Hans Hoffmann
Der eiserne Rittmeister
Hans Hoffmann

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Fünfzehntes Kapitel

Hartmuts Not und eine Schmuggelfahrt.

Hartmut saß gefangen in einem hochgelegenen Eckzimmer des gewaltigen Schlosses und genoß zu einigem Ersatz der verlorenen Freiheit aus zwei Fenstern der unbeschränktesten Aussicht über die endlose Ebene. Die fette Niederung glänzte von stiller, freudiger Fruchtbarkeit, in ruhiger Klarheit wallte der segnende Sonnenschein darüber hin und löste sich nur gegen die äußersten Fernen leise in einen schimmernden Duft; der Sehkreis aber ward abgegrenzt wie über dem Meere durch das reine Rund einer wellenlosen Linie. Zahlreiche Dörfer lagen wie begraben in üppigem Grün, von leichtem Rauch umflossen wie von zart verschleiernden Wolken; weit zerstreute Rinderherden belebten mit munter behaglichen Farbenflecken die freundliche Eintönigkeit. Der breite Strom, hier tiefblau unter dem Himmel ruhend, dort beweglich aufblitzend mit zuckenden Silberstrahlen, teilte das breite Bild in zwei gleichlagernde Teile; sonnenhelle Segel verrieten auch in meilenweiter Ferne seinen im tiefen Wiesengrün verlorenen Lauf.

Hartmut fühlte sich im Gemüte seltsam frei und gleichgültig gegen sein Schicksal.

›Wie wunderbar dies volle Auslangen der Blicke die Seele weitet‹, dachte er in heiterer Betrachtung. ›Mit so gelassener Klarheit muß der Blick des Wanderers über dem Meere ruhen, still ausgebreitet übers Unendliche, doch nirgends zerstreut und nie in Wirrnis verfließend, sondern überall in reinen, sicheren Grenzen wieder gesammelt und festgehalten. So ist auch der Blick auf das Sternengewölbe und in die klaren Gedankengefilde eines weit überschauenden wahrhaften Weltweisen. Ruhe und Weite, die hab' ich in diesem Augenblicke ganz gegenwärtig, und was mir Künftiges vielleicht in schwüler Nähe liegt, vermag meine ausatmende Brust jetzt nicht zu beschweren.‹

363 Sein still umgleitendes Auge ward gefangen und weit hinausgezogen durch den gelblichen Streif der großen Straße, die nach Osten führt.

›Dort ist er entlang gestürmt, der Erderschütterer!‹ dachte er, ›wo ist er geblieben? Wird er jemals wiederkehren? Mir ist in dieser Stunde, als müsse diese ewige, ebene Unendlichkeit des Erdraumes seine Massen alle ausschlürfen und spurlos verschwinden lassen wie ein irrwimmelndes Käfervolk im Steppengrase, und als habe er sich selbst in geheimer Angst hineingestürzt in jene verschlingende Unendlichkeit, um in furchtbarer Größe wie ein Gott in Nebelfernen unbekannter Wüsten unterzutauchen und einen Ausweg zu suchen aus einer zertretenen Welt, die im Begriff stand, ihn mit den Flammen ihres Hasses zu häßlicher Asche zu verbrennen. Er kommt nicht wieder! Er kommt nicht wieder!‹

Und aus der Ferne zurückkehrend, sank sein Blick an den ungeheuren Mauermassen des weitgegliederten Schloßbaues nieder, und die schienen im stillen Selbstvergnügen zu sprechen: Wir stehen fest, und das Volk, das uns gründete und um uns wohnt, steht auch fest auf seinem Posten. Und das Land, in dem wir wurzeln, das Land, das durch vieltausendjährige Arbeit des langsamen Stromes geschaffen wird, das wankt auch nicht unter uns, das kennt keine unterirdischen Gewalten und keine speienden Feuerberge, auf dessen breitem Grunde lagern wir sicher.

Und ein wenig von den Mauern zur Seite schauend, sah er tief hinein in die winkligen Gassen und die breite Straße der stillen Stadt. Friedevoll lag sie im gesunden Sonnenschein, die ihre Giebel und Erker und spitzen Dächer überall mit seiner freudigen Helle voll umschimmerte: die alten Häuser ruhten wie behagliche Greise, die sich im lauschigen Winkel sonnen und stumm in geduldiger Selbstbeschauung leise mit den Köpfen nicken.

»Wie seltsam!« sagte er wehmütig, »in dieser traulichen Enge, wo ich beim ersten Schauen einen wunderbaren Stillstand der Zeit und ein Ruhen alles Lebens empfand, wo ich hinabzusteigen meinte in ein längst verwehtes Jahrhundert, 364 um als Schatten unter Schatten ein dämmerhaftes Leben weiterzuträumen, gerade hier entglühte meinem Herzen das heißeste, heiligste Leben, und hier auch mußte ich erkennen, daß diese friedsame Stille doch Feuer genug und Tatkraft zeitigt, um mich, den Tatlosen, beschämend zu den Toten zu werfen. Hier im Verborgenen wohnte mein Glück, und es winkte mir einmal mit heiter lachendem Zaubergruß; doch ich versäumte die Tat, die es forderte, meine Mannheit zu zeigen; und es winkte nur einmal: erst als es zu spät war, kam ich, und das Schicksal entzog mir spöttisch den Boden, auf dem ich stehen könnte, meine Tat zu vollbringen und den Zauber zu lösen. O Lisbeth, lebe wohl! Nur heute noch laß meine Seele hier ausruhen in der Liebe zu dir, und dann lebe wohl für immer.«

Indem er so stand und grübelnd schaute, hörte er es im Türschlosse rasseln, und herein trat mit nicht minder rasselndem Schritt ein riesengroßer Korporal, dessen rotes Gesicht von einer gewissen vergnügten Roheit glänzte. Derselbe musterte den Gefangenen schweigend von oben herab mit einem spöttischen Lächeln, das immer hochmütiger wurde, je sichtlicher dessen furchtsame Verlegenheit unter der Dreistigkeit seiner Blicke wurde. Endlich sagte er mit schnarrendem Ton in einem gut niederrheinischen Deutsch:

»Sie sollen zum Kapitän kommen.«

Hartmut gehorchte stumm und ließ sich die Treppe hinab in das Zimmer des Kapitän Schmälzle führen. Dieser empfing ihn mit ausgesuchter Artigkeit, nötigte ihn zum Sitzen, ließ den Korporal durch einen Wink ans Fenster zurücktreten und begann die Unterredung in einem fließenden und schrifttreuen Deutsch, das jedoch durch das absichtliche Unterdrücken der durchklingenden elsässischen Mundart etwas Gezwungenes erhielt, gleich der Aussprache eines Ausländers:

»Ich spreche Ihnen noch einmal mein sehr aufrichtiges Bedauern aus, daß ich genötigt war, Sie auf so unangenehme Art zu belästigen, Herr Landsmann – ich bin genau unterrichtet über Ihren Namen, Stand und Herkunft«, setzte er lächelnd hinzu, »die Zeitumstände gebieten es, uns nicht allein um die einheimischen Bürger, sondern auch ein wenig um die 365 durchreisenden Herrschaften zu bekümmern. Sie werden sich daher auch nicht verwundern und es nicht übel deuten, wenn ich mich einigermaßen eingeweiht zeige in Ihre Beschäftigungen und Ihren Verkehr an hiesigem Orte. So ist mir insbesondere bekannt, daß Sie einen schon durch seine Häufigkeit auffallenden Umgang gepflogen haben mit einem hier ansässigen Herrn von Jageteufel, preußischem Rittmeister a. D., offenbar ohne zu ahnen, daß dieser Mann eine politisch verdächtige und in hohem Grade gefährliche Persönlichkeit darstellt, ein ehemaliges notorisches Mitglied des von der preußischen Regierung selbst aufgelösten sogenannten Tugendbundes, einer Verschwörerbande, die nichts Geringeres plante, als den kriegerischen Umsturz der bestehenden Verhältnisse und offene Empörung gegen Seine Majestät, unseren allergnädigsten Kaiser und Herrn, Zwecke, denen trotz aller Verbote weder Herr von Jageteufel noch andere Gleichgesinnte entsagt haben. Die Voraussetzung, daß Sie von diesen Dingen nichts wußten, mache ich persönlich; hingegen bin ich dienstlich gezwungen, die entgegengesetzte Annahme zur Grundlage meines Handelns zu machen, nachdem soeben eine sehr bestimmte Anschuldigung gegen Sie eingegangen ist von seiten eines einwandfreien und offenbar wohlunterrichteten Zeugen. Es steht jedoch, wie ich gar nicht bezweifle, vollkommen in Ihrer Gewalt, sich selbst und mich durch eine kurze sachliche Angabe aus dieser peinlichen Lage zu befreien. Ich bitte Sie nur, mir diese eine Frage genau und scharf zu beantworten: Was haben Sie bei Gelegenheit Ihrer Besuche über das Treiben und die Absichten jenes verdächtigen Herrn beobachtet oder sonst in Erfahrung gebracht? Ich versichere Sie nochmals, mein Herr, Sie werden mich entzücken, wenn Sie mir Gelegenheit geben, Sie unverzüglich in Freiheit zu setzen.«

Hartmut stutzte; er begriff sofort, daß ihm hier die Rolle eines politischen Angebers zugeschoben werden sollte, und entgegnete ohne Besinnen:

»Ich danke Ihnen herzlich, Herr Kapitän, für Ihre menschenfreundliche Behandlung und bedauere nur um so mehr, daß ich Ihnen über diesen Punkt gar keine Auskunft zu geben 366 vermag; meine wenigen Unterredungen mit Herrn von Jageteufel behandelten ausschließlich philosophische Gegenstände.«

Er stockte hier und errötete, denn er merkte, daß er sich bereits ein wenig von der Wahrheit zu entfernen begann.

Der Offizier beobachtete scharf jede Regung in seinen Gesichtszügen, lächelte überlegen und sagte:

»Es liegt meinen Dienstpflichten ferne, mich in Ihre philosophischen Überzeugungen eindrängen zu wollen. Nur will man beobachten, daß die berühmte deutsche Philosophie neuerdings anfängt, praktische Konsequenzen zu haben, und diese verlangen allerdings unsere Aufmerksamkeit. Eine solche bedenkliche Konsequenz ist es zum Beispiel, wenn ein philosophischer Kopf zum Erweise seiner Lehrmeinungen englische Waffen einschmuggelt und in den Stranddünen versteckt, um sie von dort aus heimlich im Lande zu vertreiben. Eine dahinlautende Anzeige ist mir soeben gemacht worden; ich zweifle keinen Augenblick an deren Richtigkeit und werde noch heute die mir bezeichnete Küstengegend persönlich durchforschen oder zum mindesten unter verschärfte Beobachtung stellen. Als Anstifter dieses landesverräterischen Unternehmens sind Sie, mein Herr, mir angegeben worden; Ihr anscheinend zweckloser Aufenthalt an diesem Orte, Ihr Umgang mit einem verdächtigen Menschen, Ihr öffentlicher Vortrag, der, laut Angabe rein wissenschaftlicher Natur, in Wahrheit nicht frei von moralischen und versteckt politischen Aufreizungen gewesen sein soll – das alles fällt schwer verdächtigend gegen Sie ins Gewicht. So liegt die Sache amtlich, und Sie sehen, sie liegt nicht günstig für Sie. Gehäufte Verdachtsmomente können einem Beweise gleich gelten. Gleichwohl bin ich selbst, wie gesagt, ganz anderer Überzeugung. Ich halte Sie im Herzen für vollkommen unschuldig und betrachte als den wahren Täter den mehrerwähnten Rittmeister von Jageteufel. Glauben Sie mir, ich vermute es nicht nur, ich weiß es. Um gegen ihn einzuschreiten, bedarf ich nur noch eines vollgültigen Zeugnisses; und das eben ist's, was von Ihnen, mein Herr, gewünscht wird. Geben Sie es, und Sie selbst sind gerettet, sind frei.«

367 Hartmut war blaß geworden und zitterte ein wenig, entgegnete aber dennoch schnell und bestimmt:

»Ich bin schlechterdings nicht imstande, ein derartiges Zeugnis abzulegen.«

Der Kapitän nahm eine strenge Miene an, verharrte jedoch in vollkommener Ruhe und Artigkeit.

»Ich begreife allenfalls Ihre Zurückhaltung«, sagte er, »Sie scheuen sich, durch Ihre Aussage einen anderen ins Unglück zu stürzen. Sehr edel, sehr achtungswert. Allein Sie übersehen die Lage noch nicht ganz. Es heißt hier nicht bloß: er oder Sie, sondern noch mehr, es heißt: er allein oder Sie beide. Das ist der Punkt, auf dem die Sache steht. Denn merken Sie wohl: durch Ihr Schweigen vernichten Sie sich selbst – jenen retten Sie doch nicht. Seine Schuld, seine Gefährlichkeit ist längst außer Zweifel; er ist nur deshalb noch in Freiheit, damit er sich desto schwerer belaste; für die Gerechtigkeit bedürfte es durchaus keiner Beweise, keiner Zeugnisse mehr. Einzig diesem Volke gegenüber will ich noch mehr haben, etwas ganz Festes, Tatsächliches, Unwidersprechliches; mit kurzen, abschneidenden Worten muß ich sagen können: Seht, das ist seine Schuld, das ist seine Strafe. Denn es gärt in diesem Volke; der Boden zittert leise unter unseren Füßen, es grollt über uns wie ein hangendes Gewitter, um uns her schleicht es im Finstern wie schlürfende Mördertritte – noch können wir sie niederhalten durch Strenge, aber einzig durch gerechte Strenge; ein Fehlgriff scheinbarer Willkür könnte einen Sturm entfesseln, den ich nicht verantworten mag. Es ist ein unheimliches, unberechenbares Volk, herb, trotzig, verschlossen, finster, kalt und unversöhnlich – oh, mein Herr, was haben Sie gemein mit diesem Volke? Wollen Sie blind sich opfern für seine Zwecke?«

›Ja, das will ich?‹ erklang eine rasche Stimme in Hartmuts Brust mit seltsamer Freudigkeit; und gleich darauf eine andere: ›Aber warum das? Was habe ich gemein mit diesem Volke? Warum? Warum?‹

Doch trotz dieser Frage antwortete er kurz und ohne Zögern:

368 »Ich habe keinerlei Aussagen zu machen.« Und es kam ihm selber vor, als habe er ohne vernünftige Überlegung, einzig aus einer wirren, trotzigen Laune so gesprochen.

Der Kapitän sprang auf, und seine Miene verfinsterte sich zu ernstlicher drohendem Ausdruck:

»Mein Herr«, rief er dringend, »Sie verkennen noch eines. Sie sind ein Rheinländer. Ich brauche ein Opfer zum heilsamen Schrecken für dieses Volk: wollen Sie mit aller Gewalt dieses Opfer sein, nun desto besser für mich! Denn täuschen Sie sich hierüber nicht: um eines Ausländers, eines Rheinbündlers willen ballt sich hier im Lande keine Hand zu rächender Tat; Sie können wir abtun nach Belieben und das Volk mit Schrecken schlagen, ohne den Gegenschlag fürchten zu müssen. Sie sind hier hilflos, ohne Freunde; ich kann Sie nicht retten, denn ich bin verantwortlich für die Sicherheit meiner Soldaten auf diesem unterwühlten Boden. Und zweifeln Sie nicht: es geht um Tod oder Leben. Wir brauchen ein Opfer.«

Hartmut lehnte den Kopf, noch tiefer erbleichend, gegen den Stuhlrücken hintenüber; eine Schwäche überkam ihn; Schweißtropfen perlten über seine weiße Stirn. ›Was ist das, was ich hier tue?‹ dachte er, ›ich bin von Sinnen.‹

Doch in weniger als einer Minute erholte er sich, und eine wunderliche Ruhe kam über ihn. ›Ja, was hilft das nun?‹ dachte er, ›ich habe mich verstrickt und kann nicht mehr zurück, sonst wäre ich ein Feigling.‹

Und er stand auf und sprach mit klangvoller Stimme:

»Verfahren Sie mit mir nach Ihrer Pflicht, Herr Kapitän.«

Der Offizier tat einen Schritt zurück und sagte kalt:

»Korporal, führen Sie den Gefangenen ab.«

Der riesige Unteroffizier trat schweigend herzu, und Hartmut schritt ihm fest voraus die Treppe empor zu seinem Kerker.

Der Korporal begab sich zu seinem Offizier zurück und sagte:

»Mein Kapitän, ich wollte es wohl übernehmen, den jungen 369 Herrn zum richtigen Geständnis zu bringen, wenn man mir einige Freiheit läßt. Sie haben ihn zu früh aufgegeben; seine Kraft war dicht am Versagen; packen wir nur noch eine Kleinigkeit fester zu, so haben wir ihn. Ich bitte um Ihren Befehl.«

Der Kapitän besann sich einen Augenblick, bis er entgegnete:

»Ihr mögt recht haben. Daß der Mann ein Hasenfuß ist vom Wirbel bis zur Zehe, lehrt ein Blick. Eben darum weiß ich, daß er das kecke Unternehmen nicht angestiftet hat. Und doch ist er auf irgendeine Weise eingeweiht, kein Zweifel. Es war ihm anzusehen. Er kämpfte. Es soll mir lieb sein, wenn Ihr das Zeugnis von ihm erlangt, schon damit wir aufhören können, ihn zu quälen, denn er tut mir leid, der arme Teufel. Er hat sich dennoch zum Bewundern gehalten. Tut, was Ihr wollt – aber auf Eure Verantwortung. Liefert mir den Jageteufel in die Hände, und ich will zufrieden sein. Ich muß etwas tun, meine Wachsamkeit zu zeigen, die Augen auf mich ziehen; ich mag nicht ewig in diesem verfluchten Neste festsitzen. – Habt Ihr den Diener Reff unter Augen behalten?«

»Zu Befehl, mein Kapitän. Ich gab den Torwachen Anweisung, ihn nicht aus der Stadt zu lassen. So haben wir ihn für alle Fälle bereit.«

»Gut«, nickte der Offizier. »Also – tut, was Ihr verantworten könnt. Ich trete sogleich meine Fahrt über das Haff an, um die Tatsachen zu erforschen.«

»Zu Befehl, mein Kapitän.«

Der große Korporal entfernte sich und eilte in die Wachtstube. Dort kommandierte er sechs Mann, mit blindgeladenem Gewehr auf dem Schloßhofe anzutreten, nebst einem Trommler, und dort seiner weiteren Befehle zu warten. Einige andere sollten in aller Eile im Schloßgraben ein Grab zu schaufeln beginnen; es brauche nicht eben tief zu sein; um so leichter sei es später wieder zuzuwerfen. »Und ich bitte mir aus, Kerls, daß ihr für alle Fälle euch ernst verhaltet; die Sache ist kein Spaß, wenn sie auch so aussieht«, fügte er 370 grimmig den Schnurrbart drehend hinzu. Die Soldaten grinsten oder machten dumme Gesichter, je nach ihrer Auffassungsgabe, und eilten, dem Befehle nachzukommen.

Der Korporal stieg mit zwei Soldaten die Treppe hinauf und trat in Hartmuts Gefängnis.

»Tun Sie Ihr Gebet«, sagte er kurz, indem er von seiner ganzen Höhe herab düster auf den Gefangenen niederblickte. Dieser sah ihn fragend an, nicht ohne einen furchtbar ahnenden Schauer zu empfinden.

»Ich habe Befehl, Sie binnen jetzt und fünfzehn Minuten füsilieren zu lassen«, erklärte der Korporal mit grauenhaft gleichgültigem Tone, »machen Sie sich bereit.«

Hartmut stand erstarrt, und die Knie schienen unter ihm brechen zu wollen.

»Es müßte denn sein«, fügte der Korporal ebenso gleichgültig hinzu, »daß Sie sich noch jetzt entschließen, das geforderte Zeugnis abzulegen. Für diesen Fall habe ich Befehl, die Leute mit dem geladenen Gewehr wieder abtreten zu lassen.«

Hartmut deckte das Gesicht mit beiden Händen; so stand er eine Minute lang gebeugt und wankend. Dann schienen seine Knie plötzlich zu erstarken, seine ganze nicht unkräftige Gestalt richtete sich straff empor, und er blickte dem riesigen Menschen kühn ins Gesicht.

»Ich habe meinen Aussagen nichts hinzuzufügen«, sprach er mit einer stillen Feierlichkeit.

»Ich habe Befehl«, äußerte der Korporal ohne jede Änderung im Ton, »Ihnen fünf Minuten Frist zu gewähren, um sich zu besinnen oder Ihre Angelegenheiten zu ordnen.« Er zog seine Uhr aus der Tasche und hielt sie in der Hand, das Auge stumm auf den Zeiger gerichtet.

Hartmut zögerte nicht, riß ein Blatt aus seinem Taschenbuche und schrieb einen kurzen Abschiedsgruß an Hildegard. Dann richtete er einen zweiten Zettel an Fräulein Lisbeth Hellwig und schrieb:

»Mein verehrtes Fräulein! Die Liebe zu Ihnen ist 371 es vielleicht allein, die mir die Kraft gibt, mit Ehren zu sterben, da es mir nicht vergönnt war, durch eine echte Tat meine Lebenswürdigkeit zu erweisen. Sagen Sie Ihrem Oheim, daß ich in wenigen schweren Augenblicken gelernt habe, mich mit seinen Preußen ganz eins zu fühlen. Ich wünsche sterbend, daß auch er eines Tages lernen möge, uns andere Deutsche zu verstehen. Möchte uns allen zugleich die Stunde der Befreiung schlagen. – Ihr Bild soll mich in meinen letzten Minuten begleiten; meinem Ideale bleibe ich treu. Es grüßt Sie für ewig

Ihr

Hartmut Hammer.«

»Ich vertraue Ihrer Ehrenhaftigkeit die Besorgung dieser beiden Schriftstücke an«, sagte er zu dem Korporal, »und ich stehe zu Ihrer Verfügung.«

Der Riese hieß ihn vorangehen und zwischen den beiden Soldaten in den Schloßhof hinabsteigen. Unten empfing ihn gedämpfter, schauerlicher Trommelschlag, und die sechs Schützen nahmen ihn in ihre Mitte. Hartmut marschierte fest, ruhig, aufrecht; er ging wie in einem wunderlichen Traume. ›Wenn dies vorbei ist‹, dachte er, ›so werde ich besser von mir denken dürfen.‹ Und weiter: ›Es ist gut, daß kein Wohlgesinnter mir zur Seite steht, es würde mich aus der wohltätigen Kühle des Empfindens aufstören.‹

Unvermutet fand er sich in der Tiefe eines breiten Burggrabens zwischen abgeschrägten Rasenwänden. Vor seinen Füßen sah er eine frisch ausgestochene flache Grube und dachte: ›Richtig, das soll mein Grab sein; so sieht also mein Grab aus; nach meiner Schätzung müßte es viel tiefer sein und breiter auch.‹

Und indem er weiter mit oberflächlicher Neugier die Umgebung betrachtete, fiel sein Blick auf einen Vogel, der sich eben auf einen Holunderzweig niederließ.

›Ei der Tausend‹, dachte er, ›es ist eine Grasmücke, und ich glaubte zuerst, es wäre eine Bachstelze; wie merkwürdig! Wenn das Tier nur nicht in die Schußlinie kommt; es kann 372 ja natürlich nicht wissen, daß diese flache Grube ein Grab vorstellen soll.‹

Weiter bemerkte er vor sich ein Wölkchen über den blauen Himmel schwimmend; auch das beschäftigte ihn lebhaft. ›Vielleicht werden wir heute abend Regen haben – wir – wir – wie sonderbar ist es, daß man sagen muß, dies Wir ist Unsinn, denn mein Ich wird nicht mehr dabeisein, das die Millionen Ihr erst zu einem Wir macht. Welche ungeheure Macht dieses kleinen Ich über die gesamte Schöpfung, daß mit meinem Tode in wenigen Minuten der gewaltige Begriff des Wir in der Welt ausgetilgt sein wird! Wie kann es ein Wir geben, wenn ich mich nicht mehr denke? Und was ist eine Welt, in der mein Ich sich nicht mehr denkt?‹

Und plötzlich hatte er ein Gesicht, als ob die ganze geschaffene Welt in Gestalt einer ungeheuren sonnbestrahlten Scheibe vor ihm in einen schwarzen Abgrund gerissen würde und mehr und mehr nur noch als ein flimmernder Stern aus geheimnisvoller Tiefe blinkte; er selbst aber stieg mit angstvoller Hast eine Leiter hinab in den bodenlosen Schlund, der sich unter ihm immer schauerlicher verengte, und er wußte genau, daß jede der Millionen Sprossen ein dürres, lebloses Ihr war, und daß er erst im allertiefsten Grunde das ersehnte seelenvolle Wir würde wiederfinden können.

Da knackte eine der Sprossen in einer sonderbaren Art, nicht wie Holz, sondern wie wenn man gegen Eisen schlägt, und auf einmal sah er den Abgrund wieder in weiter Ferne vor sich als ein kleines schwarzes Loch und alsbald daneben in einer Linie fünf gleiche Löcher, und er merkte, daß es die Mündungen der Gewehrläufe waren, die sich alle in starrer Gleichmäßigkeit gerade auf sein Auge richteten.

›Ach so‹, dachte er, ›sind wir schon so weit? Schlimmer als Pistolenmündungen sehen diese Dinger doch auch nicht aus; das ist ja ein Anblick, der sich wahrhaftig ertragen läßt. Gewohnheit ist schließlich alles: wer weiß, ob man sich zuletzt nicht auch an das ewige kahle Ihr gewöhnt?‹

»Ich habe Befehl, Sie noch einmal zu fragen, ob Sie 373 sich nicht etwa jetzt noch entschließen wollen, das verlangte Zeugnis abzulegen?« hörte er jetzt die rauhe Stimme des Korporals, aber wie aus weiter Ferne und wie eine Sache, die ihn gar nichts anginge. Es fiel ihm auch nicht ein, darauf zu antworten; vielmehr hatte er ein Gefühl wie eine höhnische Genugtuung, daß ihm jetzt kein Mensch mehr etwas anhaben könne, und daß der Herr von Jageteufel ungestraft seine kühne Tat werde zu Ende führen können. Und unvermerkt drängte sich doch ein lautes Wort auf seine Lippen, wie aus einer weiten Erinnerung langsam heranklingend, und er rief mit einer ihm selber unverständlichen Freudigkeit und in einem stillen, heiligen Eifer:

»Mit Gott für König und Vaterland!«

Und sobald er das ausgesprochen hatte, durchdrang ihn mit herrlicher Wärme ein vollquellendes Liebesgefühl zu dem neuentdeckten Vaterlande, für das er hier leiden und sterben sollte; und er schloß die Augen, um das aufströmende Wonnegefühl seiner letzten Sekunden ungetrübt zu genießen.

Da knackte wieder etwas wie Eisen, und er hatte gerade noch Zeit zu denken:

›Nun haben wir ja das ewige Wir gefunden‹, als seine geschlossenen Augen ein leichtes Blenden empfanden und fast gleichzeitig ein dröhnendes Knattern an sein Ohr schlug. Unmittelbar darauf vernahm er ein brutales Hohngelächter und die rohe Stimme des Korporals, der rief:

»Dieser Mensch ist wahrhaftig nicht totzukriegen; Soldaten, führt ihn hinauf in seine Zelle; es ist verboten, an einem Tage zweimal auf denselben Mann zu schießen. Morgen werdet ihr besser zielen. Soldaten, es lebe der Kaiser!«

Jetzt hörte Hartmut nur noch etwas wie ein angenehmes Rauschen im Ohr, als ob er langsam in eine weiche Flut hinabsänke, und dann ein Schaukeln, als ob die Wellen mit seinem Körper spielten, und als die Soldaten ihn hinaufgeführt und auf die Pritsche gelegt hatten, blieb ihm noch lange das gleiche freundlich-schwankende Traumbewußtsein, bis er endlich doch in einen tiefen, tauben Schlaf versank. – –

Zur gleichen Zeit glitt das leichte Boot, das den 374 Rittmeister, Ulrich und acht kräftige Ruderer trug, weit unterhalb der Stadt den Strom hinab, seinen Windungen durch üppiges Wiesenland folgend. Bald begannen breite Wasseradern sich von dem Hauptstrome abzuzweigen, immer häufiger zersplitterte dieser seine Fülle und floß im verengerten Bette still wie ein stehendes Wasser dahin. Die Ufer waren ganz niedrig; wer im Boote aufstand, konnte ohne Hindernis weit über die endlosen Wiesenflächen hinaussehen; der Boden quoll von Feuchtigkeit und nährte hohen, saftstrotzenden Graswuchs; von Zeit zu Zeit unterbrachen offene Wassertümpel, mit Schilf und Binsen bewachsen, den festen Rasengrund.

Bei einem einsamen Holzhause, an einem seitlich abliegenden Flußlaufe, hielten sie an und vertauschten ihr Boot gegen ein breites und schweres Fahrzeug, das der Besitzer ihnen nach einer kurzen, fast wortlosen Besprechung überließ, und fuhren schweigsam weiter. Mehr und mehr lockerte sich jetzt der Boden, durchsetzte sich mit einem Gewirr von Gräben und Teichen, löste sie ganz in eine Unzahl schwimmender Inseln auf. Zuletzt verschwand alles Feste unter der deckenden Flut: ein ungeheurer Binsenkamp leitete unvermerkt vom Lande ins freie Haff hinüber.

Hier tauchte fern über den Binsen ein weißlich schimmernder Streif empor, ein seltsames Gebilde, halb einem mächtigen Schneegebirge in verschwindender Weite, halb einer festgeformten Wolkenwand zu vergleichen, mannigfach gegliedert durch Kuppen und Zacken, Flächen und beschattete Schluchten, ein glänzender und rätselhafter Anblick.

Ulrich stieß einen Freudenruf aus.

»Die Dünen der Nehrung! Da endlich sehe ich sie wieder nach so vielen Jahren! Wie oft habe ich sie so im Traum gesehen, wie oft mich heimlich nach ihnen gesehnt und wie oft vergeblich den Leuten im Reich erzählt von den stillen Wundern des welteinsamen Wüstenlandes zwischen zwei Meeren! Denn wer, der es nicht mit Augen gesehen hat, vermag sich dies geheimnisvolle Gebiet auch nur vorzustellen, die stumme Erhabenheit der beweglichen Sandgebirge, die ewig stäubend, 375 ewig wandernd mit zäher Unerbittlichkeit das Land zertreten, meilenlange Wälder verschlingen und Dörfer unter ihren Sandwogen begraben? Und wenn ich erzählte von den einsamen Fischern dieser Nehrung, die jahraus jahrein dem fressenden Sande hier, dem Anprall der Wogen dort zu trotzen wagen und auf zwei stürmischen Wassern zugleich ihr mühsames Handwerk treiben: dann schüttelten sie die Köpfe und meinten einen Wunderbericht zu hören von den Schrecken der Eismeere zugleich und den Schauern der öden Sonnenwüste. Sie ahnen nicht, wie wunderschön diese wilden Dünen sind, und wie sehr man sie lieben kann.«

»Sie wissen auch nicht«, fügte der Rittmeister trocken hinzu, »was diese Fischer gelernt haben: daß man in der Welt ohne alles durchkommen kann, bloß nicht ohne Luft, ohne Wasser, ohne Vaterland und ohne kategorischen Imperativ. – In manchen Fällen ist auch ein Binsenkamp noch gut, wenn man Grund hat, sich vor lauernden Henkersknechten zu verstecken. Ich denke, hier ist eine gute Stelle, um die Nacht abzuwarten. Der Mondschein wird nachher immer noch heller sein, als wünschenswert ist, indes, man sieht doch nicht auf Meilenweite jeden Leinwandzipfel. Um Mitternacht spätestens sind wir bei diesem Winde drüben.«

Er lenkte das Boot in ein dichtes Binsengestrüpp hinein, und dort lag es, von den hohen Halmen verdeckt und überragt, wohl länger als eine Stunde. Nur wenn einer sich hoch aufhob, erblickte er über den Binsenköpfen den vielgestaltigen Zug der schimmernden Dünenkette, in tieferes Rot getaucht von der untergehenden Sonne.

Als die Dämmerung dichter schattete und der Mond golden ward, brachen sie auf und fuhren ins breite Haff hinaus den bleichen Sandbergen entgegen. Eine herrliche Luft umhauchte sie; der Wind war günstig und trieb das Segel schnell über die leichten Wellen, in denen die Mondstrahlen tausendfältig gebrochen sich spiegelten. Die weite Fläche war ganz unbelebt von Schiffen; nur östlich in der Ferne lag eine kleine Fischerflotte hart am Festlande, das dort zu steilen Waldhügeln sich hebend im dunkeln Umriß noch sichtbar blieb.

376 Es war noch beträchtlich vor Mitternacht, als sie der Stelle nahten, wo die nackte Düne an den bewaldeten Teil der Nehrung grenzte. Zu ihrer Verwunderung bemerkten sie am Ufer ein helloderndes Feuer und um dasselbe versammelt eine Anzahl dunkler Gestalten. Ein rauhes Signal scholl herüber, eine feierlich getragene Weise; bald erkannten sie den Choral: »Ans tiefer Not schrei ich zu dir.«

»Was haben die?« murmelte der Rittmeister nicht ohne Besorgnis; »da muß der Pastor sein Wesen treiben. Es muß etwas vorgefallen sein.«

Als das Boot ganz nahe gekommen war, daß man die Insassen vom Ufer aus erkannte, brach der Gesang plötzlich ab, und ein schallendes Jubelgeschrei begrüßte sie. Der Rittmeister hob sich schnell in die Höhe und gab, noch ehe er das Land betreten hatte, einige scharfe Befehlsrufe zurück:

»Stillgestanden! – Richtet euch! – Kopf in die Höhe! Hacken zusammen!«

Die Fischer fügten sich sofort verstummend in eine feste Reihe. Ein sehr alter Mann aber trat den Landenden zur Begrüßung mit Handschlag entgegen. Er trug einen schwarzen, hoch zugeknöpften Rock und einen großen Hut von geistlicher Würde, doch derbe Wasserstiefel an den Beinen und eine Flinte auf dem Rücken. Sein glattrasiertes, vielgefurchtes Gesicht sah mehr nach einem alten Seefahrer oder Lotsen aus als nach einem Geistlichen, der er war. Auch verschmähte er nicht, den Tabak im Munde zu wälzen und fleißig in die Runde zu spucken.

»Willkommen, Herr Rittmeister«, sagte er mit sanfter und salbungsvoller Betonung, »das Schwein erkennt man an den Borsten. Ich sah schon seit einer Viertelstunde Ihre Kopfbürste im Mondschein leuchten und erkannte Sie daran. Gott segne Sie, Lieber, daß Sie gerade heute sich in die Wüste begaben und unsere Einsamkeit heimsuchen. Denn hier ist heute der Teufel los.«

»Was ist geschehen?« fragte der Rittmeister aufmerksam und hastig, »was grölen die Leute hier um Mitternacht und stehen müßig ums Feuer, statt auf den Fang zu gehen oder 377 sich aufs Ohr zu legen? Und Sie selbst, Herr Pastor – doch Sie werden ein bißchen auf den Anstand gehen wollen.«

»Kein Gedanke!« versetzte der Pastor wehmütig, »unmöglich, ans edle Weidwerk zu denken – und Sie glauben nicht, wie schön die Böcke heut im Mondschein hüpfen werden! Aber meine Kerle reitet der Teufel, ich vermag sie nicht mehr zu bändigen, sie schreien, jetzt ginge es los, der Bonaparte wär wieder da, und sie müßten gegen die Franzosen ausrücken. Und sie wollen mit aller Gewalt gleich segeln und umbringen, wen sie finden. Darum lasse ich sie hier singen und Buße tun. Aber sie haben das Unglück schon angerichtet, die Teufelskerle. Sie haben heute am hellichten Tage ein Zollboot in Grund und Boden gesegelt und ein halbes Dutzend Franzosen ersäuft: und das alles bloß, weil sie den Teufel gesehen haben wollen und meinetwegen auch die hochselige Königin Luise. Denn das behaupten die Schwerenöter; und mag's nun wahr sein oder nicht, helfen Sie mir, Herr Rittmeister, diese Rotte Korah zusammenzudonnern, daß ihnen Hören und Sehen vergeht und sie es bleiben lassen, Krieg zu führen, ehe Seine Majestät, unser allergnädigster König uns beruft. Wollte aber Gott nur, das geschehe bald, denn ich möchte auch noch mitgehen und alles mit erleben; ich bin geboren im Jahre, als der große König den Thron bestieg, und kann doch nicht sterben, ehe Preußen wieder seinen rechten Stuhl unter den Völkern eingenommen hat. Aber wir müssen Geduld haben und stramm stehen, immer Gewehr bei Fuß.«

Der Rittmeister blickte erstaunt und fragend die Fischer einen nach dem anderen an; die senkten verlegen die Köpfe und stießen sich abwechselnd mit den Ellenbogen in die Rippen, bis endlich einer den Mut zu reden fand:

»Ja, sehen Sie, Herr Rittmeister, das kam so: weil unser zwei Boote unterwegs sind und Seite an Seite liegen, kommt uns von Pillau 'rauf einer entgegengesegelt, ein ganz kleines Ding, aber hübsch gebaut und ein fixer Läufer, und wie das ganz nah an unserem Steven vorüberschneidet, hol's der Teufel, gnäd'ger Herr, wir haben's alle gesehen, und es war 378 so: da steht die leibhaftige Königin Luise drin, lang und schlank an den kleinen Mast, genauso, wie sie ausgesehen hat, als sie noch lebte; denn es waren zwei unter uns, die sie gesehen haben, als sie bei unserer Gegend vorbei nach Memel geflohen ist, daß der verfluchte Hund Bonaparte sie nicht sollt lebendig kriegen, und die anderen kennen ja wohl gut genug das schöne große Bild von ihr bei unserem Herrn Pastor; und ganz besonders muß man sagen: so fein und blank sieht überhaupt kein anderes Frauenzimmer aus, und darum wissen wir's gewiß, daß sie es wirklich muß gewesen sein. Und zum letzten Zeichen saß ein Kerl bei ihr, der sah aus wie der Teufel, frech und eklig und mit 'nem Pferdefuß, so genau konnt man das alles sehen; und es ist auch der Teufel gewesen, wie meine Meinung ist; etliche aber sagen, der Bonaparte wär's gewesen, und bestreiten kann das ja auch keiner, obschon er sich in Rußland höllisch muß verändert haben, denn früher sah er ganz anders aus; aber bei den Russen soll ja wohl manches möglich sein. Na, das ist ja nu auch ganz gleich; das Untier aber hat mucksstill dagesessen und hat gebibbert und manchmal was von sich gegeben wie ein Mensch, der die Krankheit hat, aber die konnte ein Christenmensch bei dem stillen Wetter doch nicht kriegen. Also entnehmen wir daraus, daß es was Unnatürliches sein mußte, und daß ihn die Königin Luise abschleppte, um ihn in die See zu schmeißen oder meinetwegen irgendwo im Triebsand zu ersäufen, was für so 'ne Art auch wohl noch sichrer ist als das reine, klare Wasser. Und da dachten wir: Aha, nu gibt es Krieg! Denn sagen Sie selbst, gnäd'ger Herr, was sollte solch übermäßige Erscheinung und Wundertat wohl sonst bedeuten? Und daß es überhaupt bald Krieg gibt, das wissen wir ja alle; warum soll es also nicht heut schon losgehen? Einexerziert haben Sie uns, Herr Rittmeister, und unser Herr Pastor, und Gewehre wollen Sie uns auch verschaffen; also: Immer drauf! dachten wir. Und nu kommt da gar nicht lange danach ein verfluchtes Zollboot angezottelt, langsam, weil der Wind in der Stunde gerade ein bißchen abflaute, und hält fest auf uns zu und 379 will uns ansprechen. I den Deuwel, denken wir, obschon wir gerade nicht 'ne Kaffeebohne Konterbande an Bord hatten, was will der Hund? Wenn Krieg ist, hat hier im Lande kein Franzose mehr was zu suchen und auf dem Haff erst recht nicht! – Und etliche sind, die haben gerade in dem Augenblick die Königin Luise hoch oben auf dem Berge stehen sehen, den wir Kameelsrücken nennen, und soll halb und halb in der Luft geschwebt und mit den Kleidern geflattert haben, und hat ganz rot geblinkt von der Sonne, und mit den Armen hat sie gewinkt, womit sie nichts anderes meinen konnte als: immer feste drauf! Das teuflische Untier aber ist verschwunden gewesen. Diese ganze Sache habe ich nicht gesehen, weil nur die gottverdammten französischen Monturen schon im Auge saßen, aber von den anderen kann ich's bezeugen. Also wir, hast du nicht gesehen, alle Segel auf und alle Riemen eingelegt, beide Fahrzeuge zugleich; Hurra und Königin Luise! schreien wir, und bums, krach, ehe die Lumpenhunde noch recht merken, was los ist, knackt ihr nichtswürdiger Kutter auseinander, und sie zappeln alle im Wasser. Was ersoffen ist, ist ersoffen, wir können nichts dafür; Krieg ist Krieg, und für jeden Franzosen, der tot ist, bleibt vielleicht nachher ein Preußischer leben. Und wie sollen wir fertig werden mit ihren fünfmalhunderttausend lebendigen Kriegssoldaten, wenn wir nicht beizeiten anfangen mit Totschlagen?«

So erzählte der Fischer, und seine Kameraden gaben häufig durch lebhafte Gebärden ihre Zustimmung zu erkennen. Der Pastor wechselte mit dem Rittmeister verständnisvolle Blicke. Ulrich aber hielt das Gesicht abseits gewendet und blickte in mächtiger Erregung über die mondbeschienene Flut hinaus.

›Wäre es möglich?‹ dachte er, ›aber wie könnte das möglich sein? – Und doch, war das Wunder nicht zehnmal größer, da ich heimkehrend sie im Hause meiner Mutter fand? Habe ich da nicht lernen dürfen, an Wunder zu glauben?‹

Der Rittmeister stellte sich jetzt gerade vor die Reihe der Fischer hin, bannte jeden einzelnen mit seinem grimmigsten Blicke und begann erst nach einem langen Schweigen:

380 »Soldaten wollt ihr sein? Krieg wollt ihr führen? – Ich werde morgen gleich Seiner Majestät, unserem allergnädigsten König, Bericht erstatten und schreiben: Die Fischer von der Nehrung sind als Soldaten nicht zu gebrauchen, weil sie Esel sind und nicht zu gehorchen verstehen. Mag Eure Majestät dieselben als Lausejungen bei hochdero Schoßhunden anstellen; zu was Besserem taugen sie nicht. Dumm wie das Rindvieh sind die Kerle, sie können nicht mal gehorchen. – Marodeurs seid ihr, Seeräuber, Strolche, Kassuben, Ausreißer, weiter nichts. Ein Soldat, der ohne Befehl in die Schlacht geht, ist ein Ausreißer so gut wie einer, der ohne Befehl aus ihr wegläuft. Drei Stücke machen den Soldaten. Welche sind das? Erstens: Gehorsam. – Nachsprechen, Leute, laut und deutlich, alle zugleich!«

»Erstens: Gehorsam«, wiederholten sie nach der Vorschrift.

»Zweitens: Gehorsam.«

»Zweitens: Gehorsam.«

»Drittens: Gehorsam.«

»Drittens: Gehorsam.«

»So, und jetzt wird euch der Herr Pastor noch ein paar Übungen machen lassen, und dann kriecht in eure Löcher, bis Befehl für euch kommt. Und dann dürft ihr gehorchen.«

Er machte schnell einige Schritte seitwärts zurückweichend, und der Pastor trat sogleich an seine Stelle. Mit kräftig schallenden Befehlsworten ließ er die kleine Schar ihre kriegerischen Künste zeigen, marschieren, retirieren, schwenken und angreifen.

Der Rittmeister erklärte seine Befriedigung. »Das können sie«, sagte er; »wenn sie jetzt nur noch die Hauptsache lernen, wird es schon werden.«

»Wenn der Herr Rittmeister nur öfter kommen wollte«, sagte der Pastor, »da würden sie auch den Gehorsam besser lernen; alle vier oder sechs Wochen ist ein bißchen wenig, und die geistliche Hand ist nicht stark genug für kriegerisches Regiment. – Wenn ich nur besser fluchen und schimpfen dürfte, so wie Sie, Herr Rittmeister«, fügte er leise hinzu, »das verlangt dies Lumpengesindel; aber es steht leider nichts 381 davon in der Bibel. Und nun noch ein paar Worte für Sie allein und Ihren Herrn Seybold. Was Sie heute herführt, weiß ich so ungefähr; ich bin vorige Nacht auf denselben Pfaden gewandelt. Es wäre für Sie auch besser gewesen, schon gestern zu kommen; heute muß ich Ihnen doppelte Vorsicht anraten. Seit heut gegen Abend liegt etwas in der Luft; es ist eine stille Unruhe drüben von Elbing her; Boote und Lichter; entweder haben die verfluchten französischen Spürhunde Wind gekriegt von unserem Schweden, oder irgendein vermaledeiter Schuft hat aus niederträchtigem Zufall etwas bemerkt von der Dummheit mit dem Zollboot; windelweich prügeln möchte ich meine Halunken für den sinnlosen Streich. Aber soviel weiß ich; das Haff ist heute sehr unsicher für Sie: Sie dürfen nicht hinüber mit den Waffen.«

»Ja, aber was dann?« fragte der Rittmeister verdrießlich; »ich kann die Waffen nicht länger im Sande liegenlassen; ein tüchtiger Gewitterregen kann mir viel verderben, und schlimmer noch: der Teufel kann sein Spiel treiben, daß die Franzosen sie finden, wenn sie ernstlich suchen. Ich muß sie in bessere Sicherheit bringen.«

»Das sollen Sie auch«, versetzte der Pastor, »ich will Ihnen sagen, wie und wo. Sie nehmen Ihre Leute und fahren auf der Seeseite mit zweien oder dreien von unseren Booten, die dort liegen; wie weit ist Ihr Stapelplatz von hier?«

»Eine halbe Meile wird's sein«, sagte Ulrich; »zum Glück erkenne ich die Stelle auch von der See aus, obgleich unser Zeichen auf der Düne nach dem Haff hin geht.«

»Da ist's gut, daß Sie mit dabei sind«, bemerkte der Pastor, »also Sie verladen die Waffen und können noch allenfalls vor dem Hellwerden wieder hier sein. Geht irgend etwas schief, so bleibt Ihnen immer die Rückzugslinie nach dem Schweden. Sonst bringen Sie die Ladung hier unter.«

»Hier?« fragte der Rittmeister bedenklich, »wo haben Sie hier ein sicheres Versteck? Die Zollwächter schnüffeln überall, und ich fürchte, Ihre fromme Gemeinde ist schon nicht am wenigsten anrüchig.«

382 »Und dennoch weiß ich ein Versteck, das sicher ist«, entgegnete der Pastor mit bewegter Stimme und einem still-feierlichen Ausdruck in seinen gefurchten Zügen. »Sie kennen unseren Kirchhof; er liegt im Sande wie alles, was wir besitzen; die Düne stäubt über die Gräber hin und verschüttet sie langsam wie alles, was wir graben und bauen; alljährlich müssen wir die Hügel neu aufrichten, wer sie nicht versanden läßt. Wer weiß? In hundert Jahren mag eine neue Dünenwelle der gemeinsame Grabhügel für uns alle sein; und ich will mir kein schöneres Denkmal wünschen. Die Düne wandert über die Nehrung und versinkt im Haff, wie wir Menschenkinder unstet über die Erde wandern und zuletzt in die dunkle Tiefe der Ewigkeit versinken. Mein Weib liegt dort begraben seit dreißig Jahren; ihr Sarg ist längst so tief überweht vom wachsenden Sande, daß man wohl auf doppelte Manneshöhe hineinstechen könnte, ehe man ihn träfe. Ich habe das Grab aufgegraben und einen zweiten, gewaltigen Sarg hineingesetzt; und in diesem Sarge liegen die Waffen für mich und meine Gemeinde. Und darüber wölbt sich schön und neu der sandige Hügel. Glauben Sie nun, daß die Zollwächter auch wagen werden, unsere Gräber aufzureißen, wenn sie etwa Haussuchung halten? Aber was meinen Sie wohl, was werden die Franzosen für Augen machen, wenn einst in diesem Lande die Gräber sich auftun und Waffen gebären?«

Der Rittmeister erwiderte kein Wort hierauf, sondern schlang stumm die Arme um den Hals des alten Pastors und küßte ihn. Ulrich beugte sich nieder und berührte dessen Hand mit den Lippen.

»Wo ein Grab Eisen trägt, werden es auch andere können«, sagte derselbe abwehrend, »also bringen Sie nur Ihre Ware. Daß auf meine Kerle Verlaß ist, bezweifeln Sie nicht mehr nach dem, was Sie gehört haben: stehlen tun sie vielleicht das eine oder das andere Stück, denn diebisch sind sie alle wie die Raben, das macht die Gewohnheit des Schmuggelns; doch das tut nichts, es bleibt ja im Volke: ein Verräter ist nicht unter ihnen. Und gewöhnt sind sie an Heimlichkeiten 383 dieser Art und Ähnliches. So segelt auch heute nacht eine Dame mit ihrer Kammerjungfer nach dem Schweden hinüber; durch das Marktboot von Elbing her ist sie bei mir angemeldet. So etwas kommt vor in diesen Zeiten. Nach Reisepässen pflegen wir nicht zu fragen. Ist der Reisende und seine Absicht gut, so ist es Christenpflicht, ihm weiter zu helfen; ist er böse, so mögen wir froh sein, daß er aus dem Lande geht. Die Fährleute finden meist ihre Rechnung dabei.«

Ulrich vernahm diese Kunde mit heftiger Erregung.

»Herr Pastor«, rief er, »diese Dame – sie darf nicht abreisen. Ich beschwöre Sie, geben Sie den Leuten auf, sie nicht zu befördern, ehe ich zurückgekehrt bin. Es ist keine Gefahr dabei. Ich kenne die Dame und muß sie sprechen.«

»Kann geschehen«, sagte der Pastor kurz, »Sie werden wohl Ihre Gründe haben. Die Frauenspersonen können in meinem Hause warten. – Und jetzt kommen Sie in die Dünen.«

»Sie, Herr Pastor?« fragte der Rittmeister, »Sie wollen mit uns kommen? Das will mir nicht scheinen. Daß die Fahrt gefährlich ist, mag Ihnen nichts ausmachen, aber sie ist uns sündhaft und darum kein geistlich Werk.«

»Ei was«, brummte der Pastor, »wo Gefahr und Rehböcke sind, muß ich dabeisein. Und wenn es sündhaft ist, so ist Ihnen geistlicher Zuspruch erst recht vonnöten. Doch seien Sie getrost, in diesen Zeitläuften nimmt man's da oben nicht so genau wie Sie, Herr Rittmeister, mit Ihrem kategorischen Imperativ. Das weiß ich von Amts wegen, also kommen Sie nur. Es gibt Sünden, die unser gnädiges altpreußisches Gottchen gar nicht sieht.«

Der Rittmeister erhob keinen Einspruch weiter; er trat zu seinem Boote und hieß die acht Ruderer sich bereithalten, indes der Pastor mit seinen Fischern redete. Nach kurzer Rast und Erquickung im Pfarrhause brachen die drei mit ihren Leuten auf und wanderten durch knöcheltiefen Sand quer über den Dünenrücken des schmalen Landstreifens, um sich drüben wieder einzuschiffen.

384 Als sie an dem kleinen, sandüberwehten Kirchhof vorüberschritten, dessen kümmerliche, kaum begrünte und meist tief eingesunkene Gräber weißlich im Mondschein schimmerten, entblößte Ulrich das Haupt. Die Männer hinter ihm folgten seinem Beispiele, ohne nach einem Grunde zu fragen.

Sie erreichten die Höhe der Düne und sahen vor sich mondüberglänzt die feierliche Weite des Meeres. 385

 


 


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