Hans Hoffmann
Der eiserne Rittmeister
Hans Hoffmann

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Vierzehntes Kapitel

Kato von Utica.

Ulrich saß immer noch still zu den Füßen seiner Mutter; ihre Hand ruhte weich und kühl auf seiner Stirn; eine leise Erinnerung umwehte ihn, wie er manchmal als kleines Kind durch einen freundlichen Druck dieser selben Hand in sein Bettchen zurückgedrängt wurde und dann sogleich in behaglichem Gehorsam weiterträumte.

»Weißt du noch«, begann Frau Doris wieder nach einem Schweigen, »als Knabe, wenn wir dich hereinriefen zum angezündeten Weihnachtsbaum, da verstecktest du dich erst noch eine Weile im Dunkeln und liefst auch wohl nach dem ersten fröhlichen Blick ins Helle noch einmal hinaus und suchtest dir so die höchste Freude mit Gewalt noch ein bißchen hinauszuschieben. Siehst du, und geradeso möchte ich jetzt gern die Augen immer noch einmal wieder abwenden oder schließen und mag es noch gar nicht wagen, mir meinen neuen großen Jungen so recht von ganzem Herzen zu besehen. – Und jetzt tue ich es aber doch!« jubelte sie, hob sein bärtiges Gesicht mit beiden Händen empor und sah wie ein beschenktes Kind ihn mit großen, strahlenden Augen an. Er küßte ihre Hand und flüsterte:

»O meine gnädige, gnädige Mutter!«

»Die Haare mußt du dir nur ein bißchen kürzer schneiden«, plauderte sie. »Der Bart aber steht dir gut, und mit deinem Anzug bin ich auch zufrieden. Und die Haare natürlich auch beileibe nicht so kurz, wie sie Onkel August trägt! Das macht ihn so borstig aussehen. Du lieber Gott, freilich, ja, das ist er eben auch. Und ganz abscheulich war es doch von ihm, daß er mir das köstliche Weihnachtsgeschenk so verdorben hat, das ich für dich mir zurechtgelegt hatte mitten im Sommer. Das liebe, herrliche Mädchen! Daß er von dieser schrecklichen Schrulle nicht lassen kann, als ob es in der Welt kein Glück 341 und keine Liebe gäbe! Er freilich, das ist das Traurige, hat dieses Glück im Leben nicht kennengelernt. Du aber laß es dir niemals ausreden, lieber Sohn, von keiner Weisheit und von keiner Philosophie: es gibt wahrhaft und wirklich auf der Erde ein volles und hohes und lange dauerndes Glück; und das kann jeder Mann gewinnen, der eine geliebte Frau bekommt, und jedes Mädchen, wenn es sich mit ganzer Liebe einem Manne zu eigen gibt. Daran ist gar nicht zu rütteln, Tausende wissen es und aber Tausende aus langer, goldener Erfahrung; bloß sie schweigen darüber, weil man von einem so klaren, festen Glücke nicht viel Redens macht. Laß es dir nicht ausreden. Bloß sehr lieben muß man die Frau oder den Mann, ganz und gar lieben – das ist alles. Also halte du fest an deinem Glücke und fürchte dich nicht vor seinem Zorn; verzeih' ihm aber auch und trage ihm nicht nach, was er in dieser Nacht an dir gesündigt hat. Sieh, es ist am Ende noch ganz hübsch, daß er uns einmal ein bißchen gutes Recht, uns gegen ihn zu empören, gegeben hat: wir müßten ja sonst wohl ganz und gar vergehen vor Dankbarkeit und würden sein wie die Kinder, die gar nichts mehr anfangen dürften, ohne ihn erst um seine Meinung zu fragen. Und das ist doch auch nicht das Richtige.«

Sie küßte ihn auf die Stirn und strich ihm leise über das Haar, wie man ein heißblütiges Kind beruhigt. Ulrich blickte mit freudigem Ernst zu ihr auf und sagte:

»Wie weich Sie zu meinem Herzen zu reden wissen, Mutterchen! Und es ist gut, daß Sie auch die letzten Zuckungen des Zornes in mir besprechen. Doch glauben Sie mir, ich hatte die tiefste Bitterkeit schon selbst in mir überwunden. Vielleicht muß ich ihm gar auch dies noch zu seinen Wohltaten rechnen, daß er mich zwang, in dieser schrecklichen Nacht mich auszutoben und dann nach hartem Kampf erst in mir selber klarzuwerden über mein Tun. Gestern war's nur ein Wirbelwind des Schmerzes und der Leidenschaft, der mich hinriß, seinem Zwange mich zu versagen; heute kann ich dasselbe tun mit gefestigtem Wissen und in ruhiger Freiheit. Da kann ich ihm denn seine Härte wohl leicht verzeihen und will froh 342 sein, wenn er selbst keinen längeren Groll gegen mich im Herzen nährt. Hierin aber hoffe ich am meisten auf Sie, Mutter; Ihrer weichen Bitte wird auch sein Starrsinn nicht lange standzuhalten wissen. Und indessen Sie dies mit linder Hand vorbereiten, gönnen Sie mir jetzt ohne Zögern Hildegard nachzueilen; noch wird es möglich sein, sie einzuholen, ehe ihr Vorsprung sie ihrer Heimat allzuweit wird entgegengeführt haben. Denn freilich wäre es mir schmerzlich, nach so flüchtiger Freude des Wiedersehens schon wieder von Ihnen und der Heimat Abschied zu nehmen, vielleicht auf lange Wochen. Ich hoffe mit einiger Sicherheit, sie unterwegs zu ergreifen, denn sie wird schwerlich abweichen von der großen Reisestraße. Geben Sie mir Urlaub und lassen Sie uns zum Onkel Rittmeister hinabgehen, vielleicht, daß wir ihn in weicherer Stimmung treffen. Er wird gegen Sie so hart nicht bleiben können.«

Die Mutter seufzte laut.

»Das fürchte ich denn nun doch; ich kenne zu gut seine eiserne Stirn. Noch ist an ein Nachgeben gar nicht zu denken. Allein auch ich bleibe nun fest auf meinem Willen gegen ihn; so darfst du getrost auf das Gebot deiner Mutter trotzen. Das eine aber erlaß mir jetzt, mit dir zu ihm zu gehen. Daß ich's gestehe, mir widerstrebt es herzlich, ihn so zu sehen als einen plump Überlisteten in seinem eingebildeten Elend; vielleicht daß ich im Übermute meines Glückes ein häßliches Lächeln doch nicht bezwingen könnte. Du wirst dich besser in der Gewalt haben und dir nichts merken lassen. Es wäre furchtbar, wenn er je erführe, wie an ihm gefrevelt wurde; er würde es kaum verwinden; er ist so sehr empfindlich gegen jedes Lachen, das auf seine Kosten geht. Auch könnte er im Zorn den Physikus es schwer entgelten lassen und hätte ein Recht dazu; um uns hat dieser das nicht verdient. Du entsinnst dich dieses merkwürdigen Mannes noch?«

»Wie sollte ich nicht?« entgegnete Ulrich. »Ein drolliger Kauz, voll Witz und verführerischer Einfälle, doch hämisch lachend, unfreudig und von seltsamer Frechheit in seinen Gedankengängen. Die Natur hat ihn freilich übel ausgestattet für ein heiteres Hinleben.«

343 »Du wirst ihn vermutlich unten beim Onkel finden. Begrüße ihn freundlich, er meinte es gut mit uns, so garstig auch sein Anschlag war. So komm denn hinunter; ich warte im Garten auf deinen Bericht.« –

Als Ulrich das kleine Vorzimmer, das zum Schlafgemach des Rittmeisters führte, durchschreiten wollte, fand er dort auf der Truhe einen Menschen sitzend, den Kopf schwer gegen die Wand gelehnt, mühsam atmend und totenbleich. Er erkannte den Physikus, beugte sich hastig über ihn und suchte ihn aufzurichten. Doch dieser wehrte ihn ab und keuchte in unterbrochener, doch verständlicher Rede:

»Lassen Sie, es ist schon vorüber – ein bißchen Herzkrampf – in fünf Minuten tanze ich auf dem Seil, mein Mittel hilft unfehlbar – lassen Sie mich allein – Aufregung ist schädlich – gehen Sie nur hinein, das wird noch ein Hauptspaß – kenne Sie – ich bitte dringend, lassen Sie mich – ich sitze gut hier, Sie regen mich auf – es ist schon vorbei –«

Ulrich merkte, daß sein Beistand hier in der Tat weder erwünscht noch von Nutzen sei, daß auch der Atem allmählich ruhiger und leichter ging, und so entschloß er sich, jenen trotz dessen übler Lage für eine kurze Weile allein zu lassen.

Als er in das Schlafzimmer trat und den Rittmeister im Bette fand, das Gesicht mit Pflastern beklebt, verstört und blaß, da erschrak er ganz ernstlich und verlor fast den Gedanken an ein bloßes Possenspiel, so daß es ihm leichter wurde, ohne große Verlegenheit nach seinem Befinden zu fragen.

Der Alte sah ihm mit einem düstern Blick entgegen und sagte dumpf und müde:

»Das ist nichts. Laß dich die Kleinigkeit nicht kümmern. Ein paar Schmisse ohne Belang. Das ist nichts. Aber ein anderes gibt's, das mich zu Boden schlägt. Mitten ins Herz bin ich getroffen, das ist's. Ich bin ein morscher Stamm, durchhöhlt, zerfressen, verfault, das ist's. Laß den Alten zum Teufel fahren, mein Junge, es ist nichts an ihm verloren.«

Ulrich ward tief betroffen, mehr noch durch den verzweifelten Ton als den Sinn dieser Worte, und bat mit besorgter Teilnahme:

344 »Regen Sie sich jetzt nicht auf, teurer Onkel, Ihre Wunden –«

Er stockte doch bei der Heuchelei.

»Laß gut sein, mein Kind«, fuhr der Rittmeister ruhiger fort, »nur die eine Wunde ist schwer; und die ist unheilbar. Setze dich hier neben mein Bett, ich habe dir noch etwas zu sagen; so; und nun höre und unterbrich mich nicht. Ich weiß es, ihr alle seid gegen mich verschworen, du, deine Mutter –«

»Lieber Onkel –« rief Ulrich mit lebhaftem Einspruch.

»Wer hat dich herausgelassen?« fragte dieser kurz.

»Meine Mutter«, antwortete Ulrich.

»Und woher weiß diese deine Anwesenheit und deinen Aufenthalt?« forschte der Alte weiter.

»Wie ich höre«, entgegnete Ulrich, »erfuhr sie es durch den Herrn Physikus.«

»Nun siehst du«, fuhr der Rittmeister gelassen fort, »da hast du den Beweis eurer Verschwörung. Mit jener Schlange habt ihr euch eingelassen. Aber unterbrich mich nicht. Ich will euch nur sagen: Ihr habt klug und recht getan. Die Schlange hat die Wahrheit gesprochen, und ich war ein Lügner von Grund aus mein Leben lang, ein elendiger Selbstbetrüger. Ich war schlimmer als ihr alle, die ihr große Lügner seid. Sieh, mein Sohn, ich habe dir vertraut und habe deiner Mutter vertraut, und ihr habt eine arge Täuschung an mir geübt. Doch das ist nichts: denn es gab einen anderen, dem ich zehnmal noch mehr vertraute, auf dessen Ehrlichkeit ich trotzte wie auf einen Felsen, einen Mann, den ich in Erz gepanzert glaubte gegen die Lüge durch den heiligen Schild des kategorischen Imperativs: und dieser eine betrog mich zehnmal mehr als ihr alle, nicht heute und nicht gestern, sondern Jahre, lange Jahre hindurch, einen Tag wie den anderen – und dieser eine Schandgeselle war kein anderer als ich selbst. Ich, der Rittmeister August von Jageteufel. – Ja, mein Kind, und vielleicht bist auch du des zärtlichen Glaubens, ich hätte ein Leben lang mich redlich bemüht, nach dem großen Gebote unseres Kant getreulich zu denken und zu handeln, immerfort bei jeglichem Wollen und jeglichem Tun die Pflicht 345 ausschließlich im Auge zu haben und niemals das eigene Glück und die eigene Neigung?«

»Ja«, rief Ulrich mit Feuer, »und das ist noch meine heilige, unerschütterliche Überzeugung. Groß, rein und uneigennützig haben Sie jederzeit gehandelt gegen alle, am allermeisten aber gegen mich und meine Mutter.«

»Jawohl, gutes Kind«, sagte der Alte kühl, »das ungefähr hat der Rittmeister August von Jageteufel auch von mir geglaubt. Er und ich, wir redeten uns ein, der Pflicht zu dienen, und blähten uns darum mit hundert stolzen Segeln: und heute hat ein Augenblick genügt, die große Lüge vor mir selbst zu entschleiern: das war der schreckliche Augenblick, da ein Mißverständnis in mir die angstvolle Vorstellung aufsteigen ließ, deine Mutter sei krank, todkrank, deine Mutter könne mir genommen werden, könne gestrichen werden aus den Reihen der Lebendigen, es gebe eine nahe Möglichkeit, daß ich ihr mildes Auge nicht mehr sehen, ihre weiche Hand niemals mehr drücken solle, niemals mehr – – o da brach die Erkenntnis jäh wie ein Pulverblitz über mich herein: gar nicht die Pflicht war's, die mich geleitet, wie ich wähnte, als ich versuchte, ihr in fester Freundschaft hilfreich und wirkend zur Seite zu stehen, ihre Sorgen zu lindern, ihren Kummer zu bekämpfen; ganz und gar nicht die Pflicht war's, sondern mich trieb in Wahrheit allein die eigene Neigung, der geheime Hang zu eigenem Glück. Ich hatte Lust daran, ihr wohlzutun; weil ihr Dankeslächeln mich entzückte, weil die holde Freude in ihren Augen meine Pulse höher schlagen ließ, und weil ihr Gram mich selbst im eigenen Behagen störte, weil ich sie für mich nicht entbehren konnte, nicht einen Tag lang, darum stand ich ihr so fest beiseite und gab mich in stummer Heuchelei für ihren selbstlosen Wohltäter aus. – So war es hier, und so war es in hundert anderen, so war es in allen Stücken. Ich heuchelte, der Pflicht zu dienen, und blieb in Wahrheit jederzeit ein Knecht des Glückes, das doch tief zu verachten ich hochmütig mir vorgab. Wie hätte ich auch ohne solche Eselsbrücke der Glücksucht meine Vorhaben treu und tapfer durchführen können, ich, der ich so feige bin, daß ich mich vor 346 lauschenden Ohren und aufgerissenen Glotzaugen fürchte, und so zuchtlos, daß ich keinen Augenblick vor grober Trunkfälligkeit und Händelsucht sicher bin, und obendrein ein eitler, windiger Wicht, der ein dreistes Gaukelspiel mit seinen eigenen Gedanken treibt. – Ja, sieh, mein Sohn, diese Erkenntnis ist es, die mich ins Herz getroffen hat, das ist die Wunde, die ich nicht überleben werde.

Darf ein Krieger leben, der leichtsinnig seine Fahne verließ? Eine Schildwache, die auf Vorposten vor dem Feinde schlief? Das habe ich getan, ich habe meinen Feldherrn Immanuel Kant schimpflich im Stiche gelassen. Ich muß sterben. Ein alter Soldat lebt nicht ohne Ehre.«

»Oh, liebster Onkel«, rief Ulrich, den die stille Feierlichkeit seiner Sprache seltsam durchschauerte, »wie mögen Sie nur Ihr Gemüt durch solche dunklen Grübeleien beschweren? Wie sollte denn irgendein Sterblicher jenes vollbringen, den trostlos öden Pfad der nackten, kalten Pflicht so starr zu durchwandeln, ohne die sanfte Begleitung der Hoffnung, der Liebe und der eigenen Freude? Keiner vermag es, und wie wollen denn Sie allein dieser Übermensch werden? Beruhigen Sie sich und denken Sie an Ihre Wunden –«

»Nein, keiner vermag es«, unterbrach ihn der Rittmeister lebhaft, »und das ist's eben: wir kommen mit allem Streben nicht über das Tier in uns hinaus, wir sind verdammt, auf dem Bauche zu kriechen unser Leben lang; wir ragen nicht hinein in die göttliche Welt der Vernunft; nur ein ferner Blick von unten her ist uns vergönnt wie auf den gestirnten Himmel über uns. Das ist's was ich heute erkannt habe mit Zorn und Schmerzen. Aber was meinst du: wenn Christoph Kolumbus auf seiner stolzen Fahrt nach Westen nichts gefunden hätte als Wasser und immer Wasser und hätte erkennen müssen, es gebe nirgends jene Neue Welt, von der er geträumt – glaubst du, er wäre beruhigt nach Hause zurückgekehrt und hätte gemütlich fortan als zufriedener Krämer die heimischen Küsten umschifft? Ich sage dir, er hätte sein Spanien niemals wiedergesehen, er wäre vorher in Verzweiflung gestorben. Und wer immer noch sonst das Ziel seines 347 Wirkens in der Belebung eines großen Gedankens sah und fand am Ende seiner Kraft, daß er einen falschen Kurs gesteuert, und daß er niemals, niemals Land finden werde, sondern immer nur Wasser und Wasser und Wasser: ein solcher Mann überlebt den Tod seines Gedankens nimmermehr. Würde unser großer König den Zusammenbruch seines Staats und vielleicht den Rest seiner Tage in Rheinsberg heiter mit Versen vertändelt haben? Man weiß, er hatte sich mit Gift versehen. Konnte jener Kato den Untergang der Republik überdauern, an die er sein Leben gesetzt? Er riß den Verband von seinen Wunden und starb – denn seine Seele war schon vorher gestorben. Sieh, dieser Kato –«

Er brach auf einmal hastig ab und sprang in einem leichteren Tone auf etwas anderes über.

»Höre, mein Junge«, sagte er, »du darfst das Frauenzimmer heiraten, in das du dich verliebt hast, wenn du es wagen willst. Gutes kommt nicht heraus bei solcher Liebesheiraterei, das sage ich dir gleich; doch ich traue dir die Kraft zu, den Katzenjammer mit Anstand zu leiden, nachdem du selbst den Rausch dir erwählt hast. Meinen Segen hast du! Geh jetzt hinüber, hole sie und bringe sie deiner Mutter. Ein Prachtmarjellchen ist sie, das muß ich selber sagen.«

»Lieber Onkel«, sagte Ulrich ruhig und ohne Vorwurf, »sie ist nun leider nicht mehr am Ort; infolge der Zwischenfälle ist sie nach ihrer Heimat abgereist, ich fürchte, mit einem bittern Groll gegen mich im Herzen. Doch ich hoffe, sie zu versöhnen; ich werde ihr nacheilen, und wäre es bis ans Ende der Welt; ich will sie mir gewinnen, und ich werde es. – Bevor ich mich aber auf diese Reise begebe, werde ich hier noch ein ernstes Geschäft zu erledigen haben. Da Ihr Zustand Ihnen zur Zeit unmöglich gestattet, die Fahrt nach der Nehrung zu unternehmen und die dort gelandeten Waffen zu bergen, so bleibt nichts übrig, als daß ich für Sie eintrete. Ich möchte die Sache ohne Verzug in die Hand nehmen und erbitte von Ihnen nur die näheren Angaben, die noch nötig sind.« Des alten Rittmeisters Augen blitzten freudig auf.

»Wacker!« rief er, »mein Sohn, siehst du, das ist wacker. 348 Erst das Vaterland und dann die Liebe. So spricht, wer den kategorischen Imperativ im Herzen trägt. Bei Gott, an dir ist meine Arbeit nicht ganz umsonst gewesen. Ein Fünkchen glüht doch in dir von dem heiligen Feuer. Also vorwärts, besorge die Sache; du brauchst nur zum alten Fischer Tiessen zu gehen, der ist in alles eingeweiht und wird dich führen; die Stelle auf der Nehrung kennst du selbst am besten; den Versteck im Keller zeigt dir mein getreuer Diener Anton; weiter habe ich dir nichts anzugeben. Merke aber, daß ihr Eile habt, wenn du keine Zeit verschwenden willst: denn um der Zollkutter willen dürft ihr nur bei Nacht übers offene Haff segeln und an der Nehrung landen; und die Nächte sind jetzt kurz; dort mögt ihr euch leicht im Binsenkamp den Tag über verbergen und morgen abend den Rückzug beginnen; auch eure Ankunft hier darf nur bei Nacht geschehen. Eine Entdeckung kostet deinen Hals; daran denke. – Ich danke dir, daß du mir diese Freude noch gemacht hast; mich selbst hatte gestern ein seltsamer Kleinmut ergriffen, daß ich in überschwenglicher Pflichtangst die allernächste Pflicht gegen das Vaterland versäumen wollte; mein Gewissen ist verwirrt durch die zwängende Seelennot dieser Tage. Du wirst das besser machen; du wirst auch deinen Mann stehen, wenn der Sturm losbricht. Das wird nicht mehr lange anstehen, denn Preußen ist überreif zum Kriege wie eine Frucht, die platzen will und blutigen Saft hervorsprudeln wird. Frage die Fischer auf der Nehrung, die vor fünf Jahren deinen tollen Kriegsmut dir übel lohnten, frage dieselben, wie sie jetzt gesonnen sind: du wirst sie finden wie hungrige Hechte, alle bereit, das große Schleppnetz des Franzosenkaisers zu zersprengen. Es tut mir weh, daß ich nicht mehr dabeisein kann; doch ich tauge nicht mehr zu so freudigem Dreinschlagen, ich habe abgewirtschaftet. Übernehmt ihr das Erbe und verwaltet es gut. – Und jetzt geh und tue das Deine: ich bedarf der Ruhe. Ich habe das Bedürfnis, lange zu schlafen. Wie mag Kato in Utica geschlafen haben, als die Republik gefallen war? Ich werde es erfahren. Grüße deine Mutter; ich hätte sie heute gern noch gesehen, aber ich kann's nicht über mich bringen; ich ertrage es nicht, vor ihr 349 mich in dieser Zerschlagenheit zu zeigen. – Mehr habe ich nicht zu sagen; lebe wohl, mein Junge, und tue deine Pflicht, denn du hast noch Kraft im Busen; die meine ist zu Ende. Grüße deine Mutter. Und meinetwegen auch deine Braut. Wenn nicht anders, hole sie dir mit dem preußischen Heere aus Frankfurt ab. Und der König täte am besten, das ganze Völkergesindel da hinten gleich mit an seinen Staatswagen zu hängen, da kann vielleicht noch etwas aus ihnen werden, wenn sie noch mehr solche Frauenzimmer wie dein Marjellchen haben. Gut, also du darfst sie grüßen. Geh ab, Junge, ich will schlafen.«

Mit einem Ruck kehrte er das Gesicht der Wand zu und ließ keinen Ton mehr vernehmen. Ulrich stand noch und zögerte; ihm war bange ums Herz, die Reden des Alten schienen ihm fremd und unheimlich.

Langsam nur zog er sich zurück und trat durch die angelehnte Tür in das Vorzimmer, sie leise hinter sich schließend. Gleich daneben stand der Physikus, jetzt im besten Wohlsein, und sagte unbefangen grinsend:

»Ich habe gelauscht und mich vortrefflich unterhalten. Der Spaß entwickelt sich noch über mein Erwarten ins Große. Was trägt der Mann für ein wunderwürdiges Raupennest in seinem borstigen Schädel herum! Bildet sich ein, am moralischen Katzenjammer sterben zu müssen! Wird's wohl auch noch lernen, wie erbärmlich langsam das Sterben so einer alten, zähen Maschine geht. Soll erst einmal stundenlang sich krümmen und nach Luft würgen und wissen, daß ein einziges Tröpfchen von einem gewissen Safte ihn von allen Qualen löst – und das Tröpfchen doch nicht nehmen, bloß aus Liebe zu dem armseligen bißchen Luft und Licht! Dann wird er wissen, daß es eine recht verfluchte Sache um das Sterben ist, und daß so ein Kato von Utica für sein Schwärmerstückchen doch noch etwas mehr Courage nötig hat als ein Redner vor dem bösen Publikum oder ein munterer Reiter vor dem Feind, der beim besten Willen ja doch nicht alle totschlagen kann: Ich wenigstens werde doch übrigbleiben! denkt heimlich im Herzen jeder Reiter. Kato aber dachte das vermutlich nicht. 350 O nein, mein lieber Rittmeister, Sie werden, denke ich, noch ein schönes Stückchen Zeit Ihr blamiertes Dasein zu tragen und an Ihrem Hasse zu kauen haben, Ihrem Hasse gegen mich und Napoleon, die wir beide vergnüglich lächeln über Sie und Ihre hungrigen preußischen Hechte! – Verzeihen Sie mir meinen kleinen Monolog, verehrter Herr, oder Predigt an eine geschlossene Tür, oder wie Sie's nennen wollen; ich habe so Anfälle von Redebrunst, die vorübergehen wie die Herzkrämpfe. – Ihnen aber kann ich nach dieser Erleichterung um so freier die Freude ausdrücken, erstens Sie wiederzusehen – ich setze voraus, daß Sie sich meiner überhaupt noch erinnern –, zweitens in meiner Unschuld vielleicht ein klein wenig zur Aufbesserung Ihrer Herzenszustände beigetragen zu haben, und drittens, Ihnen einen kleinen, gewiß nicht wertlosen Wink bezüglich Ihrer verschiedenen Reisepläne geben zu können – vielleicht daß sich beide Fahrten merkwürdig bequem vereinigen lassen – wenn Sie mir nur etwa versprechen wollten, für den alten Sünder hinter jener Tür etwas mehr Lachlust als Mitleid übrig zu haben –«

In diesem Augenblick gellte aus dem Schlafzimmer ein kurzer, schauerlicher Laut einer Menschenstimme, der halb wie ein Wutschrei, halb wie ein wildes Gelächter klang. Darauf eine tiefe, unheimliche Stille.

Ulrich erbleichte und sah den Arzt mit angstvoll fragender Miene an. Dieser aber schien von einer krampfähnlichen Lachlust bis zur Hilflosigkeit überwältigt zu sein, er krümmte sich unter den wunderlichsten Gebärden und grinsenden Grimassen und tat lebhafte Winke nach der Tür des Schlafzimmers zu. Endlich, als er Atem schöpfen konnte, kicherte er bloß die Worte hervor:

»Kato! Kato! Kato von Utica!«

Ulrich, von einer wirren Ahnung ergriffen, stürzte nach jener Tür, riß sie heftig auf und forschte mit bangem Blick in das Zimmer.

Da stand der alte Rittmeister vor dem Bette aufrecht auf seinen Füßen, nur mit einem Hemde bekleidet, das über der Brust weit offenstand. In der rechten schwang er seine 351 Reitpeitsche, mit deren Knopf er die Reste des Gipses von seinen Knöcheln zu klopfen beschäftigt war; die Linke hielt das große Pflaster, das er sich von der Brust gerissen. Er starrte dem Eintretenden wirr entgegen, anscheinend ohne ihn auch nur zu sehen, trat dann still vor einen Spiegel und begann sich die kleineren Pflasterstreifen langsam vom Gesicht abzulösen. Große Tränen rannen ihm während dieser Arbeit über die Wangen.

Ulrich stand schweigend, von einem stillen Grauen gebändigt.

Endlich drehte der Rittmeister sich nach ihm um und sagte mit einer feierlichen und milden Ruhe, die ihn doppelt erschütterte:

»Sieh, mein Sohn, das ist das wahrhaft wahre Trauerspiel des menschlichen Lebens. Sterben ist nichts, ist alltäglich, ist unser aller gemeines Los. Aber mit eigener, stolzer Hand die furchtbar heilige Pforte des Todes zu öffnen – und dahinter nichts anderes zu finden als einen schönen, warmen Misthaufen und einen grinsenden Affen darauf: dich im Sturmesgrausen in den Schlund des Niagara zu stürzen und plötzlich mit den Knöcheln in einer Entenpfütze zu plätschern: mit dem ritterlichen Schwert auf dein angstzuckendes Herz zu zielen und abgleitend einen Floh zu verwunden: das, mein liebes Kind, das erst ist groß und menschlich wahr, das ist die Vollendung echter Menschenwürde. Willst du der Tugend ein Haus bauen, so laß es als einen Meerkatzenkäfig gestaltet sein: darinnen soll sie wohnen und mit dem Steiße hüpfen und Gesichter schneiden, und draußen stehen die lustigen Kinder des Lasters, die Menschen, und lachen und lachen und lachen! – – Ich will auch mit ihnen lachen und mir jetzt statt des Leichenkleides die Unterhosen anziehen.«

Er wandte sich mit düsterer Gelassenheit herum und schritt auf das Bett zu, um sich anzukleiden. Ulrich aber eilte ihm nach, warf sich leidenschaftlich an seinen Hals und rief:

»Oh, liebster Onkel, fassen Sie sich! Nicht diesen bitterbösen Hohn, dieses kaltherzige Verzweifeln! Das ist nicht Ihre Natur, das ist wider Ihr innerstes Wesen. Kehren Sie diesem 352 schalen Spaß verächtlich den Rücken und eilen Sie, durch eine frohe Tat sich der dumpfen Luft dieser Grübeleien und selbstzerrüttenden Überschwanges zu entreißen. Kommen Sie, führen Sie mich und die anderen Genossen nach der Nehrung! Dort finden Sie Gefahr und Arbeit, dort wird Ihr Herz gesunden. Und fürchten Sie nicht, daß irgendeiner wagen wird, zu lachen über den Streich, der Ihnen gespielt ward; ich sage Ihnen, solange ich hier am Orte bin – wehe dem, der vor meinen Augen lacht oder nur leise lächelt, wehe jedem, wie immer er sich nennen mag –!«

Er redete die letzten Worte mit laut erhobener Stimme nach der Tür hin, um dem Physikus die ernste Meinung seines Drohens verständlich zu machen.

Der Rittmeister drückte ihm still die Hand und sagte:

»Brav, mein Junge. Aber verschwöre dich nicht: es gibt eine, der du nichts zu verbieten und nichts zu befehlen hast; und diese eine ist die einzige, deren Lachen mir wehe tun wird. Und doch ist nichts daran zu ändern, daß sie lächerlich findet, was lächerlich ist. Nur sehen möchte ich das nicht. Sieh mal, ich habe auch nie gelacht über sie und manche Kindereien, die sie trieb, weil sie dich allzu töricht liebte. Über die anderen habe ich mich hochmütig erhoben mit lautem Wort; die mögen sich nun ins Fäustchen lachen, daß ich auch nichts Besseres bin als ein Lump wie sie alle; das Gelächter meiner Mitlumpen soll mich nicht anfechten, soll mir ein Vergnügen sein. Deine Mutter aber bitte, sie soll mich meiden, so lange, bis der erste Kitzel vorüber ist. Und so lange, bis ich selbst mich so weit in mir gesammelt habe, daß ich das leise Zucken um ihre Mundwinkel ertragen kann. Heute nicht. Heute nicht. – Und in dem anderen hast du recht: ich fahre zur Nehrung und hole meine Waffen. Nicht nach rechts mehr will ich sehen noch nach links in meinem Gewissen, sondern gerade darauflosgehen wie ein Stier und einzig denken: dein Preußen braucht Waffen: stiehl sie, raube sie, lüge und morde um sie! Solange wir Sklaven sind, gibt es nur eine Gewissenspflicht: frei zu werden. Später wollen wir an Ehre und feinere Pflichten denken. – Und du, mein Sohn, kannst nun reisen 353 und dir dein Mädchen zurückholen. Für meine Geschäfte bedarf ich deiner nun nicht mehr; wenn's Zeit ist, wirst du bereit sein, mit jenen Waffen zu marschieren und dein Weib mit dem Vaterlande zugleich zu verteidigen. Geh und rüste dich für deine Fahrt, ich für die meine.«

»Nein«, rief Ulrich lebhaft und heiter, »so nicht. Ich weiche nicht von Ihrer Seite. Erst hole ich mit Ihnen die Waffen herein und dann die Braut. Ich schäme mich, eine Frau zu nehmen, ehe ich ihr das gewisse Versprechen gab, sie in ein Vaterland zu führen, das frei sein wird: und dies Versprechen kann ich mir selbst nur geben durch die Tat. Lieber Onkel, ich habe das Recht, zu bitten, daß Sie mich mitnehmen als Ihren Waffengefährten.«

»Komm mit«, sagte der Alte, die Stirn ein wenig entrunzelnd, »– dann aber geh jetzt voraus, schaffe mir deine Mutter aus dem Wege und begib dich darauf zum Fischer Tiessen, daß er alles so schnell wie möglich vorbereite und rüste. Ihr holt mich dann mit dem Boot hier ab; ich warte.«

Ulrich gehorchte ohne Zögern. Im Vorzimmer eilte er mit einem kühlen und fast verächtlichen Gruße an dem Physikus vorüber, der behaglich lauschend auf der Truhe saß. Dieser rief ihn an und wollte ihn zurückhalten; doch als er kein Gehör fand, lachte er laut hinter ihm her und rief:

»Der zappelt auch wieder am Narrenseile! – Ahnt nicht, daß ich seine Braut an der Hand führe – und er rast blind vorüber. – Auch gut; ich dränge meine Dienste niemandem auf; mag er denn auch lernen, wieviel klüger es ist, mit mir in Freundschaft zu leben als in Feindschaft – wie du da drinnen es gelernt hast! Ja, ja, lieber Freund, sie lacht über dich, die Frau, in die du verliebt bist, heimlich nur lacht sie, ganz heimlich, aber sie lacht, lacht, lacht! Und an dem Lachen sollst du mir langsam ersticken. Du sollst es kennenlernen, das Schicksal, vor einer Geliebten dazustehen im zuckenden Flimmerglanz der Lächerlichkeit! Ein jammervolleres Schicksal gibt es nicht auf Erden. Hinsiechen sollst du von Tag zu Tag an dem leisen Spott ihrer Augen. Eine Frau, die lacht, ist keine Frau, die lieben wird. Mich aber wird sie schelten 354 mit lautem Wort – vielleicht: allein ich bleibe der Mann, der ihren Sohn ihr wiedergab, und zum mindesten wird sie mich fürchten: und, eine Frau, die fürchtet –. So will ich mich nach dreißig Jahren für eine gestohlene Liebe rächen!«

Er stieg von der Truhe herab, verließ das Zimmer und eilte die Treppe nieder in den Garten. Hier stand er eine Weile und spähte; nach kurzer Zeit sah er Ulrich mit eiligem Schritt den Garten durchmessen und durch die Mauertür nach außen verschwinden.

»Jetzt weiß sie alles«, murmelte er, »und jetzt lacht sie.«

Langsam folgte er jenem; doch ehe er den Ausgang erreichte, stieß er auf Anton Reff, der ihm mit fleckig gerötetem und sehr fröhlichem Antlitz entgegeneilte.

»Ich werde ihn los, gnädiger Herr«, flüsterte dieser geheimnisvoll, »denn die Bösen werden ausgerottet; die aber des Herrn harren, werden das Land erben. Ich sage Ihnen, wir werden ihn los.«

»Wen?« fragte der Arzt verdrießlich.

»Nun, den Herrn Philosophikus«, erwiderte Anton vergnügt, »der wird nichts mehr ausplaudern. Er wollte schon, aber er kann nicht, denn ich habe ihn an die Kette gelegt. Wer eine Sache klüglich führet, der findet Glück; und wohl dem, der sich auf den Herrn verläßt.«

»Was heißt das?« rief der Physikus verwundert, »was treibt er für Narrheiten? Was fürchtet er von jenem armen Herrn, und was hat er mit ihm vor?«

»Ja, sehen Sie, gnädiger Herr, das ist es eben«, sprach Anton eifrig, »nämlich, im Gegenteil, er hat mit uns was vor. Denken Sie doch, erbarm dich! Komme ich zu ihm, liegt das noch im Bett! Merkwürdig, denke ich, was so 'ne Philosophie für Schlaf braucht! Das ist doch bei meinem Herrn Rittmeister nicht, dann muß das 'ne andere Sorte sein. Wie ich nu aber 'reinkomme, was glauben Sie wohl, das ich da sehe? Hat das an seinen Kleiderständer eine große Pistole festgebunden, und das schwarze Kugelloch guckt über die Stube weg ihm gerade ins Gesicht, und er wieder sitzt aufrecht im Bett und guckt 'rüber gerade in das schwarze Loch. Und wie 355 die beiden nu sich so verschwiegen unter sich mit den Augen liebkosen, fährt mir's in die Glieder, daß ich denke, der ist verrückt geworden! Und ich schrei: ›Herrchen, trautstes, Sie werden sich doch nicht ganz und gar totschießen?‹

Da schüttelte er ganz friedlich den Kopf und sagt: ›nicht doch, es ist nur eine Übung‹. – ›Im Totschießen?‹ frage ich. – ›Nein‹, sagte er, ›nur im Ertragen eines beängstigenden Anblicks.‹ Und dabei sah er so blaß aus wie eine richtige Mumie. ›Ist sie geladen?‹ frag' ich, und er nickt, und ich springe zurück und nehme ein bißchen Deckung hinter der Tür. Aber indem ich so an die allerlei Übereien von meinem Herrn Rittmeister denke, denk' ich, die Verrücktheit von diesem jungen Menschen wird auch wohl noch unschädlich sein, und es ist am Ende doch dieselbe Sorte Philosophie, höchstens 'ne andere Mischung. Ich bestelle also meinen Auftrag und bin vergnügt und will verschwinden. Da fängt er noch an, so ein bißchen an der Geschichte von gestern herumzufragen, wie das eigentlich zuletzt gekommen ist mit dem Knallen und den Säbeln, und was nachher weiter daraus geworden ist. Und ich in meiner kindlichen Gemütlichkeit und in freudigem Gedächtnis an den vielen schönen Rotwein erzähl ihm alles ganz sauber, wie schön Sie das veranstaltet haben, und denke, er wird nu wohl vor fröhlicher Heiterkeit gleich aus dem Bette springen und dabei vielleicht aus Zufall seine Börse in die Hand zu fassen kriegen. Denn die sah ich schon lange so verloren hinten auf dem Tische liegen. – Ja, prost Mahlzeit! Mit der Fröhlichkeit war es nichts und mit der Heiterkeit auch nichts. Sondern im Gegenteil. Fängt dieser Mosjö Unglücksphilosoph ein grausames Wehklagen an, räsoniert erbärmlich: ›Das ist ein unwürdiges Spiel, zu dem ich unwissentlich meine Hand geliehen habe; man hat mich überlistet; ich mag nichts wissen von solchem schnöden Ränkespiel gegen einen Ehrenmann; ich werde unverzüglich zu ihm eilen, ihm alles offenbaren und mich vor ihm rechtfertigen‹ – und wie er sich sonst noch auf gebildet ausdrückte. Ich aber hub meine Hände auf und betete: ›Herr, sei nicht ferne von mir, denn Angst ist nahe. Große Farren haben mich umgeben, fette Ochsen haben mich 356 umringt. Ihren Rachen sperren sie auf wider mich wie ein brüllender und reißender Löwe.‹ Denn was meinen Sie wohl, Herr Physikus, was mit mir geschehen würde, wenn der Mensch sich aufs Schwatzen legt und aufs hinterlistige Offenbaren? Steht nicht geschrieben: ›Ein Verleumder verrät, was er heimlich weiß, aber wer eines getreuen Herzens ist, verbirgt dasselbe‹? Und ferner: ›Der Herr hat Greuel an dem Abtrünnigen: und sein Geheimnis ist bei den Frommen‹. Zuschanden prügeln würde mich der Herr Rittmeister mit seiner verfluchten Reitpeitsche nach den Worten der Schrift: ›Du sollst sie mit einem eisernen Zepter zerschlagen, wie Töpfe sollst du sie zerschmeißen!‹ Und obendrein noch würde er mich aus Amt und Brot und Rotwein jagen. Sollte ich mir das nun alles gefallen lassen von einem Menschen, der nichts weiter ist als ein nichtsnutziger Rheinbündler? Nein! Also ich lege mich erst mit aller Gewalt aufs Verwarnen und Graulichmachen: ›Lieber Herr‹, sage ich mit all meiner Freundlichkeit, ›wenn ich Ihnen raten kann, lassen Sie sich nicht mehr mit dem Herrn Rittmeister ein, denn Sie sind so schon lange verdächtig bei den Franzosen; machen Sie lieber, daß Sie aus der Stadt kommen, immer je eher, je besser, sonst kann es Ihnen doch noch an den Kragen gehen: denn sehen Sie, der Herr Rittmeister, der Herr Rittmeister –‹ Und dazu machte ich ein ganz fürchterliches Gesicht. – Und er kriegte auch einen erbärmlichen Schrecken, und ich dachte, er würde gleich unter die Bettdecke kriechen vor Angst, und alles wäre gut. Aber er kommt noch mal wieder zu sich und fragt mit richtiger Dreistigkeit:

›Was ist mit dem Herrn Rittmeister? Ich kann nichts Schlimmes von ihm glauben. Ich lasse mich nicht abschrecken; er ist ein Ehrenmann.‹

›Das ist schon richtig‹, sag' ich, ›aber wenn er nun Waffen gegen den Kaiser Napoleon über die Nehrung schmuggelt und in seinem Keller versteckt und nachher unter die Leute verteilt, was sagen Sie dazu? Glauben Sie, daß die Franzosen das auch für Ehrenmännigkeit taxieren? Und wenn Sie nun kommen und seinen Keller visitieren und finden da die 357 Bescherung – und Sie sind gerade auch da in dem Hause, und kein Mensch weiß, was Sie sonst überhaupt hier wollen in der Stadt, und Sie haben obendrein Volksreden gehalten mit öffentlichen Redensarten: glauben Sie, daß Sie dann nicht ebensogut aufgehangen werden wie einer? Da kann Ihnen die allergrößte Unschuld von der Welt nicht helfen. Gehangen werden Sie. Wer Pech anfaßt, besudelt sich.«

»Mensch!« unterbrach der Physikus hier den Geschwätzigen. »Und solche Geheimnisse plaudert Er vor fremden Ohren aus? Als ob sein Herr nicht auch ohne das schon längst auf einem Pulverfasse säße! Ein würdiger Diener das! Er kann sich freilich auf seine totale Trunkenheit berufen und hat das unverdiente Glück, daß dieser junge Herr in Wahrheit ungefährlich ist und nie aus freien Stücken etwas verraten wird –«

»Der ungefährlich?« rief Anton Reff. »Oh, Herr Physikus, da sind Sie aber schrecklich falsch berichtet. Der ist wie ein Löwe so gefährlich. Und alles wollte er gerade verraten, mit aller Gewalt, was wir mit meinem gnädigen Herrn aufgestellt haben. Nun erst recht! Angst kriegte er wieder, das ist wahr, aber nicht mehr lange; nachher wollte er gleich wieder mit dem Kopf durch die Wand. ›Mein Gewissen ist rein‹, sagte er, ›wer will mir etwas anhaben? Ich muß meine Würde retten vor diesem Manne und muß ihm seine eigene Würde wiedergeben. Ist Gefahr damit verknüpft, um so besser: so darf ich nur's rechnen als eine erste Tat.‹

Was das heißen sollte, weiß ich nicht; gesagt aber hat er so. Nu weiß ich aber ganz genau von meinem gnädigen Herrn und auch schon lange von meinen kriegerischen Zeiten her: wenn einer mit solchen Redensarten um sich haut, dann ist ihm mit Vernunft und Richtigkeit nicht mehr beizukommen und mit Gottes Wort auch nicht, dann muß man ihn laufen lassen, bis er sich den Kopf einrennt.

Und da ging ich nun hin und wanderte im finstern Tal, und meine Gebeine waren sehr erschrocken. Und ich hob meine Augen auf zu den Bergen, von dannen meine Hilfe kommt: 358 und das dauerte nicht fünf Minuten, da kam meine Hilfe, nämlich eine neue Schlauheit meines Gemütes.

Wenn dieser Philosophikus nicht wegzubeißen ist, dachte ich, so muß er eingesperrt werden, wie mein Herr das mit dem anderen jungen Menschen gemacht hat. Wer sollte ihn aber einsperren? Ich kann's doch nicht, denn er könnte sonst schießen. Also müssen ihn die Franzosen einsperren, die tun's gern und sind darauf eingerichtet.

Und als mir dieses schöne Licht vom Himmel herab in meinen Busen gestiegen war, gehe ich ja wohl ganz schlank zu dem Herrn Kapitän Schmälzle von den Franzosen auf dem Schloß und hauche dem mit Geheimnis eine Meldung in die Ohren, daß dieser fremde Herr Staatsredner nichts anderes im Schilde führt, als schießende Waffen und Munitionskolonnen einzuschmuggeln, und daß er solche Dinger schon heimtückisch auf unserer Nehrung aufgestapelt hat, und die könnten der Herr Kapitän daselbst getrost finden und zum Zeugnis nehmen, daß ich die Wahrheit geredet habe. Sie müssen nämlich wissen, Herr Physikus –«

»Schurke!« fiel ihm dieser erschrocken und zornig in die Rede, »Esel, was hat Er angerichtet in Seiner Trunkenheit! Unglück über Unglück! Zwar, daß Er entweder einen Unschuldigen oder seinen eigenen Herrn ins Verderben stürzt mit seinen Lügen, das mag Er schließlich mit seinem eigenen Gewissen ausmachen –«

»Lügen bin ich gram«, stotterte Anton zusammenknickend, »und habe Greuel daran, aber das Gesetz habe ich lieb. Dieser Herr Philosophikus ist doch von Natur ein Rheinbündler, und solche können nie genug gehangen werden; das sagt der Herr Rittmeister alle Tage und erklärt es für kategorischen Imperativ, und auch die Schrift sagt: Sein Unglück wird auf seinen Kopf kommen und sein Frevel auf seine Scheitel fallen. Und wenn er wirklich ein bißchen unschuldig ist, so wird ihm der Herr das zur Gerechtigkeit rechnen.«

»Affe!« sagte der Physikus. »Und wenn dieser Rheinbündler nun, wie selbstverständlich, den Spieß umdreht und seine neue Kenntnis von den Umtrieben des Herrn Rittmeisters 359 verwertet? Er müßte doch blödsinnig sein, wenn er es nicht täte. Was dann? Weiß Er nicht, daß die Franzosen in solchen Sachen verzweifelt kurzen Prozeß zu machen pflegen? Mir könnte es ja recht sein – aber es paßt mir durchaus nicht in meinen Kram, daß eine lustige Person zum Märtyrer werde, der blecherne Rittmeister sich doch noch in einen eisernen verwandle! Und das allerschlimmste: wenn nun bei dieser Gelegenheit auch gewisse Kolonialwaren besserer Leute ergriffen und konfisziert werden? Will Er den Verlust ersetzen? Oder wer wird sonst für seine Dummheit aufkommen?«

»Ja, Herr, wer wird wohnen in deiner Hütte? Wer wird bleiben auf deinem heiligen Berge?« stöhnte Anton. »Ach, das ist aber traurig!«

»So?« zischte der Physikus wütend, »findet Er das traurig? Dann will ich ihm selbst etwas noch Traurigeres erzählen. Also ohne Vorrede: Sein Herr Rittmeister steht zur Zeit frisch und stark auf beiden Füßen, weiß alles und braucht keinen Philosophen mehr zu seiner Aufklärung. Ob er seinen ungetreuen Knecht mit Reitpeitschen oder mit Skorpionen züchtigen wird, weiß ich nicht; aber das weiß ich, daß derselbe ohne Gnade einen gewissen vergnüglichen Sommerausflug nach der Nehrung wird mitmachen müssen, zu dem das Boot soeben mit Eifer gerüstet wird. Grüße Er mir doch daselbst seine guten Freunde, die Franzosen, Herr Reff!«

Anton wankte erblassend gegen einen Baumstamm und fing an, kläglich zu weinen.

»Das ist meine Ende«, schluchzte er, »mein allerletztes Ende. In die Wüste muß ich gehen zu den wilden Tieren. Und ich bin geistlichen Standes gewesen. In dies Haus ziehen mich keine vier Pferde mehr. Aber wo finde ich solchen Herrn wieder und solchen Rotwein. Es ist mir leid um dich, mein Bruder Jonathan, deine Liebe ist mir sonderlicher gewesen, denn Frauenliebe ist. Und wo soll ich überhaupt einen anderen Dienst herkriegen?«

»Lasse Er sich bei den Franzosen anstellen als Lazarettgehilfe oder als Schreiber«, riet der Physikus kurz.

360 Anton richtete seine zerknickte Gestalt ein wenig in die Höhe.

»Nein, Herr Physikus«, sagte er bestimmt, »das tu ich meinem Herrn Rittmeister nicht an, daß ich mich je mit diesem Bonaparte verbrüdern sollte; das ist gegen allen preußischen und kategorischen Imperativ. Und das soll keiner auf meinem Sargdeckel lesen, daß Anton Reff ein Rheinbündler gewesen wäre. Nein, Herr Physikus, daraus wird nichts. Lieber Stehlen und Betrügen. Aber natürlicherweise, es steht geschrieben: das Gut des Reichen ist seine feste Stadt, aber die Armen macht die Armut blöde. Und mich nimmt so leicht auch keiner in Dienst; sie wollen ja heutzutage alle bloß immer vertrauenerweckende Gesichter haben, und wo soll ich so eins herkriegen in der Eile?«

Er schwieg und schluchzte jämmerlich.

»Anton Reff«, sagte der Physikus, nachdem er ihn eine Weile betrachtet, »um seiner scheußlichen Physiognomie willen, die mir von jeher zum Herzen gesprochen hat, will ich noch etwas für Ihn tun und Ihm zum wenigsten zu einem gesicherten Rückzuge aus dieser Stadt verhelfen, wo man sich so schlecht auf originale Gesichter wie die unserigen versteht, und wo seine Laufbahn auf jeden Fall abgeschlossen ist und leicht noch einen schmerzhafteren Abschluß finden könnte. Er kann in meiner Chaise mitfahren nach Elbing, mich läßt man hinaus ohne Visitationen und Scherereien, da schlüpft Er mit hindurch und kann versuchen, draußen irgendwo in der Welt vielleicht noch einige Zeitlang den Galgen zu vermeiden. Komme Er, wenn Er will, Er hat dafür gesorgt, daß ich Eile habe. – Dem Frankfurter Doktor kann ich für jetzt nicht aus der Patsche helfen; ich kann nur hoffen, daß dessen Verhör die Franzosen lange genug beschäftigt, um mich nicht in meiner Arbeit zu stören. Später will ich zu seiner Entlastung gern das Zeugnis ablegen, daß der Denunziant Reff ein abgefeimter Spitzbube ist, dem kein Wort zu glauben; auch spricht die heimliche Flucht desselben laut genug für sein schlechtes Gewissen.«

Unter diesen letzten Reden hatte der Physikus, dem Anton 361 geduldig folgte, bereits seinen Weg über die Brücke und durch das Vorderhaus genommen. Als sie auf die Straße traten, sahen sie gegenüber die Tür des Gasthauses zum »König von Polen« durch zwei französische Soldaten bewacht. Mit beschleunigten Schritten eilten sie im Schatten der Lauben auf den ihrer harrenden Reisewagen zu. 362

 


 


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