretten; so und nicht anders bitte ich diese Wahl nur aufzufassen. Ich ersuche Sie ernstlich, entscheiden Sie, solange es Zeit ist; ich verlange nichts als Ihr Zeugnis, allerdings Ihr gültiges Zeugnis vor dem Kriegsgericht: dieser eine ist schuldig; eine Aussage über die anderen verlange ich nicht. Noch einmal: Ihre Aufgabe ist es nicht, einen Menschen zu verklagen, sondern drei schon geständige Angeklagte trotz dieses Geständnisses freizusprechen; und der eine von diesen ist Ihr leiblicher Bruder. Wählen Sie.«

Hildegard blickte entsetzt und starren Auges lange Zeit zu Boden und schwankte schaudernd. Als sie immer noch schwieg, begann der Franzose noch einmal:

»Sie zaudern vielleicht aus stiller Furcht, dem einen vor den anderen gleich Schuldigen unrecht zu tun. Ich sage Ihnen, diesem einen geschieht nichts, was ihm nicht dennoch sicher wäre, mit den anderen oder ohne die anderen: halten Sie nun einen von diesen Herren für so niedrig gesinnt, daß er lieber, als allein zu leiden, die Genossen mit sich sterben sähe? So schlecht denke ich nicht einmal von einem Feinde.«

Jetzt raffte sie sich mit hartem Entschlusse zusammen.

»Ihr Ehrenwort, daß die anderen frei sind?« fragte sie zitternd.

»Mein Ehrenwort als Offizier des Kaisers.«

»Nun denn«, sprach sie hastig, »soll der schwere Augenblick mich nicht feige finden. Und also erkläre ich feierlich: Hier den Herrn Pfarrer kenne ich noch nicht seit einer Stunde; unmöglich aber vermag ich eine solche Tat seinem Alter und 398 seinem Stande zuzutrauen; an seiner Unschuld kann kein Zweifel sein. Nicht anders jener Herr Seybold: obgleich ich ihn von Ansehen ein wenig länger kenne, so doch nur von Ansehen; sonst ist er mir wie der fremdeste Mensch; ein Verbrechen wie dieses aber kann auch er nicht begangen haben, ganz sicherlich nicht, denn ich weiß aus guter Quelle, er müßte zuvor seine Mutter um Erlaubnis fragen, und seine Mutter würde es ihm verboten haben. Er ist von jedem Verdachte frei. Daß endlich mein Bruder keinen Teil hat an solchem wilden Heldenstück, haben Sie selbst schon vermutet, Herr Kapitän, ich brauche es durch mein Wort nur einfach zu bestätigen. So bleibt denn einzig noch in Frage der Herr Rittmeister von Jageteufel. Ihn habe ich kennengelernt als einen Mann von starkem und reinem Sinn, von kühnem Trotz und herzlichem Eigensinn und vor allem von einer Offenheit und Wahrheitsliebe ohne Grenzen: wenn er sagt, wie er es sagt: Ich habe diese Tat getan! so glaube ich es ihm und schwöre auf sein Wort mehr als auf mein eigenes. Ja, Herr Kapitän, ich habe mit Augen gesehen und bestätige es: dieser Mann ist schuldig des Verrates an Ihrem Kaiser und Ihrem Reich und schuldig der höchsten Treue gegen sein eigenes Vaterland. Und ich füge hinzu: dieser Mann ist würdig, für sein Vaterland zu sterben. Dies ist das Zeugnis, das ich abzulegen habe; ich zweifle nicht, daß Sie jetzt Ihr Versprechen erfüllen und meinen unglücklichen Bruder befreien werden.«

Ehe sie noch ganz geendet, trat der Rittmeister vor, ergriff ihre Hände, schüttelte sie kräftig und rief in freudiger Erregung:

»Wacker, mein schönes Fräulein, wacker! Das war geredet wie ein Mann. Weg mit den verfluchten Lügen, es ist wider die Menschenwürde. Mit dem Jungen aber können Sie sich wieder vertragen, wenn Sie wollen, meinen Segen hat er jetzt, und er ist doch besser, als er scheint. Sehen Sie, ich bin auch ein schäbiger, alter Lügner und feiger Schwächling gewesen, aber bei Gott, ich will's nicht bleiben! Ich werde mit Wahrheit und Anstand und Ehren sterben, und 399 die Jungen sollen doch noch an mir ein ordentliches Beispiel sehen, daß unser Immanuel Kant einen Menschen wohl zum Narren, aber niemals ganz zum Lumpen werden läßt. Und es wäre hübsch von Ihnen, mein Kind, wenn Sie den Jungen unter Ihre Fuchtel nehmen wollten, da er mich nun nicht mehr hat. Ich sage Ihnen, Sie können etwas aus ihm machen, das Zeug zu einem guten Preußen hat er. Nur ein tüchtiges Frauenzimmer, wie Sie sind, fehlte ihm noch; versuchen Sie's mit ihm! – Herr Kapitän, ich stehe zu Ihrer Verfügung.«

»So habe ich nur noch hinzuzufügen«, erklärte der Offizier gelassen, »daß ich mein gegebenes Versprechen in jedem Sinne zu halten gewillt bin, sobald das kriegsrechtliche Urteil gegen den Angeklagten ergangen sein wird. Bis dahin freilich muß ich mich der Herren als Zeugen oder Geiseln vergewissert halten; es könnte doch sein, daß jener sein Geständnis zu widerrufen sich versucht fühlte. Ich bitte Sie daher alle, mir meine bedauerliche Aufgabe zu erleichtern und uns ohne Widerstand auf der Heimfahrt zu begleiten, die wir nach Auffindung des corpus delicti sogleich von dieser Stelle aus über Pröbbernau antreten können, woselbst von der Haffseite her sich auch meine anderen Boote sammeln werden. Selbstverständlich wird Ihnen jede Freiheit der Bewegung verbleiben, nur, daß Sie die Stadt selbst nicht verlassen dürfen. Ich beklage es, so strenge Maßnahmen treffen zu müssen, und bitte darin kein persönliches Mißtrauen zu erblicken; die Sachlage zwingt mich. Den Angeklagten fordere ich auf, mit mir mein Fahrzeug zu besteigen; die anderen Herrschaften mögen es sich nach Belieben in deren eigenem Boote bequem machen; zwei meiner Ruderer stehen Ihnen zu Diensten.«

Als der Rittmeister sich anschickte, an Bord zu steigen, eilte der alte Pastor ihm nach, fiel ihm um den Hals und sagte:

»Alter Freund! Es wäre mir lieber, ich könnte an Ihrer Stelle gehen, denn ich bin älter und schwächer; aber da hilft kein Sträuben, ich sah es gleich, dieser Heide hat es auf Sie 400 abgesehen und keinen anderen; darum hat das feine Marjellchen klug gewählt, denn Sie hätten doch dran glauben müssen. Sie haben von je zu viel Geschrei im Lande gemacht, das ist's, Sie waren ohne Falsch wie die Tauben, aber nicht klug wie die Schlangen; das bricht Ihnen den Hals. Aber lassen Sie gut sein, unsere Waffen liegen sicher bei mir und meinen Gräbern, die stiehlt uns kein Teufel; und wenn's losgeht, schlage ich für Sie mit, daß Sie vom Himmel herunter Ihre Herzensfreude haben sollen; die alten Knochen leisten's noch, denn ich sage Ihnen, ich brauche nicht mehr viel älter zu werden als heute, bis es losgeht. Und dann geht's grimmig los; denn es gibt viel zu rächen, und unser gnädiges altpreußisches Gottchen verläßt uns nicht. Leben Sie wohl, Kamerad, beim Alten Fritz droben sehen wir uns wieder; und ich werde viel zu erzählen haben.«

»Ich verlasse mich auf Sie, und auf dich, Ulrich«, sagte der Rittmeister und stieg gelassen ins Boot. Ulrich beugte sich stumm über seine Hand und küßte sie.

Hildegard war, um ihre Erregung zu bemeistern, aus dem Kreise der Männer zurückgewichen und stand einige Schritte abseits, ohne von jemandem gestört zu werden, als plötzlich Ulrich dicht an sie herantrat und mit gedämpfter Stimme zu ihr sprach:

»Fräulein Hildegard, ich muß mit Ihnen reden, ich habe Ihnen noch etwas zu sagen –«

»Ich bin nicht so begierig, etwas zu hören, was nicht vor aller Ohren gesagt werden kann«, entgegnete sie scharf, »ich habe Aufklärungen weder zu geben noch zu stellen.«

Sie machte eine Bewegung, sich dem Boote und den damit beschäftigten Leuten wieder zu nähern; er aber griff sie hart bei der Hand, zog sie gewaltsam durch den Sand noch etwas weiter hinauf und redete hastig dringend in sie hinein:

»Ich aber verlange sie – Sie müssen mir Rede stehen, Fräulein Hildegard, ich fordere es und will es, und müßte ich Sie zwingen.«

»Wer gibt Ihnen das Recht, mein Herr«, unterbrach sie 401 ihn trotzig, »mit einer fremden Dame in diesem Tone zu reden?«

»Sie selbst gaben es mir«, versetzte er finster, »indem Sie Kränkungen und Beleidigungen auf mich häuften, welche einer Dame, die mir fremd wäre, nicht zuständen. Sie haben sich damit selbst des Rechtes der Fremdheit begeben und mir eine stille Macht über Sie geschafft, die ich benutzen will. Wen man angreift, dem gibt man auch das Recht, sich zu verteidigen. Ich stehe hier im Stande der Notwehr. – Und dann noch ein anderes – ich habe noch ein höheres und reineres Recht an Sie, und will auch das ungescheut jetzt geltend machen: Hildegard, ich habe Sie geliebt vom ersten Tage an, da Sie vor mir standen in Ihrer Lichtheit wie eine heiter wandelnde Göttin, ich habe Sie geliebt so herzlich hingegeben, wie ein Mann nur je zu lieben vermochte, und solche Liebe hat immerdar das Recht, sich eine ernste und dankende Antwort zu fordern, denn es ist nichts Kleines, was ein Mann mit solcher Liebesfrage dahingibt, und keine Königin hat das Recht, über eine solche Frage höhnisch spielend hinwegzugleiten, mag ihr Herz auch kalt geblieben sein wie Eis –«

»Verzeihen Sie, mein Herr«, fiel sie ihm mit kühlem Wort und dumpf erregtem Ton in die Rede, »wenn Sie von Liebe sprechen, so muß das wohl eine besondere Art von Liebe, vielleicht eine preußische Liebe sein, eine militärische Liebe, die auf Kommando rechtsum und linksum kehrt macht, heute verzichtet, um morgen mit obrigkeitlicher Erlaubnis wieder anzutreten – bei uns zulande aber gibt man einem Mädchen das Recht, von einem Manne, den es erhören soll, ein ganzes Herz zu fordern, ein halbes Herz aber zu verachten und zu verspotten, so ein wankelmütiges, feiges, schwächliches Herz, das nach der Laune einer Mutter zwei Geliebte zugleich verschmäht und begehrt in reizendem Wechsel –«

»Hildegard!« rief er in aufwallendem Zorn, »Sie lästern, denn Sie schmähen wider eigenes besseres Wissen. Eines Kleinmuts mögen Sie mich beschuldigen, ja: daß ich nicht wagte, an die Möglichkeit Ihrer Gegenliebe zu glauben, daß ich 402 schwieg und zagte, weil seltsam grübelnde Bedenken meine Hoffnungen lähmten und gefangen hielten; aber Sie wissen auch, durch welchen jahrelangen Gedankendruck mein trotziges Begehren in solchen Kleinmut hineingezwängt worden; denn wenn es wahr ist, daß ich Ihnen nicht ein ganzes Herz zu bieten habe, so ist es nur deshalb wahr, weil Sünde und Buße mein Herz zur Hälfte zerstört und gebunden hatten. Und weil ich diese Halbheit meiner Seele selbst mit tiefer Bitterkeit empfand und doch wußte, daß eine Erlösung und Heilung mir nur möglich war durch die Gnade meiner Mutter, so wählte ich diese in der grausamen Wahl, die mir auferlegt wurde, und gab die Liebe verloren, die mir ja doch verloren war – ja, Hildegard, und mir auf ewig verloren geblieben wäre, denn Sie sagen es ja: ich hatte Ihnen kein ganzes Herz zu bieten. – Das wußten Sie alles und sind in alle diese Leiden eingeweiht: und dennoch kommen Sie nun her und bezichtigen mich des Wankelmutes oder ducknackiger Feigheit, und Sie schmähen und verwerfen mich, ehe Sie mich auch nur gehört haben.

Darum aber sage ich Ihnen jetzt: Sie haben auch nicht einmal das Recht, mir schüchternen Kleinmut vorzuwerfen. Nein, indem Sie mich beschuldigen, rechtfertigen Sie mich. War es denn etwa falscher Kleinmut, wenn ich nicht an Ihre Gegenliebe glaubte? War es nicht ahnungssicherer Scharfblick meines ehrlichen Gefühls? Ja, lassen Sie mich Ihnen gestehen: in dem schönen, schrecklichen Augenblicke, da mir wie durch eine Wundererscheinung offenbart wurde, welche herrliche Tat Sie für mich getan, wie wunderbar rein und groß Sie mit mir empfinden konnten, da wollte mein erlöstes Herz aufwallen im heiligen Jubel, vermaß sich stolz an Ihre Liebe zu glauben und warf alles andere hinter sich, alles, was mich gedrückt und gebunden hielt. In diesem einen Augenblicke ward es umgeschaffen zu einem gesunden und ganzen Herzen. Ich schämte mich des Kleinmuts, der mich auf Glück verzichten ließ. Nun aber weiß ich, diese Scham war falsch, und der Verzicht war richtig: ich habe mich mit der neuen Hoffnung selbst betrogen wie 403 ein anmaßlicher Knabe. Ihre Tat war nichts als Ihre Quittung über eine Wohltat, die Sie von mir empfangen zu haben wähnten und die doch in Wahrheit nichts war als das Vermeiden eines Schurkenstreiches; den vermied ich um meinetwillen und nicht um Ihretwillen: Ihr kleiner Stolz aber vermochte auch das nicht einmal von mir zu ertragen. Und in der Tat, Wohltaten empfängt man freudig nur von Menschen, die man liebt. Und nun ward leider Ihr kleiner Stolz noch tiefer gekränkt, als Sie entdecken mußten, daß Sie nicht die einzige Beherrscherin meiner armen Seele waren, daß Sie eine Nebenbuhlerin hatten – in einer Mutter. Das aber behagte Ihrer Laune nicht; da Sie nicht hochmütig thronen konnten im Bewußtsein Ihrer Einzigkeit, so machten Sie schnippisch kehrt und rauschten von dannen – jawohl, mein Fräulein, Sie haben ein ganzes Herz, das ganz einig ist mit sich selber und ganz ausgefüllt von sich selber; wie sollte Ihnen mein halbes Herz genügen, das seinen Stolz und seine Liebe trostlos einer ungeheuren Pflicht zum Opfer brachte? Nein, nicht kleinmütig war ich da, sondern klug und wissend. – Aber sehen Sie, liebes Fräulein, eines hätten Sie doch bedenken sollen: dies halbe Herz gehörte doch Ihnen, das wußten Sie, und daß Sie dies schwache Herz so furchtbar, so vernichtend kränken konnten durch Ihren Spruch, der mich für unwürdig erklärte, fürs Vaterland und für meine Freunde zu sterben – Hildegard, warum haben Sie mir das getan? Das habe ich nicht um Sie verdient. Hildegard, wie konnten Sie so lieblos sein, mir diese Gunst eines schönen Todes zu verweigern?«

Sie stand eine Weile wie versteinert, bleich, in sich versunken; plötzlich schluchzte sie tief auf und hauchte in einem Ton, der halb wie Jammern, halb wie unterdrückter Jubel klang:

»Nein! Nein! Nein! Nicht darum! Nicht unwürdig! – Ich dachte daran – was ich dem anderen bewundernd sagte, das galt heimlich Ihnen – aber – aber – ich war zu schwach – Ulrich, nein, Sie kann ich nicht sterben sehen!«

404 Da faßte er ihre beiden Hände, drückte sie, sah ihr ins Auge und sagte leise:

»Hildegard, Geliebte, dann sollst du mich leben sehen!« Sie hielten sich still bei der Hand und wandelten langsam wie im Traum zu den anderen zurück. 405

 


 


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