Hans Hoffmann
Der eiserne Rittmeister
Hans Hoffmann

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Zwölftes Kapitel

Ein Rededuell und eine Mensur auf Schlaftrunk.

Die lange Marktstraße hinunter wallte im sanften Scheine der schon abendlichen Sonne ein stiller, feierlicher Menschenstrom. Die alten Giebel blickten gelassen und ehrwürdig herab auf die Bürger, die langsam und würdevoll in prunklosen Feierkleidern ihre Schritte setzten. Die Röcke waren lang und die Hüte hoch: wohlgepflegt schaukelte im Nacken einiger Männer noch ein säuberlich bedeutsames Zöpfchen. Still und ehrbar waren die Gesichter und zeigten einen Ausdruck, der zwischen der Würde eines Kanzelredners und der Zerknirschung eines reuigen Galgenvogels die genaue Mitte hielt. Am allermeisten aber hatte sich auf die Frauen und Mädchen eine unermeßliche Ehrbarkeit gesetzt, und kaum verriet sich gelegentlich in dem huschenden Seitenblick eines mutvolleren Jungfräuleins ein kleines schalkhaftes Bildungsbedürfnis. Sonst war das Nicken der Hauben und manchmal das verstohlene Klirren der Schlüssel unter der immer noch einmal nachtastenden Hausfrauenhand fast die einzige Sprache, die sie miteinander redeten. Die Köpfe aber hielten sie so tief gesenkt wie gutartige Nonnen, wenn das Meßglöcklein klingt, oder weise Beterinnen der anderen Konfession, wenn der Klingelbeutel vorübergaukelt. Auch der Rittmeister befand sich unter diesen Wallern, angetan mit einem überlangen Fracke, dessen steife Feierlichkeit in einem sonderbaren und fast lächerlichen Gegensatz zu seinen hurtigen Schritten und knappen Bewegungen stand; der Ausdruck seines Gesichtes war gedankenvoll und grimmig. Fräulein Lisbeth ging an seiner Seite, nicht weniger ehrbar und noch ein wenig ängstlicher aussehend als die anderen Frauen. Der stille Zug nahm die Richtung auf das alte Ritterschloß zu, dessen gewaltige Mauermassen, durch einen breiten Graben gesondert, das 293 eine Ende des Städtchens bilden. Das mannigfach gegliederte Gebäude ward von den Franzosen zur Zeit als Magazin und Lazarett benutzt, doch war bei der Fülle der Räumlichkeiten auch ein großer gewölbter Pfeilersaal den Einwohnern überlassen geblieben, die daselbst die zahlreichste Klasse ihrer Gemeindeschule untergebracht hatten.

Auf den Schulbänken saß in langen Reihen die pünktlich versammelte Hörerschaft und harrte unter dem breiten Palmengewölbe in andachtsvollem Schweigen ihres Redners. Als Hartmut eintrat, fand er eine unendliche Stille und hundert fragende Augenpaare.

Schwankenden Ganges, mit zitternden Knien bestieg er das Lehrpult, halb hinaufgehoben von dem alten Schulmeister, der als rechtmäßiger Herrscher in diesem Raume dem Gaste Ehre und Hilfe bot. Hartmut verbeugte sich schwerfällig und so tief und lange, daß es eine Weile den Anschein gewann, als beabsichtige er, sich dauernd hinter der Schutzwand des Katheders versteckt zu halten; jedoch tauchte er allmählich wieder hervor, knöpfelte ein wenig an seinen Handschuhen, schnappte ein paarmal nach Luft, nahm eine grünliche Gesichtsfarbe an und schaute mit dem Blick eines kranken Kindes wie hilfeflehend zur Decke. Dann räusperte er sich sehr viel und eingehend, zitterte sichtbarlich an allen Gliedern, faltete die Hände und brachte endlich mehrere Töne hervor, die mit menschlicher Rede eine schüchterne Ähnlichkeit verrieten. Kenner derartiger Vorgänge glaubten etwas wie »Meine Damen und Herren« zu verstehen: es konnte jedoch auch »Hochverehrte Anwesende« oder ähnlich lauten. Dann schwieg er wieder lange Zeit. Ein Schauer lief durch den Saal; man gab den Redner verloren.

Doch schon folgte wieder ein dumpf gemurmelter Satz, aus dem wie sonnenbeleuchtete Felskuppen aus einem Nebelmeere einzelne Wörter für ein gutes Ohr verständlich hervorragten: »Kant . . . Gemüt . . . Vorsatz . . . Meister . . .« Und da der Gegenstand des Vortrags allen bekannt war, so glaubte jedermann, was er im Gedächtnis hatte, wirklich zu vernehmen.

Neue Blicke gen Himmel, die zu sagen schienen: »Aus tiefer Not schrei ich zu dir«, und einige verzweifelte Armbewegungen 294 gleich den Zuckungen eines Gehängten, leiteten den zweiten Satz ein. Diesen verstanden die vorderen Reihen schon ganz deutlich Wort für Wort; der nächste drang volltönig bis in die fernsten Winkel des weiten Raumes.

Jetzt gewannen auch die Wangen des Unglücklichen ihre natürliche Farbe zurück, die Arme bewegten sich zu ruhig ausdrucksvollen, bisweilen zu leidenschaftlichen, zu begeisterten Gebärden; die Augen begannen zu glänzen und wanderten in gemessener Ruhe über die Zuhörer hin; schon meinte manche junge Dame ganz besonders von dem mahnenden Blicke gesucht zu werden und fühlte sich angeregt, noch verschämter und noch liebreicher auszusehen. Am auffallendsten aber wandelte sich seine Stimme. Statt des Stöhnens und Pfeifens der ersten traurig hingequälten Silben rollten jetzt runde, starke Laute einer klangbegabten Kehle immer kräftiger anwachsend unter der Wölbung hin, ernst und feierlich, weich und beruhigend, scharf und weckend, zürnend und höhnend, herrlich ausklingend in einem versöhnten und sich selbst bescheidenden Siegesruf.

Die Seelen der Hörer wiegten sich eine Weile behaglich und gedankenlos wie auf den Klangwellen einer überwältigenden Musik, bis sie langsam aus dem schmeichelnden Strome so süßen Hindämmerns emportauchten und von dem Sinne der klingenden Worte leise wie von einem Sonnenstreifen berührt wurden. Und kaum herangetreten zum ersten geistigen Aufmerken, fühlten sie sich ohne Mittun und ohne bewußte Anstrengung rasch emporgetragen zu freudigem Verständnis. Es schien ihnen, als vernähmen sie da lauter altgewohnte und vertraute Dinge, als seien subjektiv und objektiv, apriorisch und empirisch, synthetisch und analytisch, kritisch und dogmatisch, genetisch, transzendental, metaphysisch und all dergleichen ihnen die alltäglichen Redewendungen, mit denen sie bei der Drechselbank oder dem Backtrog, im Schlachthause oder in der Rasierstube ihre Lehrlinge anzufeuern pflegten. Wie man Kindern widrige Arzneien in einer Süßigkeit versteckt, so wußte der Redner die aufgebauschtesten Weisheitslehren stets in einer hübschen Pille anschaulicher Beispiele zu verabreichen 295 und die verschmitzten Rätselfragen tiefgründiger Denker von einer Seite schillern zu lassen, daß sie auch dem ungeschulten Auge in gemütlichster Handlichkeit entgegensprangen.

Der Gang des Vortrags begleitete die berühmte Kantische Schrift »Über die Macht des menschlichen Gemütes, durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu werden« eine Strecke weit, um sich von ihr aus nach den verschiedensten Seiten hin ins geistige Weltall auszudehnen. Befeuernd und stählend wirkten seine Worte, wenn er die unerschütterliche Gewalt eines reinen Willens über den Widerstand des rohen Stoffes und niederer Triebe pries und mit erhebenden Beispielen aus der Menschheitsgeschichte belegte; beruhigend und befreiend hinwiederum sprach es zu den Herzen, wenn er ausführte, wie auch die schwächeren Geister durch beharrliche Zucht sich selbst aufzurichten und zu innerer Festigkeit durchzudringen vermögen und, in neunundneunzig Seelenkämpfen unterlegen, dennoch im hundertsten den endlichen Sieg gewinnen können. Darum sollte auch kein Starker und Gerechter die strauchelnden Brüder mit Härte verdammen, denn nur solche seien mit Fug der Verachtung preiszugeben, die ohne Kampf mit feigem Behagen sich unter die Knechtschaft der Sinne beugen. Auch jene wenigen Großen, die wirklich ihre Schwachheit überwunden haben und zur stolzen Einigkeit mit dem Geiste des Gesetzes durchgedrungen sind, seien nicht am meisten um der erreichten Höhe willen zu rühmen, sondern um des ungeheuren, steilen, steinigen Weges willen, den sie zu solcher Höhe hin zurückzulegen hatten. Denn niemand soll glauben, daß selbst der Gewaltigste mühelos und ohne Wunden hinaufgelange: Alle trügen sie lang nachschmerzende Narben, und diese Narben gerade seien es, die sie vornehmlich des Lobes und der Bewunderung ihrer Mitbürger würdig machten.

Als Hartmut seine Rede in eine so ernste Anerkennung siegreicher Gewissenskämpfer enden ließ, löste sich die lang hingehaltene Spannung der Gemüter in einem jubelnden Sturm des Beifalls auf, und aus dem unermüdlichen Händeklatschen tönten begeisterte Zurufe hervor wie fröhlich schmetternde Fanfaren.

296 Unter allen die leidenschaftlichste Teilnahme aber hatte ihm ohne Zweifel der Rittmeister von Jageteufel geschenkt.

Gleich im Anfang verharrte dieser nicht wie die übrigen in still hingebendem Schweigen, sondern begleitete die Einleitung wie den Fortschritt der Rede mit mannigfach wechselnden Ausrufen des Erstaunens und anderer Gemütsbewegungen.

»Herr des Himmels, dieser Jammerprinz!« so lautete seine erste Begrüßung, »er zirpt wie eine kranke Grasmücke! Er zappelt wie eine nervöse Schusterspinne. So ein moralischer Betteljunge will uns unseren Kant erklären!« Und so fort. Bald aber änderte sich die Tonart. »Wahrhaftig, der Mensch hat ja förmlich eine Stimme! Eine Prachtstimme! Und was er für Augen machen kann! Wie ein Löwe. Wie er die Leutchen zusammendonnert! Prachtvoll. Prachtvoll. So ist's recht, junger Herr, reiten Sie das Gesindel, daß ihm die Flanken bluten. Lisbeth, der Mensch redet wie ein Löwe! Woher hat das Wurm die gewaltigen Redensarten? Das greift einem an die Nieren. Da geht einem das Herz auf. Ist das die Möglichkeit! Der Schlingel hat sich bloß dumm gestellt bisher. – Nein, diesmal irren Sie aber, mein guter Herr, das ist Unsinn; das ist schwächlich, armselig, die Lumpen zu verteidigen, die Weichtiere ohne Knochen und Mark. Warten Sie, das sollen Sie mir bezahlen, wenn ich ans Wort komme. Bluten sollen Sie mir! Wird mir die Gewissen einschläfern, das Pack träge machen. – Nun freilich, so läßt es sich hören. Das war wieder vernünftig gesagt. Sehr schön sogar, sehr treffend. Ein Kerl ist er, ein ganzer Kerl. Der spricht ja nicht bloß mit den Lippen, sondern auch mit den Augen und mit allen Gliedern. Lisbeth, wie ein Löwe, wie ein Löwe!«

Lisbeth hatte weder dafür noch dagegen etwas zu sagen; sie saß mit demütig gesenktem Kopfe und gefalteten Händen da, wagte nicht aufzublicken und errötete bei dem losbrechenden Beifallssturm so heftig, als ob sie selbst ein gut Teil von dem Triumphe des Redners mitzutragen hätte.

Dieser aber schien mit dem letzten Worte alle die froh erregte Spannkraft des Geistes urplötzlich wieder zu verlieren; seine Augen irrten unsicher hin und her, sein Kopf duckte sich 297 unter dem Brausen des Jubels immer tiefer, und seine Hände wischten in unruhiger Hast auf dem Pulte umher. Jetzt zuckte er wie ein angeschossenes Wild in die Höhe, machte unzählige drahtpuppenhafte Verbeugungen und suchte in eiliger Flucht ein verborgenes Plätzchen im Hintergrunde des Saales zu gewinnen.

Sobald er die Stätte seines Ruhmes verlassen hatte, erhob sich der Rittmeister.

»Jetzt sollen sie's kriegen!« sagte er zu seiner Nichte und marschierte mit stattlichen Schritten auf das Lehrpult zu.

Als er dessen Höhe erreicht hatte und allen Versammelten sichtbar ward, trat sogleich wieder das unermeßliche Schweigen ein, und die hundert Augenpaare richteten sich ehrbar und andachtsvoll, aber mit seltsamer Starrheit, wie es ihm scheinen wollte, auf den einen Mann.

Bei diesem Anblick kam auf einmal eine merkwürdige Unruhe über ihn; er fuhr sich hastig mit der Hand durch das bürstenhafte Haupthaar, putzte sich mit beiden Daumen eifrig die Augenbrauen, und eine starke Röte stieg ihm ins Gesicht. Er tastete mit den Händen über das Pult hin, stöberte in seinen Taschen herum, als ob er etwas Unentbehrliches suche, zog allerlei Gegenstände daraus hervor, seine Börse, ein Gartenmesser, ein halbes Dutzend Schlüssel, jeden einzeln für sich, einen Pfropfenzieher, eine Haarbürste, ein Notizbuch, eine Taschenlaterne, einen Bleistift, einen Uhrschlüssel, einen alten Hosenknopf, eine Schuhschnalle, betrachtete alle diese Dinge sehr aufmerksam und steckte sie nachdenklich eins nach dem anderen wieder ein. Endlich erwischte er sein Schnupftuch, fuhr sich damit wiederholt und sehr langsam über die Stirn, fächelte sich Luft zu und blickte dabei behutsam ins Publikum, als wollte er sagen: Welch eine Hitze: denn es ist natürlich nur die Hitze, die mich noch am Reden hindert!

Endlich hatte er alle glaubwürdigen Möglichkeiten der Vorbereitung erschöpft, selbst die dicke Krawatte saß in unanfechtbarer Ordnung, sein Räuspern und Husten konnte einen Schwindsüchtigen beschämen: da faßte er einen jähen 298 Entschluß, schoß den Blick eines gereizten Panthers über die lauschenden Reihen hin und begann:

»Meine Herren –«

Die Fortsetzung ward wieder von der Hitze erstickt, er zog abermals sein Schnupftuch hervor und tupfte sich so heftig im Gesicht herum, daß er von dieser Bewegung allein bei der frischesten Dezemberluft hätte in Schweiß geraten müssen. Und noch einmal setzte er an:

»Meine Herren –«

Seine Stimme schien ihre alte Kraft fast völlig eingebüßt zu haben, seine stramme Haltung knickte auffallend zusammen, und seine Blicke nahmen statt des Grimmes etwas Leidendes, Gekränktes an.

»Meine Herren –« versuchte er zum drittenmal; jetzt klang es wie der Aufschrei eines hinterrücks Verwundeten.

Endlich begannen die Zuhörer etwas zu merken, und jener fürchterlich qualvolle Druck lagerte sich schnell über alle Gemüter, den solche Notlage eines Redners zu erzeugen pflegt. Ein dumpfes Schauern zieht durch alle Herzen, man fühlt ein eisiges Anwehen, ein Schneiden tief in den Eingeweiden wie beim Beginn der Seekrankheit, einen fliegenden Schwindel; der Atem stockt, alle Nerven spannen sich krampfhaft, die Lippen bewegen sich zuckend, man empfindet einen qualvollen Drang, dem Unglückseligen das erlösende Wort zuzuraunen, ihm nur eine Ermutigung, einen Trost zu geben, man beugt die Stirne tiefer und tiefer, man möchte Augen und Ohren schließen, um nicht den letzten grausamen Zusammenbruch miterleben zu müssen. – Wenn man in solchen Augenblicken noch sagen kann: »Es geht ein Engel durchs Zimmer!« so ist's ein riesenhafter Erzengel voll Furcht und Grauen, mit flammendem Schwert, gleich schrecklich dem stummen Redner wie dem betäubten Hörer.

So gähnte dem verstummten Rittmeister das große Schweigen wie ein Abgrund grauenvoll entgegen. Minuten gingen hin, so stundenlange Minuten wie bei einem Erdbeben, wie vor der Hinrichtung.

In dieser furchtbar feierlichen Stunde kam unter der 299 vorderen Bank ganz langsam ein winziges Knöpfchen hervorgerollt, das sich in der pressenden Angst des Augenblickes von irgendeinem Kleidungsstücke gelöst haben mochte, drehte sich in zierlichem Bogen weiterschwirrend über den freien Raum und legte sich endlich allen sichtbar zu den Füßen des Redners nieder.

Wie ein See vor dem Gewitter grau und regungslos daliegt und kein leisestes Leben die öde Fläche kräuselt – da plötzlich weckt ein erster ferner Donner den Lufthauch auf, ein Flüstern und Wispern zischt durch das Uferschilf und ein Wiegen und Winden, die Wellen regen sich und plätschern und gurgeln; und wieder dann scheint für eine Weile all das leichte Regen zu verschwinden und sich genügen zu lassen, bis jäh auf einmal die große Windsbraut aufsteht und über die Gewässer jagt und einen ungeheuren Schwall aufrührt mit Zischen und Schäumen, Sprudeln und Rauschen, Wirbeln, Tosen und Brüllen: so schlich hier unter dem Gewölbe hin zuerst ein heimliches Hauchen, Prusten, Kichern und Zischen, scheue Blicke begegneten sich in noch gebändigtem Übermut, die Wellenfläche der gescharten Menschenköpfe hob und senkte sich in leicht aufhüpfendem Gekräusel; und ein tiefes Atmen ging durch den Saal wie ein stummes Wehen durch erdrückende Mittagsschwüle – –

Da brachte der Rittmeister einen Laut hervor, der ein gegliedertes Wort zu verkünden schien; und das Wort ward vernehmbar, und es lautete wehmütigen und vorwurfsvollen Tones:

»Oh, meine Herren, welch eine unangenehme Pause!«

Das schlug ein mit der Kraft eines segnenden Donnerschlags. Es brach los, unaufhaltsam, unabwendbar wie ein gottgesandtes Verhängnis, ein sturmgleich aufdröhnendes, allgemeines, ungeheures, unauslöschliches Gelächter, das mit seinen Zuckungen und Windungen den ganzen Menschenschwarm wild durcheinander bewegte und die hundert Köpfe gleich brandenden Wellen gewaltsam auf und nieder tanzen ließ, ein voll aufrüttelndes Lachen der Erlösung aus unerträglichem Drucke.

Nur er allein stand starr und unerschüttert mitten in dem 300 wogenden Aufruhr. Je lauter entfesselt das hundertstimmige Gelächter ihn umgellte, desto höher, freier, würdevoller richtete er sich empor, desto furchtloser blickte sein herrschendes Auge, und urplötzlich schmetterte er in den ausgelassenen Lärm wie einen Posaunenstoß das kurze tönende Wort: »Schweinehunde – Ruhe!«

Und augenblicks begann das Tosen abzuschwellen, das hallende Lachen bändigte sich, nur ein unterdrücktes Schlucken, Ächzen und Kreischen zuckte noch, bis ein erneuter Befehlsruf erscholl:

»Kopf in die Höhe! Hacken zusammen!«

Da verklang das letzte Kichern, alle Rücken steiften sich, alle Augen blickten geradeaus, und tiefes, allgemeines Schweigen ruhte wie zuvor über der Menge. Langsam ließ der Alte seine Blicke hin und wider gehen, als sollten sie jeden einzelnen durchbohren und auf seinen Platz festnageln; dann rief er stolz und fast freudig: »Mit Gott für König und Vaterland!« und verließ die Rednerbühne in der gleichen ansehnlichen Haltung, wie er sie bestiegen hatte. Hocherhobenen Hauptes schritt er an der regungslosen Versammlung vorüber und verschwand aus dem Saale, noch hinter sich ein minutenlanges Verstummen zurücklassend.

Er selbst aber sank draußen auf einen steinernen Mauervorsprung nieder, schlug sich unaufhörlich mit der Faust vor die Stirn, als wollte er sie zertrümmern, und murmelte zähneknirschend vor sich hin:

»Ich bin ein Feigling! Ein erbärmlicher Feigling! Dies Bürschchen redet tapfer wie ein Löwe, und ich – meine Herren, der Rittmeister August von Jageteufel hat Nerven und ist ein Feigling! Oh! Nerven habe ich, Nerven, Nerven! Oh!«

Doch als von drinnen das erste Geräusch des sich regenden Menschenschwarms an sein Ohr drang, raffte er sich auf und eilte mit gewaltsamen Schritten seiner Behausung zu. –

Der Physikus hatte als verspäteter Zuhörer dem letzten Auftritt noch beigewohnt; er vermochte sein Entzücken schwer zu verbergen. Sobald der Rittmeister den Rücken wandte, 301 hinkte er auf Hartmut zu, zog ihn fast gewaltsam aus seinem Winkel heraus und flüsterte eifrig:

»Das haben Sie vortrefflich gemacht, mein Herr, ich kann Ihnen nicht genug danken für diese geistreiche Veranstaltung. Ein solcher Schlag muß ihn mürbe machen und doppelt empfänglich für schwerere Wunden. Also, bitte, lassen Sie uns keine Zeit verlieren; das Eisen ist warm, schmieden wir es.«

Hartmut blickte verlegen zur Seite; in seinen Augen schimmerte es feucht.

»Verzeihen Sie mir«, sagte er schüchtern, »dieser peinvolle Auftritt hat mich mit zu tiefem Mitgefühl erschüttert, als daß ich jetzt noch imstande wäre, das Geringste zum Schaden oder zur Beschämung des Mannes zu unternehmen oder nur derartige Versuche durch meine Teilnahme zu unterstützen. Ich bedaure den pfeilwunden Helden von ganzem Herzen.«

Der Physikus ändert diesem Ernst der Weigerung gegenüber alsbald seine Redeweise.

»Sie haben es freilich etwas grausam mit ihm gemacht«, sagte er; »denken Sie nur, wie verletzend die Öffentlichkeit des Vorgangs für ihn sein muß! Ich begreife Ihre heimliche Reue. Und wenn ich in Ihrer Lage wäre, versuchte ich zu einem Teile wieder gutzumachen, was ich angerichtet. Oder glauben Sie, daß es schwerhalten wird, den Mann zu trösten, ja ihn zu überzeugen, daß er sich groß und heldenhaft aus unverschuldeter Gefahr gerettet habe? Nun, wenn Sie sich dies rednerische Kunststück nicht zutrauen, so überlassen Sie es mir und halten Sie sich mir nur an der Seite mit kräftiger Zustimmung. Mein Wort darauf, Ihr Mitleid wird beschwichtigt werden. Und Sie sind es Ihrem Opfer schuldig, seine Schmerzen lindern zu helfen. Dafür sind Sie verantwortlich, das andere entzieht sich Ihrer Übersicht. Und dann noch eines, das für Ihre Sache von Wichtigkeit scheint: Gelegentlich meines geheimen Kongresses mit Herrn Anton Reff habe ich eine höchst seltsame Neuigkeit ans Licht gebracht: unser Rittmeister hält den für Sie so wertvollen Herrn Ulrich Seybold in einem Gemache seines Turmes gefangen, im wörtlichsten Sinne gefangen – zu welchem Zwecke, ist zwar unbekannt, 302 doch für uns Kenner der Verhältnisse leicht ersichtlich; er soll von Ihrer Schwester abgesperrt werden, bis keine Vereinigung mehr zu erwarten ist. Wenn ich Ihnen nun sichere Aussicht mache, den Ärmsten befreien zu können, so kann ich nicht glauben, daß Sie die Gelegenheit versäumen sollten, für Ihre Schwester eine gute Tat zu tun.«

»Eine Tat!« murmelte Hartmut dumpf. »Herr Physikus, ich gehe mit Ihnen.«

So machte sich das verschworene Paar denn eilig aus dem Gedränge der nun sich lösenden Versammlung und durchmaß selbander den kurzen Weg zum Garten des Rittmeisters. Auf ein mäßiges Klopfen von dem Brückchen her öffnete Anton Reff und flüsterte:

»Nehmen Sie sich aber in acht, Herr Physikus, er ist heute ganz und gar verrückt; Sie können Gott danken, wenn er nicht haut – ich danke Gott schon allermeist.«

»Wir kommen als zwei Stützen für das Gleichgewicht seiner Seele«, lachte der Arzt, und die beiden traten ein und durchschritten den Garten, von Reff geleitet, der ihnen Haus und Zimmer öffnete. Hier empfing sie ein unerwarteter Anblick.

Gerade in der Mitte des weiten Rundgemaches stand der alte Rittmeister, auf sein Schlachtschwert gestützt, breitbeinig, fest wie eine Bildsäule, und starrte finsteren Blickes vor sich hin. Um ihn her lagen Fetzen und Scherben von zertrümmertem Geschirr und anderem Hausgerät gleich den verstümmelten Leichen erschlagener Feinde.

»Ah, siehe da, mein verehrter Freund«, rief ihm der Physikus mit unbefangenem Lächeln entgegen, »Ihre jugendlich gesunde Seele bedarf auch noch des äußeren Sinnbilds, um ganz ihres geistigen Sieges zu genießen. Ein neues Zeichen der schwellenden Kraftnatur, die ich stets an Ihnen bewunderte. Und wahrlich, Sie haben Grund, dies kleine Freudenfest sich zu gönnen; ich freue mich, daß ich zufällig der erste sein kann, der Ihnen seinen Glückwunsch darbringt. Sie kennen mich, ich bin eine neidische Natur, nicht eben leicht für fremdes Verdienst zu begeistern: aber diesmal ist es Ihnen gelungen, selbst mein Neid muß sich für überwunden erklären. Auch hier Herr 303 Doktor Hammer kommt, Ihnen seine stille Beschämung zu gestehen, daß er auf diesem Gebiete einen Wettkampf mit Ihnen wagte. Ja, fürwahr, das war ein Meisterstück altpreußischer Beredsamkeit! Knapp, klar, wuchtig, scharf! Eine Armee von klingendem und wehendem Redeschwall rückte Ihnen entgegen – fünf kurze Hiebe Ihres Reitersäbels genügten, sie in die Flucht zu treiben. Es ist wahr, auch die schmuckreiche Kunstrede dieses rheinländischen Herrn fand ihren Beifall: mit gutem Recht. Allein, wie sagt ein feiner Kritiker des Altertums? Wenn Cicero sprach, so klatschten die Römer ihm Beifall, wenn Demosthenes redete, handelten die Athener nach seinem Rat. Und Sie, Herr von Jageteufel, Sie waren der preußische Demosthenes. Jenem klatschten die Hörer, Ihnen schwiegen sie, zitterten, duckten sich. Welch ein Sieg mit wie schlichten Mitteln gewonnen! Und wie frei Sie herrschten über die bewegliche Masse, wie Sie lächelnd mit dem Wankelsinne des Volkes spielten! Künstlich reizten Sie den hohlen Übermut, die kindische Lachlust der Toren, nur um sie desto tiefer, desto schneller in ihr Nichts zurückzuwerfen; gelassen, absichtlich regten Sie den kochenden Abgrund des allgemeinen Hohnes gegen sich auf, ließen seine Wogen gegen Ihre Brust heranschäumen, nur um sie an diesem Felsen zerschellen zu lassen, nur um herrschend wie der Meergott mit einem einzigen Worte sie wieder zu glätten und fromm zu Ihren Füßen niederzulegen. Und welch ein Wort, dieses einzige! Wie schneidend, mit jäh aufleuchtender Wahrheit es dem Gesindel den Spiegel vorhielt: Jenen struppigen Kläffern seid ihr gleichzuachten, welche der schmutzliebenden Herde beigesellt auf den Herrenruf des Hirten gehorsam, willenlos hin und wider fliegen! Seht, und ich bin euer Hirte, mir müßt ihr gehorchen oder ihr fühlet die Geißel meines Herrscherblicks! Jetzt gebiete ich euch Ruhe – jetzt gestatte ich euch das Haupt ein wenig emporzuheben, jetzt die Fersen zusammenzulegen – und jetzt, jetzt will ich euch mit freier Willkür aus eurer Demütigung wieder aufwärts ziehen: wohlan, begeistert euch mit freudiger Seele für die idealen Leuchten eures Daseins, für euren König und für euer Vaterland! – Sehen Sie, Herr 304 Doktor Hammer, das war altpreußische Redekunst, fünf Sätze gegen zehntausend, und dennoch siegreich! Zögern Sie nicht, junger Rheinländer, frei Ihre Niederlage einzugestehen; die Offenheit wird Sie ehren.«

Hartmut war genau so verblüfft wie der Rittmeister, half sich jedoch mit mehreren tiefen Verbeugungen gegen diesen, welche seine Zustimmung auszudrücken schienen. Der Alte aber blieb beinahe fassungslos; stumm, mit wütenden Blicken starrte er den seltsamen Herold seines Sieges an; doch mochte ein achtsames Auge schon eine beginnende Auflösung der furchtbaren Wetterwolke auf seiner Stirn erkennen.

»Er beißt an«, flüsterte der Physikus Hartmut zu, indem er sich für einen Augenblick hinter dessen Rücken schob, »noch einen letzten Angelwurf mit Ihrer Unterstützung, und wir ziehen den Fisch ans Land. Glaubt er's auch selbst nicht, so glaubt er doch, daß wir es glauben.«

»Sie begreifen, mein Herr Rheinländer«, wandte er sich mit lauter Stimme an denselben, »daß die Höflichkeit und Bescheidenheit oder sogar eine gewisse grüblerische Ehrlichkeit unseres Herrn Rittmeisters noch zögert, seinen eigenen Geistessieg schlankweg zuzugeben. Es ist ja wahr, wir werden oft im Schwunge des günstigen Augenblicks weit über unsere eigenen Absichten hinausgetragen und zaudern dann vielleicht, das halb nur Gewollte und doch ganz Erreichte nun auch ganz als reines Verdienst uns zuzurechnen. Und doch ist's unser Verdienst, unsere eigenste Leistung. Setzen wir den Fall: unser Herr Rittmeister sprengt mit seiner Schwadron auf ein feindliches Viereck los, um es niederzureiten. Das gelingt leichter, als zu erwarten war: doch siehe da, mitten noch im vollen Sturmritt erblickt er dahinter aufgepflanzt eine Batterie donnernder Feuerschlünde: er schwankt keinen Augenblick, denn er kommt nicht zur Besinnung: er weiß selbst nicht, daß es vorwärts geht, aber es geht vorwärts, die Batterie wird genommen – und keinem wird der geringste Zweifel kommen, wem die Ehre der raschen Heldentat gebühre – außer dem allzu gewissenhaft wägenden Helden selbst, der mit edlem Erröten – vergebens freilich – die ›Gunst der Umstände‹ oder den 305 ›Druck der Notwendigkeit‹ seinem Verdienste vorschieben wird. – Jawohl, so wird es sein: unser verehrter Rittmeister begreift nachträglich selber nicht, woher im entscheidenden Augenblick ihm die wunderbar einschneidende Kraft des Gedankens, die durchschlagende Kürze des Ausdrucks gekommen ist, er wird meinen, ein Gott vielleicht habe ihm das von außen her in die Seele gelegt – erklären sich doch schon homerische Heroen nicht anders die unbegreifliche Wucht eines plötzlichen Tatentriebes –, für uns aber, die wir die Zuschauer waren bei diesem kecken Reiterstück der Redekunst, wird dadurch die Freude und Bewunderung nicht vermindert, sondern vermehrt. Denn stets sind die größten Taten gedankenlose Kinder des stürmischen Augenblicks. Und Ihnen, wertgeschätzter Herr Doktor, wird niemand Größe und Zartheit der Gesinnung abstreiten können, da Sie der erste sind, der aus freiem Antrieb seinem Besieger die unverhohlene Huldigung darbringt. Ich aber beglückwünsche jeden der beiden Herren gleichmäßig, einen so edlen und wahrhaft würdigen Gegner gefunden zu haben.«

Die innere Überzeugungskraft dieser Rede und die frische Begeisterung, mit der sie gesprochen wurde, verfehlte in der Tat nach beiden Seiten ihre Wirkung nicht: Hartmut fühlte sich von einer echten und tiefen Rührung ergriffen, welche seine Verlegenheit gänzlich zurückdrängte, so daß er des Rittmeisters Hand erfaßte und mit der Kraft der ehrlichsten Meinung schüttelte. Diesem aber ward gerade dadurch der noch still wirkende Rest des Mißtrauens aus der Seele genommen; seine Mienen glätteten sich zusehends, und er machte ein Gesicht wie ein Mensch, der aus einem fürchterlichen Traume erwacht und erwachend statt des geträumten Blutgerüstes einen Königsthron zu besteigen findet.

Wie verblendet blinzelte er ein wenig mit den Augen, errötete und stotterte etliche unverständliche Worte bescheidener Abwehr.

»Oh, mein Herr«, sagte er endlich mit treuherzigem Aufblick zu Hartmut, »Sie aber auch – Sie – Sie – Sie reden ja wie ein Löwe!«

306 Dessen Antlitz strahlte von dankbarer Ergebenheit für solche Anerkennung; jedoch der Physikus ließ ihnen beiden keine Zeit zu weiterer Aussprache oder Überlegung.

»Mein teurer Rittmeister«, sagte er, »ich aber habe noch ein Weiteres mit Ihnen zu bereden. Sie hatten auch mit mir eine Art Wette, wenn man so sagen will, abgesprochen: Sie wollten die Wirkung meines heilkräftig-gefährlichen Opiates an Ihrem Leibe erproben, richtiger, die Herrschaft Ihres Willens auch über den geschwächten, betäubten Leib beweisen. Ich verhieß Ihnen meine Beihilfe bei diesem eigenartigen Versuche, komme jedoch jetzt, Ihnen zu sagen, daß ich zur Bemessung der richtigen Gabe des Opiums zunächst noch eines Vorversuches bedarf. Denn falls Sie zu wenig erhalten, muß das Ergebnis, wie Sie mir zugeben werden, für Ihre hohen Zwecke wertlos sein; gebe ich Ihnen zu viel, so könnte mein ärztliches Gewissen eine Kränkung erleiden. Das Maß aber, an dem ich die relative Absorptionspotenz Ihres Körpers zu ermitteln vermag, ist ganz einfach die Wirkung des Alkohols auf Ihre Gehirnnerven: ich werde feststellen, wieviel Wein Sie vertragen können, ohne – ohne – auf gut ostpreußisch: ohne besoffen zu werden. Bringen Sie es auf zwei – drei Flaschen tüchtigen Rheinweins oder Burgunders, gut, so weiß ich ungefähr, was ich Ihnen bieten darf, ohne Ihnen ernstlichen Schaden zu tun. Wenn ich mir also den Vorschlag erlauben darf –«

»Bravo«, rief der Rittmeister ganz fröhlich, »das ist eine Vorprobe, die ich mir gefallen lasse. Ich lade die beiden Herren auf übermorgen abend zu einer kleinen Sitzung ein; ich habe einen wackeren alten Burgunder im Keller; heute und morgen bin ich leider anderweitig beschäftigt.«

»Sie haben sehr recht«, fiel der Physikus eilig ein, »nein, heute dürfen Sie diese Trinkprobe nicht über sich nehmen, heute ist Ihr Gehirn schon erhitzt, Ihre Nerven allzu scharf angespannt durch die voraufgegangene große Aufregung des öffentlichen Sprechens; in solcher Gemütsverfassung pflegen die dämonischen Geister des Weins mit verdoppelter Macht zu wirken – da könnte Ihnen etwas Menschliches passieren, 307 Ihr starker Geist könnte seine Haltung verlieren, Sie könnten sich wie ein gewöhnlicher Sterblicher geradehin – betrinken; und sehen Sie, das möchte ich doch nicht –«

Der Rittmeister sah nicht das lauernde und boshafte Zwinkern seiner Augen, sondern polterte arglos darauflos:

»Dummes Zeug! Nerven? Habe ich nicht. Will ich nicht haben. Aufregung? Kenne ich nicht. Am wenigsten um solche Lappalie wie diese Rederei. Sollte mir gerade jetzt eine besondere Freude sein, Ihren Weindämonen den Herren zu zeigen. Noch lebt der Mensch nicht, der August von Jageteufel betrunken gesehen hätte – und wird auch keiner sehen! Keine Sorge, lieber Freund, ich kenne mich. Auf den Körper wirkt der Wein, jawohl, das kann ich nicht hindern, denn ich bin ein Mensch, mit Magen und Leber und anderen schlechten Einrichtungen behaftet; aber den Kopf verlier ich nicht, dafür steh' ich, nicht einen Augenblick! Wenn's so weit ist, daß der Magen versagt, dann hör' ich auf, wie sich's gebührt; das sinnlose Gesaufe lasse ich dem Gesindel ohne Zucht und Selbstherrschaft, dem die klaren Gedanken vom Wein hinweggeschwemmt werden, daß sie schwatzen, was sie nicht verantworten können, und tun, was sie anderen Tages selbst nicht mehr wissen. Das ist wider die Menschenwürde. Wer aber kommt, mich solchen Schwächlingen gleichzuachten? Er stehe zu seinen Worten und hüte sich, August von Jageteufel beleidigen zu wollen! Wahrhaftig, es ist sehr schade, daß ich gerade heute anderweitig beschäftigt bin.«

»Aber ich bitte doch, mein hochverehrter Freund«, rief der Physikus mit seinem geschmeidigsten Lächeln, »wem könnte dergleichen auch nur von weitem in den Sinn kommen, Sie zu beleidigen? Allein, wie Sie selbst freimütig eingestehen, Sie sind ein Mensch, und einem Menschen steht nichts Menschliches fern. Und ich für mein Teil bin Arzt und habe ärztliche Verantwortung: ich verbiete Ihnen unbedingt für heute den Genuß von schwerem Wein. Ihre Nerven sind in einem Zustande – mit meinen Augen sehe ich sie förmlich vibrieren –«

Der Rittmeister begann zornig zu werden.

308 »Himmelkreuz –« rief er, »wenn ich Ihnen sage, es gibt keine Nerven! Und zudem – wer gibt Ihnen das Recht, mein Herr, mir etwas zu verbieten? Wer unterfängt sich, meine Entschlüsse meistern zu wollen? Wer bildet sich ein, August von Jageteufel besser zu kennen, als er sich selber kennt? Fast hätte ich nun dennoch Lust, gleich heute –«

»Reff! Anton!« schrie der Rittmeister in heller Wut, »auf der Stelle hole Er ein halbes Dutzend Flaschen von denen mit dem dunkelroten Siegel aus dem Keller herauf. Hier ist der Schlüssel. Und dann räume Er dort die Opfer meines Ungeschicks hinweg«, setzte er mit einem Anflug von Beschämung hinzu. »Wir trinken noch heute. Sofort. Ich will doch sehen –«

»Anton Reff«, sagte der Physikus mit hinterlistiger Sanftmut, »kraft meiner ärztlichen Autorität befehle ich Ihm: Er hole die Flaschen nicht!«

Der Diener stand da in demütig gebückter Stellung, die Arme über dem Bauch gekreuzt, ein Bild des trostlosesten Zweifels, welchem Gebot er gehorchen solle. Seine beweglichen Augen richteten sich bald mit einem schlauen Blinzeln auf den Arzt, bald mit dem Ausdruck treuherzigen Flehens um Nachgiebigkeit auf seinen Herrn. Dieser aber nahm ihn kurzweg beim Kragen, schüttelte ihn gewaltsam und schob ihn mit unwiderstehlicher Kraft zur Tür hinaus.

»Herr!« wandte er sich dann mit rollenden Augen zum Physikus, »in meinem eigenen Hause! In meinem eigenen Hause!«

»Nun denn«, lächelte derselbe mit immer gleicher Freundlichkeit, »so wasche ich meine Hände in Unschuld. – Jetzt ist er reif!« flüsterte er seitwärts zu Hartmut mit einer Grimasse, »so zwingt man Leute, die keinen Zwang vertragen können.«

Der Rittmeister war schnell besänftigt und nötigte die Gäste an seinen runden Tisch. Anton Reff brachte Flaschen und Gläser, und ein gelassenes und ernsthaftes Zechen nahm seinen Anfang.

Hartmut fühlte sich äußerst unbehaglich in der ihm zugewiesenen Rolle, trank wenig und sprach wenig, und nur der 309 Gedanke an seine Schwester und die Notwendigkeit der bevorstehenden Befreiungstat bewegte ihn, geduldig auszuharren, bis der Augenblick kühnen Handelns gekommen sein würde. Allmählich aber, nachdem er denn doch so unvermerkt schon ein und das andere Glas des starken Burgunders eingeschlürft hatte, begann die Hoffnung auf die nahe Tat ihn in der Stille mächtiger zu begeistern, er sah im Geiste sich selbst mit Leiter, Axt und Stricken bewaffnet in brennender Lebensgefahr den festen Turm erklimmen, eisenbeschlagene Eichentüren zertrümmern, dem betränten Gefangenen die Ketten sprengen, ihn an Stricken unter eigener ungeheurer Anstrengung in die gähnende Tiefe hinablassen und nach all diesen Heldenstücken zuletzt noch einen rasselnden Zweikampf mit dem von Zorn und Trunkenheit halb rasenden Rittmeister bestehen. Die ganze Fülle dieser Aktion vollbrachte er aber gleichsam auf einer hohen, weithin sichtbaren Bühne, deren Zuschauerraum freilich leer blieb, nur daß jedesmal in den entscheidenden und wahrhaft wirkungsvollen Augenblicken in der Königsloge Fräulein Lisbeths reizendes Köpfchen voll bewundernder Teilnahme sichtbar wurde. Über diesen herrlichen Bildern vergaß er mehr und mehr die Umgebung und hörte die Reden und Taten seiner Zechgenossen nur noch, wie etwa ein lebenslustiger Reitersmann den dumpfen Bußgesang fernhinwandelnder Mönche vernimmt.

Der Rittmeister hingegen trank stolz und viel, in großen, trotzigen, ruhevollen Zügen. Er hielt sich ganz bei der Sache, ohne Träumen und Firlefanzen, achtete fest auf sich selber und hielt zugleich sein Ohr mit kalter Höflichkeit den bunt schillernden Redesprüngen des Physikus offen. Ganz vergebens bemühte sich dieser, den tapferen Zecher durch aufreizende und irreführende, kitzelnde oder stechende Redewendungen in einen neuen Zorn oder irgendwelchen jähen Eifer zu verlocken, daß er sich überhitze und sich selbst vergessend allmählich einer unbehüteten Trunkenheit anheimfiele. Vielmehr mußte er sich langsam überzeugen, daß dieser Anschlag gar keine Aussicht auf Erfolg hatte: der Rittmeister saß stracks und schön, trank Glas auf Glas, ja Flasche auf Flasche, und wurde zwar 310 immer röter im Gesicht, aber auch immer ruhiger, maßvoller, freudiger in seinem Behaben.

»Auf diesem Wege ist dem Ungeheuer nicht beizukommen«, murrte der Physikus in sich hinein. »Die dritte Flasche hat er jetzt nutzlos hineingegossen; wenn er noch die vierte bewältigt hat, ist er imstande, freundschaftlich zu erklären, daß jetzt sein Eichungsstrich erreicht sei, und dann geht er mir mit vollem Magen und leerem Kopfe zu Bette, und ich habe mit meinen Hoffnungen das Nachsehen. Denn der Teufel wird ihm morgen etwas vorreden können von begangenen Dummheiten: der behält jede Fingerbewegung, die er heute gemacht hat, im Gedächtnis! Da muß denn doch das Opium dran, um ihn wenigstens in sicheren Schlaf zu bringen; das andere muß dann eben versucht werden, so gut es geht.«

Er stand auf und machte einen Rundgang durchs Zimmer, wie um ein wenig die Glieder zu recken, und indem er dabei in einer Ecke an Anton Reff vorüberstrich, flüsterte er diesem zu:

»Jetzt aufgepaßt, Freund Küster! Auf Ihn kommt jetzt alles an. Gegen den Wein ist der Alte hiebfest wie der Teufel, das sehe ich; drum gieße ich ihm zur Nachhilfe ein Tröpfchen Mohnsaft ins Glas. Da gilt's nun achtgeben; in zehn Minuten etwa wirkt das liebe Tränkchen; Sie werden schon sehen, trotz allem Zappeln und Trappeln fallen ihm die Augen zu, wie wenn bei Kindern der Sandmann kommt. Eine Sekunde lang muß er wirklich schlafen, doch nicht länger, weil er sonst weder durch Kanonenschläge noch durch Prügel wieder zu erwecken ist. Diese Sekunde also ergreife ich und werfe die Lampe um: sogleich springe Er hinzu, drücke dem Alten einen Säbel in die Hand und dem Herrn Doktor einen anderen; darauf machen wir beide mit gemeinsamen Kräften einen so ungeheuren Höllenlärm, wie es uns nur immer möglich ist, Pistolenknallen ist das mindeste, man hat ja deren immer hier bereit. Indessen ich den Alten packe und mich stelle, als suchte ich ihn mit Gewalt zurückzureißen, zünden Sie schnell ein Licht an – es braucht nicht allzu hell zu sein –, da sieht er: sich, schlaftrunken wie er ist, bewaffnet dem 311 streitbaren Gegner gegenüber – nun, Anton Reff, Er begreift, wenn wir's heute geschickt machen, wird Ihm morgen das Lügen leicht werden.«

Der Küster nickte stumm mit dem beredten Ausdruck innigen Entzückens über einen so hoffnungsvollen Plan, und der Physikus begab sich gleichgültig schlendernd auf seinen Platz zurück. Bald gelang es ihm, den Blick des Rittmeisters durch eine Frage nach dem Alter eines Gewaffens abseits nach der Wand zu lenken und dabei den Inhalt eines Fläschchens in seinen Wein zu gießen. Nachdem jener das arge Glas geleert hatte, verlief alles Weitere genau dem Programme entsprechend.

Den Rittmeister überfiel eine jähe Müdigkeit, deren er sich mit ungeheurer Anstrengung bemühte Herr zu bleiben, doch vergebens. Die Lider sanken ihm schwer herab; er versuchte sich am Tische aufzuheben, fiel aber schwer in den Stuhl zurück; einige Sekunden später war er fest eingeschlafen.

Hartmut war auf seiner wachen Traumesfahrt gerade bei der Stelle angekommen, wo er dem rasenden Alten im Zweikampf entgegentreten sollte: da plötzlich umfing ihn ein jähes Dunkel, er vernahm ein Klirren und Poltern, er fühlte eine hastige Berührung und hielt nun wirklich etwas wie ein Schwert in der Hand. Ehe er im geringsten zur Besinnung kam, ward er fast betäubt durch ein donnerähnliches Knallen und Dröhnen, als ob ein Erdbeben das Haus zusammenstürzte. Pistolenschüsse pufften darein, Schwerter rasselten in der Nähe schauerlich widereinander, und wie er eben vor Entsetzen zurückfahren wollte, erglimmte ein mattes Licht; beim Schein desselben erkannte er, daß eine große Ritterrüstung von der Wand gestürzt war und einen Tisch nebst mehreren Stühlen mit umgerissen hatte, und daß er selbst mit blankem Schwert dem schwertzückenden Rittmeister gegenüberstand. Dessen Augen aber brannten nicht minder entsetzt und fassungslos, und er leistete nicht den geringsten Widerstand, als ihm der Physikus mit einer pathetischen Gebärde in den Arm fiel und beschwörend rief:

»Halt, Herr Rittmeister! Nicht weiter! Schonen Sie sich! 312 Sie bluten! Auch der junge Mann muß ablassen von seinem Zorn. Der Ehre ist genuggetan. Wie konnten Sie ihn nur so grausam beleidigen, Herr Rittmeister? Glauben Sie mir, er ist unschuldig. Doch Ihr geflossenes Blut mag ihm genügende Sühne sein –«

Der schlaftrunkene Alte starrte wirren Blicks auf den bedrohlichen Gegner, sein eigenes Schwert und den unbegreiflichen Vermittler; vergebens strengte er sich an, eine aufklärende Erinnerung in seiner Seele zu wecken, er sann und sann, und immer desto mehr verwirrten sich und zerflossen seine Gedanken, bis sich nach wenigen Sekunden seine Augen wieder schlossen und er mit schlafgelösten Gliedern in die Arme des hilfsbereiten Dieners Anton Reff zurücksank.

»Sie entschuldigen uns jetzt für ein Viertelstündchen, verehrter Herr Doktor! Wir müssen den Ärmsten zu Bette bringen. Sie sehen, er ist ernstlich ruhebedürftig. Hat sich den Schlummer auch ehrlich verdient durch seine Tätigkeit: beachten Sie, vier Flaschen von solchem Teufelszeug, wie dieser Burgunder ist; die Hälfte verträgt der Zehnte nicht. Ich vermute sogar, Herr Doktor, wenn Sie mir's nicht übelnehmen, das eine Fläschchen, das Sie bezwungen haben, hat Ihre Phantasie bereits ein wenig stark befeuert und ziemlich weit hinaus in schönere Gefilde getragen. Doch nur um so besser, Sie haben Ihre Rolle bewundernswürdig gespielt, und ich danke Ihnen von Herzen für Ihre geistesgegenwärtige Unterstützung. Und wenn Sie uns jetzt noch helfen wollen, diesen verwundeten Ritter auf den Rücken seines treuen Knappen zu heben, um ihn aus dem Gefecht zu schaffen, so werde ich Ihnen zum Dank nachher noch einige nähere Erklärungen Ihrer eigenartigen Lage geben. Des Schwertes werden Sie jedenfalls in diesem Augenblick nicht mehr bedürfen.«

Hartmut gehorchte gedankenlos, noch wie im Traum, legte das Schwert beiseite und half den willenlosen Körper wie einen Mehlsack von hintenher auf den Rücken des Küsters schieben, der ihn solcherart langsam davontrug, begleitet von dem Arzte, der das Licht hielt, indessen Hartmut bei dem 313 flackernden Scheine eines zweiten Lichtstumpfes einsam in dem weiten Rundsaal zurückblieb.

Oben im Schlafzimmer des Rittmeisters aber begannen jene beiden sogleich eine geheimnisvolle Tätigkeit. Zunächst entkleideten sie den Bewußtlosen und legten ihn auf sein Bett. Dann zog der Arzt eine Schere und ein schwarzes Heftpflaster aus der Tasche, schnitt es in kurze Streifen und klebte ihm diese sorgfältig an verschiedene Stellen der Stirn und der Wangen. Mit gleicher Kunst bereitete und befestigte er auf der Brust ein sehr großes und ausgezeichnet kräftiges Senfpflaster. Dieses getan, sagte er zu dem Küster:

»So, jetzt kann Er den Gipstopf holen: Er hat doch alles bereitgemacht?«

»Zu Befehl, Herr Physikus«, entgegnete Anton Reff, ging und brachte einen großen Kessel mit flüssigem Gipsbrei zurück. Der Arzt zog den Rock aus, band dem Schlafenden die Füße mit einer breiten Binde zusammen und formte dann mit kundiger Hand einen kunstgerechten Gipsverband über beide Knöchel, so daß der Patient vollständig gefesselt wie im Stocke lag. Mit Befriedigung betrachtete er sein Werk.

»So«, sagte er heiter, »den Mann haben wir sicher. Während der Nacht kann Er sich die Eiswache sparen; die Dauer des Schlafes berechne ich auf etwa zwölf Stunden. Morgen früh aber sei Er achtsam und versäume nicht, beim Erwachen zugegen zu sein und einen Spiegel bereitzuhalten. Was Er zu erzählen hat, weiß Er; lüge Er klug und unverschämt, als hätte Er einen amtlichen Krankenbericht zu verfassen; ich werde so früh wie möglich erscheinen und das Werk fortsetzen. Und nun gebe Er den Schlüssel, um den Gefangenen aus dem Burgverlies zu befreien.«

Anton Reff machte ein verlegenes Gesicht und knickte in sich zusammen.

»Ach nein, Herr Physikus«, sagte er kläglich, »das kann ich nicht. Gott der Herr soll mich vor solcher Untreue bewahren. Der Alte schlägt mich tot, wenn er das 'rauskriegt, daß ich den Schlüssel gestohlen habe und der junge Mensch über alle Berge ist. Gehorsam ist besser denn Opfer. Den Schlüssel 314 kann ich nicht geben ohne Befehl. Wenn Sie ihn morgen vor seinen Augen mit Gewalt nehmen wollen, kann ich das ja so einrichten, daß er Ihnen bequem liegt und ich nichts sehe. Ich wasche meine Hände mit Unschuld und halte mich, Herr, zu deinem Altar. Raffe meine Seele nicht hin mit den Sünden, noch mein Leben mit den Blutdürstigen, die mit bösen Tücken umgehen und nehmen gern Geschenke.«

»Halte Er das Maul«, sagte der Physikus kühl, »und heule Er anderen seine Litaneien vor. Und wenn Er sich einbildet, noch mehr Geld aus mir herauszupressen, so irrt Er sich. Doch im übrigen hat Er recht; der Knabe mag ruhig bis morgen eingesperrt bleiben, was geht's mich an? Er ist ein Hitzkopf und könnte mir zu guter Letzt den besten Spaß verderben. Wenn ich ihn morgen seiner schönen Herrin in Elbing überbringe, wird er die böse Nacht gar bald verschmerzen. Seine Mutter aber ist ans Warten gewöhnt und weiß zudem noch nichts von seiner Anwesenheit. Da wird es am besten sein, auch ihr das hier Geschehene heute noch zu verschweigen und morgen alle Minen auf einmal springen zu lassen. Ohnehin bedarf ich selbst der Ruhe; es ist genug geschehen für heute. So grüße Er denn den Herrn Doktor unten im Saal von mir; ich habe keine Lust, ihm jetzt noch Erklärungen zu geben, für die ihm, wie ich fürchte, noch die sittliche Reife fehlt. Ich eile nach Hause; er möge es mir nicht übel deuten, ein Herzkrampf habe mich befallen. – Sie aber, unbesiegter Held und Redner, ruhen Sie sanft! Sie werden ein merkwürdiges Erwachen haben.«

Er trat mit einer possenhaften Feierlichkeit auf den regungslos schlafenden Rittmeister zu, klopfte ihm mit einem kleinen ärztlichen Hammer dreimal auf die Stirn und murmelte dumpf unter einer närrischen Grimasse:

»Papa noster vere ebrius est.«

Darauf verließen beide gemächlich das Zimmer. –

Unterdessen war Hartmut bestürzt und verworrenen Gemütes zurückgeblieben. Ein tiefes Schweigen lagerte jetzt in der leeren Halle, nur durch das halb offene Fenster der Rückwand drang sanft das ruhige Rauschen des Stromes herein.

315 Mit Betrübnis machte er sich klar, daß die Befreiung nun vermutlich ohne jedweden Bedarf an Heldenmut durch einfaches Umdrehen eines Schlüssels erfolgen werde.

»Und ist das eine Tat?« fragte er sich selbst. »Ist das die Tat, nach der meine Brust sich sehnend weitet?«

Indem er so grübelte, hörte er hinter sich die Tür gehen, und ein heller Ruf aus weiblichem Munde ward hörbar. Er fuhr herum und sah Fräulein Lisbeth mit großen erstaunten Augen am Eingang stehen.

»Nein, aber!« rief sie, sich schnell ein wenig fassend. »O du himmlische Güte, was für ein Tag ist das heute. Alles geht drunter und drüber. Der Onkel ist nirgends zu finden, und der Ulrich ist nicht zu finden, und die Tante Doris läßt sich nicht finden; und Sie, mein Herr – Sie sucht man auch überall vergebens seit Ihrem Vortrage, und jetzt, jetzt ist hier ein Lärm, daß ich denke, das Haus ist zusammengebrochen, und ich stürze her – und da sitzen Sie ganz gemütlich und trinken Ihren ewigen Wein! Das heißt, das muß ich doch noch sagen, gesucht habe ich Sie nicht, das war natürlich falsch ausgedrückt, aber ich hätte Sie sehr gerne zufällig irgendwo getroffen, nur nicht in der entsetzlichen Kneipstube, sondern an einer vernünftigen Stelle – nun, meinetwegen denn am Ende auch hier. Aber bloß das eine wollte ich Ihnen sagen und muß und muß es Ihnen sagen, ehe Sie abreisen: nämlich, was Sie da heute so gesehen haben, daß ich da mit dem Herrn Ulrich so zusammenstand – das ist ja reiner Unsinn! Er macht sich überhaupt gar nichts Besonderes aus mir, sondern liebt Ihre Schwester ganz wahnsinnig, und übrigens ist die auch viel hübscher als ich; und ich bin ihm auch nicht weiter anders gut als einem Bruder oder eigentlich bloß so einer Art Vetter. Wahrhaftig, wir haben uns ganz unglaublich mit dieser Geschichte geirrt. Und von Heiraten – erbarm dich, nicht die Rede mehr! Das wollte ich Ihnen bloß sagen – aber natürlich nur, damit Ihre Schwester es weiß; Herrgott, habe ich eine Angst ausgestanden, bis ich Sie fand!«

Lisbeth war in ihrem Eifer langsam näher gekommen und 316 stand jetzt mit glühenden Wangen dicht vor Hartmut, der aufgesprungen war und vor Wonne fast betäubt ihrem Plaudern wortlos und ohne Regung lauschte. Auf einmal, als sie nun schwieg und Atem schöpfte, ward auf der Treppe draußen ein Poltern von Schritten vernehmbar. Sie schrak zusammen, horchte noch einen Augenblick und rief dann ängstlich umherblickend:

»Nein, das geht nicht, daß sie mich schon wieder so mit Ihnen zusammen finden – es ist doch wirklich zu dumm – aber ich kann an der Treppe ja gar nicht mehr vorbei, ohne daß sie mich sehen – und das dürfen sie nicht, nein, unter keinen Umständen, es wäre abscheulich – aber was soll ich tun? – Ach was, wissen Sie, ich springe einfach aus dem Fenster –«

Diese entschlossene Ankündigung entfesselte in Hartmuts Brust einen ungeheuren Aufruhr der Gefühle. Er sah im Geiste ihre zarte Gestalt von der Höhe des Turmes in den Abgrund stürzen, sah sie versinken in der schwärzlich gurgelnden Flut und hilflos mit dem unbarmherzigen Strome ringen – sein Ohr vernahm so schauerlich nahe das Rauschen des Stromes –, und plötzlich kam eine unerhörte Entschlossenheit über ihn.

›Da ist sie, die Tat!‹ rief es in ihm. ›Und eine Tat für sie! Eine Tat des Todesmutes! – Nein, bei allen Göttern, ich bin kein Feigling mehr!‹

Mit einem hastigen Griffe zog er ihre Hand an seine Lippen, küßte sie voll bebender Inbrunst und rief mit tränenerstickter Stimme:

»Lisbeth, ich habe dich geliebt von ganzer Seele – ich war deiner nicht würdig – lebe wohl für immer!«

Damit riß er sich zurück, taumelte haltlos vor Angst auf das Fenster zu, schlug mit fiebernder Hand die Flügel völlig auseinander, schloß die Augen und ließ sich mit ausgebreiteten Armen in die dunkle Tiefe fallen.

Gleich darauf empfand er einen mäßigen Ruck in den Gliedern und stand mit festen Füßen unerschüttert auf dem weichen Kiesboden des Gartens. So erkannte er, daß jenes 317 Fenster nicht nach dem Flusse hinausging, vielmehr sich zwei Fuß hoch über der sicheren Erde befand, welches beides er bei etlicher Besonnenheit ohne große Geistesanstrengung genau hätte wissen können.

So stand er beschämt und doch noch zitternd von kaum überstandener Todesangst in wehmütigem Brüten.

»So vereitelt ein grausames Geschick mir auch die gewollte und fest ergriffene Tat«, so seufzte er bitter. »Und so gleicht mein Leben ganz dem Strome hier zu meinen Füßen, den trübe jetzt der letzte Abendschein noch überflimmert: matt nur bestrahlt von leisem Dämmerlicht eines träumerischen Halbglückes fließt dies Leben träge dahin ohne Klippensturz und ohne Sonnenglanz, einem gleichgültigen Ende im großen Meere des ewigen Nichts entgegen.«

So klagte der Gerettete; doch wie eine sänftliche Nachtkühle ihn kräftiger übersäuselte, hob er den Blick zu den zart blinkenden Sternen und sprach zu sich selber:

»Der gestirnte Himmel über dir und das Gewissen in dir – vor beiden hast du die Tat vollbracht, und ist kein Makel daran. Und morgen wirst du die Kraft zu Größerem finden«

So schritt er hoffnungsvoller von dannen, den Ausgang des Gartens zu suchen. 318

 


 


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