Hans Hoffmann
Der eiserne Rittmeister
Hans Hoffmann

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Zweites Kapitel

Weitere Erlebnisse und Beobachtungen des fremden Philosophen. Blicke in das Vorleben des alten Rittmeisters und eines unbekannten Jünglings. Auferweckung eines Nachtwächters.

Als Hartmut völlig zu sich gekommen war, vernahm er außer einem allgemeinen gleichmäßigen Murmeln noch in einiger Nähe einen gewissen geregelten und unterbrochenen dumpf schnarrenden Ton, der sich bei genauerem Hinforschen als ein ruhevolles Schnarchen des auf einem Stuhle eingeschlafenen Küfers erwies. Er selbst aber rieb sich die Augen und kam nach Verlauf geringer Zeit auf die Vermutung, er möge wohl ebenfalls für ein Augenblickchen eingenickt gewesen sein. Und als er die Uhr befragte, mußte er sich mit der Tatsache abfinden, daß er mindestens zwei Stunden lang merkwürdig fest geschlafen habe. Auch schien ein Blick auf die geleerten anderthalb Flaschen Rheinwein der Tatsache nichts von ihrer inneren Wahrscheinlichkeit zu nehmen.

Etwas betroffen und verlegen füllte er sein Glas von neuem, als wenn nichts vorgefallen wäre; und wirklich machte er bald die beruhigende Wahrnehmung, daß sich keine Seele um sein Schlafen oder Wachen kümmerte.

Die Gesellschaft in dem Raume hatte sich inzwischen noch vermehrt: einige preußische Offiziere jüngeren Alters hatten an einem Tische zu seiner Linken Platz genommen, in einer lebendigen, doch nicht eben lauten Unterhaltung begriffen, mitten unter ihnen jener Franzose, mit dem er zuvor auf der Straße einen Gruß gewechselt hatte.

Dieser letztere warf soeben, nach Ton und Miene ohne besondere Absicht, in französischer Sprache die Bemerkung hin:

»Nun ja, ihr Preußen habt eure Partie nicht übel gewählt: 38 siegt Napoleon, wie Sie, meine Herren, und ich nicht bezweifeln, so habt ihr als Bundesgenossen Teil an Ehre und Ruhm; siegt aber dennoch Alexander, so ist's euer Freund, der es euch nicht schwer wird entgelten lassen. So könnt ihr freilich mit leichtem Herzen der Entwickelung des ungeheuren Dramas zuschauen.«

Kaum hatte er diesen Satz zu Ende gebracht, als sich am anderen Tische jener Rittmeister mit allen Zeichen einer grimmigen Erregung in die Höhe hob und sehr laut und heftig in deutscher Sprache zu reden begann, indes ihn sein schlotteriger Kumpan durch flehentliche Angstgebärden vergebens zurückzuhalten versuchte.

»Das ist zuviel, Herr Kapitän«, rief er weit vorgebeugt mit zornglühenden Augen, »das ist unwürdig, zum Schaden und Fluch den bittersten Hohn zu fügen! Doch freilich, ihr Söldner eures korsischen Zwingherrn werdet ja nie begreifen können, wie einem preußischen Herzen zumute ist, das grausam eingeklemmt sitzt zwischen zwei widerstreitende Pflichten, die Pflicht, seinem Könige zu gehorchen, und die Pflicht, seinem Vaterlande nach bestem Wissen zu dienen. Denn seinem Vaterlande kann in diesen Zeiten der nur wahrhaft dienen, der diesen Korsen und die Büttel seiner Tyrannei, die Franzosen, aus allen seinen Kräften, mit Wort und Waffen, redlich bekämpft; wer aber dieser Pflicht genügt, der verletzet gröblich die andere erste schlichte Pflicht des Gehorsams wider seinen König, der uns befiehlt, dem Räuber Freunde und Bundesgenossen zu sein. Das ist's, was unsere preußischen Herzen quält, verwirrt und erschüttert, daß wir nicht mehr wissen, wo aus noch ein, daß wir irre geworden sind an dem, was unseres Lebens Leuchte war, an dem großen Pflichtgebote Kants, davon eure arme Seelen zwar nichts wissen und nie gewußt: und das ist's, woran ihr doch zuletzt zugrunde gehen werdet, ihr und euer Kaiser; das wissen wir zwar, und mancher mag sich seinen Trost daraus holen: wer aber hilft uns jetzt aus dem Elend, daß wir täglich und stündlich die eine unserer heiligsten Pflichten verletzen, mögen wir uns stellen, wohin wir wollen, unter unseren König oder wider die Franzosen? Was 39 sollen wir also tun? Wo gibt's einen Ausweg aus dieser Zwickmühle? Ich freilich für meine Person habe ein Schlupfloch gefunden, das halbwegs einem Ausweg ähnlich sieht. Warum denn sitze ich hier in stumpfem Frieden und stehe nicht im Feld wie so mancher Kamerad unter russischen Fahnen gegen die Franzosen, das will sagen: für mein Vaterland? Darum nicht, weil all meine brennende Begierde mich dorthin unter die Waffen treibt, weil es mir Wollust wäre, zu kämpfen und zu bluten, und Qual ist, hier untätig zu vermodern, darum nicht! Gerade darum nicht! Denn Kant lehrt, daß nur derjenige ganz und wahrhaft sittlich handelt, der eine Pflicht erfüllt im Widerspruch mit seines eigenen Herzens Wunsch und Neigung. Darum ist es für mich die bessere Pflicht, blind meinem Könige zu gehorchen, weil sie hundertmal schwerer ist als die andere, fürs Vaterland zu kämpfen! So ist's um uns bestellt, solch ein ungeheurer Fluch ist auf jedes preußischen Mannes Gewissen und Ehre gelegt, daran wir täglich fast zu ersticken meinen – und dann kommt ein gedankenloser Leichtfuß und wagt, uns höhnisch zuzurufen: Ihr Preußen habt eure Partie nicht übel gewählt! – Aber wehe euch übelberatenen Bedrängern! Die Zeit kann nicht ferne sein, da wir in Wahrheit eine bessere Partie wählen, als die uns jetzt aufgezwungen ist, und dann erwartet alles, nur keine Treue von denen, die ihr so mitleidlos verspottet habt! Ihr habt unsere einfältigen Herzen in Verrat und Tücke hineingezwängt; wundert euch nicht, wenn ihr als die ersten diesem neugelernten Verrate zum Opfer fallt. Denn ich sage euch, es gibt im ganzen Lande Preußen keinen so armseligen Knecht, der euch nicht haßte bis zum letzten Blutstropfen und bis in den letzten Winkel seiner Seele hinein! Darum gebe ich euch hier der Wahrheit gemäß euren Spott zurück und sage: Ihr Franzosen habt eure Partie gar übel gewählt, so übel, daß kein hämischer Feind euch Schlimmeres raten könnte.«

Der einsame Zuhörer in der Nische vernahm nicht ohne stilles Grauen diesen leidenschaftlichen und rücksichtslosen Ausbruch eines ungebändigten Hasses und zitterte heimlich 40 vor den Folgen. Der Franzose aber bewahrte eine eiserne Ruhe und Gleichgültigkeit; nur ein bedauerndes Zusammendrücken der Augen und manchmal ein spöttisches Zucken der Mundwinkel verriet sein Verständnis der deutschen Rede. Sobald aber jener schwieg und sich setzte, stand er auf, bezahlte seine Zeche und äußerte, mit höflichem Gruße Abschied nehmend, gegen die Offiziere in französischer Sprache:

»Ich bedauere unendlich, des Deutschen nicht genugsam mächtig zu sein, um den gewiß sehr anziehenden und lehrreichen Erörterungen dieses Herrn in alle Teile folgen zu können; möglich auch, daß diese Unkenntnis weder für mich noch für andere bedauerlich ist.«

Nach diesen etwas dunklen Worten schritt er in ruhiger Haltung hinaus.

›Welch ein gesitteter Mann!‹ dachte Herr Hartmut, ›wie edel und wie überlegen seinem trüb tobenden Gegner!‹

»Versteht der Kapitän wirklich kein Deutsch?« hörte er jemanden fragen.

»Es ist seine Muttersprache«, entgegnete ein anderer, »der Herr Kapitän Schmälzle ist aus dem Elsaß.«

»Der Name scheint offenbar keltischen Ursprungs zu sein, romanisch klingt er jedenfalls nicht«, bemerkte irgendein Sprachgelehrter mit Lachen.

Die Offiziere redeten nun alsbald auf den unbedachten Sprecher ein, ihm ihre Mißbilligung maßvoll, doch deutlich zu erkennen gebend. Der Rittmeister schien jetzt wieder ganz seiner Herr geworden zu sein und erwiderte gelassen:

»Wohl dem, der schweigen kann in dieser Zeit, ohne mit sich selber uneins zu werden. Jeder nach seinem Glauben, seiner Lehre und seinem Gewissen. Mag sein, er hat mich nun ganz in seiner Hand – ich weiß, er hat schon lange ein wachsames Auge auf mich –, kann mich hängen lassen oder erschießen, wie er will. Ich aber weiß, mein Blut wird nicht nutzlos vergeudet, so wenig wie das Blut der Schillschen Helden umsonst geflossen ist. Jeder einzelne von diesen wird hundert oder tausend Franzosen sich ins Grab als Sühneopfer nachziehen. Der stumme Zorn des Volkes weckt hundert Kräfte 41 auf an Stelle der einen, die vernichtet ward. So diene ich auch dem Vaterlande, indem ich der Pflicht der Wahrhaftigkeit die Ehre gab und einmal diesen ewigen Bann der schweigenden Lüge brach. Mögen sie mich nehmen; ich bin bereit.«

Nach dieser Erklärung brach er ebenfalls auf und ging, sich ernsthaft vor den Kameraden verneigend. Sein Begleiter, der Küster, blieb sitzen und begann nun, sich selbst überlassen, erst recht sich im Nachäffen seines Herrn oder Schützers zu üben.

Es blieb zunächst eine bängliche Stille zurück; jeder der Gäste schien seinen eigenen sorgenden oder verwunderten Gedanken nachzuhängen. Endlich fing das Gespräch hier und dort wieder an, sich zur Lautbarkeit zu erheben.

»Ein gar wunderlicher Denker, dieser Herr von Jageteufel«, bemerkte einer der jungen Theologen, »man könnte sagen, er habe das Zeug zu einem Heiligen in sich, wenn er je in die Bahnen des rechten Glaubens käme.«

»Ei, dann wenigstens zu einem recht wunderlichen und streitbaren Heiligen«, rief ein anderer, »wie deren freilich die Ecclesia militans auch heute noch wohl gebrauchen kann; mich dünkt, die Leute nennen ihn mit bestem Fug den eisernen Rittmeister.«

»Ja, wie Gutes könnte er stiften«, seufzte ein Dritter, »wenn er das Heil nicht einzig von irdischer Weisheit erwartete. So aber fährt er blind umher, verwirrt die Köpfe und bringt einen neuen Geist unter die Leute, der nicht von Christo ist. Was hilft's, daß seine Meinung gut ist? Sie verstehen ihn nicht und drehen alles zum Übeln herum. Jüngst hat er sich sogar herausgenommen, an meiner Predigt herumzumäkeln, weil ich den Gläubigen nach den Worten der Schrift die himmlische Seligkeit verhieß als Lohn eines gottseligen Lebens in diesem irdischen Jammertal. Das heiße die guten Christen zu Mietlingen und Lohnlungerern herabwürdigen, sagte er. Aber was denkt er von diesem Volke? Wie soll das Christentum sich über sie ausbreiten, wenn es ihnen kein Himmelsmanna mehr bietet?«

42 »Ja, was bin ich, wenn ich meinen süßen Jesum nicht habe?« rief der Küster laut stöhnend von seinem einsamen Tische her: er hatte jetzt eine Flasche Wein vor sich stehen und trank in langen, ernsten Zügen. Niemand achtete auf ihn.

Hartmut lauschte von seiner Nische her mit starkem Eifer auf jene Reden; es drängte ihn ein lebhafteres Begehren, mehr von dem Manne zu erfahren, der, wie es sich hier kundtat, nicht ihm allein merkwürdig und vom Gemeinen abweichend erschien. Doch merkte er, daß die Gespräche der geistlichen Jünglinge schon wieder von diesem Gegenstande abzuschweifen begannen. Da faßte er in rascher Wallung einen Entschluß, dessen Ausführung ihm nicht leicht ward und vielleicht nur durch die mutstählende Wirkung des vielen Weines ermöglicht wurde, nämlich sich freimütig zu jenem Menschen, der ein Küster hieß, hinüberzusetzen und ihn über die Eigenart seines Meisters auszufragen. Die heimlich durchblickende ducknackige Art desselben flößte ihm zwar keine Neigung, aber ein gewisses Zutrauen oder doch die Dreistigkeit ein, ihn anzureden.

Er trat also hinüber, stellte sich als einen Fremden vor, der sich einsam fühle, und lud ihn ein, von seinem Weine mitzutrinken. Der Küster hatte kaum den bescheiden, ja schüchtern Auftretenden einen kurzen Augenblick gemustert, als sich eine rasche Wandlung in seinem Behaben bemerkbar machte. Er ward auf einmal ganz geistlich in Haltung und Redeweise und verstand es, seiner wunderlichen Gestalt eine Kraft gelassener Würde zu geben, die in Erstaunen setzen mußte. Es wäre unmöglich gewesen, den angebotenen Wein mit mehr Gleichmut und freundlicher Herablassung anzunehmen, als er es tat.

So saßen diese beiden Unbekannten beisammen und tranken ihren Rheinwein, der eine viel, der andere wenig; denn Hartmut begann jetzt eben leise zu verspüren, daß er für diesmal leidlich genug habe. Er ging aber mit seiner Frage ziemlich gerade auf sein Ziel los, da er keinen Grund sah, mit seiner unbefangenen Neugier hinter dem Berge zu halten.

»Ja, sehen Sie, Lieber«, beschied ihn der Tischgenosse, 43 »die Frage, wie unser Herr Rittmeister zu dem geworden ist, was er ist, das ist eine Frage – o eine Frage! Schwer, verwickelt, dunkel – und doch so einfach, ja, doch so einfach in ihrer Schlichtheit. So ist auch das Wort Gottes dunkel oft für den gelehrtesten Denker und klar, o so klar! für die einfältigen Herzen, so sie gläubig sind! Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Nämlich die ganze Geschichte mit unserem Herrn Rittmeister, warum er so verrückt geworden ist (Gott verzeih mir die Sünde! aber sonst so gut, o so seelengut!), die kommt zuletzt, mit richtigen Augen besehen, her natürlicherweise von einer unglücklichen Liebe.«

»Ei wahrhaftig!« rief Hartmut überrascht, »das sollte dem Manne heute wohl niemand mehr ansehen.«

»Sehr schön bemerkt, guter Herr«, nickte Herr Reff, »und wahr, o wie wahr! Und doch hat es alles seine natürliche Richtigkeit. Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt. Unser lieber Herr Rittmeister war durch Gottes unerforschlichen Ratschluß auserwählt zu einer unglücklichen Ehe, was ich zuvor mit dem Dichter in freier Gestaltung auch eine unglückliche Liebe nannte.«

»Ein trauriges Schicksal und wohl geeignet, Wunderliches zu erklären.«

»Traurig allerdings, o wie traurig! Sollte aber Gott nicht retten seine Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen? Das ist's! Eben das ist's! Auch ich war unglücklich in meiner Liebe.«

Hartmut ließ einen Laut bescheidener Teilnahme vernehmen.

»Glauben Sie es, Lieber, glauben Sie es!« fuhr der Redner fort, »ein Weib hat mich zugrunde gerichtet, aber der Herr hat mich wieder zu sich aufgehoben. Wie? Hätte mein unseliges Weib, die gleißende Schlange, nicht mit aller Gewalt die teuere Samtpellerine haben wollen, glauben Sie, ich würde mich je an dem geheiligten Schatz des Tempels vergriffen haben? So aber gewann Satan Gewalt über meine Seele, und ich nahm die dreißig Schillinge und kaufte den Tand der Eitelkeit für das infame Frauenzimmer (Gott habe sie selig! Der Herr hat sie nun zu sich genommen), und den Rest versoff 44 ich; und des Herrn Zorn ergrimmte über mich und jagte mich von Amt und Würden, und ich prügelte das Weibsbild, wie sie es verdiente, und ich saß da als ein Elender am Wege, hungrig und nackend. Aber unser Herr Rittmeister erbarmte sich meiner, denn er weiß, wie unglückliche Liebe tut. Das war mein Schicksal, guter Herr: schrecklich, o wie schrecklich! Aber glaubten Sie, ich wollte mich besser machen, als ich bin? Erbarm dich! Sollte ich etwa heucheln? Sollte ich leugnen? Sollte ich lügen? Das sei ferne von mir. Ich bin ein elender sündiger Mensch, aber der Herr wird nicht ansehen unsere Sünden, sondern hat mich gerettet aus dem Pfuhl um meines Glaubens willen.«

Hartmut fing an unruhig zu werden, der Mensch langweilte ihn.

»Und der Rittmeister?« fragte er etwas dringlich.

»Der Herr Rittmeister?« erwiderte Reff mit großer Würde, »ja, glaubten Sie, Mannchen, ich hatte den Herrn Rittmeister vergessen über meiner armseligen Person? Nimmermehr, o nimmermehr! Ihm freilich ist's so übel nicht geworden in der Welt wie mir, und dennoch übel genug; durchgebrannt ist ihm die Person, an die er sein Herz auf ehelichem Wege gehängt hatte. Natürlicherweise, es war ja 'ne Polin, und diese Bestien sind nun mal so. Unserem Herrn Rittmeister ist dieser Zwischenfall heftig nicht allein aufs Herz, sondern auch aufs Gehirn gefallen, so daß er angefangen hat, bei lebendigem Leibe und als königlicher Offizier den berühmten Philosophen Immanuel Kant zu studieren, von dem Sie vielleicht auch schon gehört haben, mein Herr, obgleich Sie hier fremd sind. Denn ein Zufall hat es gefügt, daß dieses Unglück mit dem Durchbrennen leider genau in demselben Jahre passierte, in dem dieser Professor Kant ein Buch verkaufte – erbarm dich, wie wird das Buchchen doch geheißen haben? Es kommt etwas darin vor vom kategorischen Imperativ, wie der Herr Rittmeister sich auszudrücken belieben.«

»Die Kritik der praktischen Vernunft«, belehrte Hartmut, »es war also im Jahre siebzehnhundertachtundachtzig.«

»Richtig! Sehr richtig! O wie richtig! Man könnte auch 45 sagen: vor vierundzwanzig Jahren, da hat's angefangen, daß etwas Unnatürliches in ihm spukte, wie alle seine früheren Herren Kameraden und andere Leute älteren Datums bezeugen. Schon damals soll er in seinem Regiment ganz erschrecklich rumort haben mit seinen Moralitäten und Sittengesetzen und hat ganz besonders seine Herren Vorgesetzten viel mehr noch als seine untergebenen Soldaten damit angeärgert, so daß sie ihm schon lange nicht grün gewesen sind, was ich auch keinem verdenken will. Darum hat er's auch nicht weiter gebracht als bis zum Rittmeister, denn warum sollten sie einen mit aller Gewalt noch befördern, den sie nicht leiden konnten? Sie hätten ihn auch wohl gerne ganz weggebissen, wenn sie ihm was hätten anhaben können. Aber zu fassen war er nicht, sein Sattelzeug war in Ordnung. Und nachher, als die Kampagne kam in Frankreich, da hat er's ihnen gezeigt! Der Jageteufel hier und der Jageteufel da: Wo mal recht ordentlich dreingehauen wurde, ist er allemal dabei gewesen. Hurra, der jagt die Franzosen zum Teufel! riefen die Soldaten, wenn er kam, und General Blücher hat ihm manches Mal freundschaftlich zugenickt. Sehen Sie, Herrchen, ich stand damals auch bei der Schwadron, und daher kennt mich der Herr Rittmeister und liebt mich, wie ich wohl sagen kann. Ich aber will kein unnütz Rühmen von mir machen, o nein! Nein! Mein weiches Gemüt war nicht geschaffen für die Donner des Krieges, es ging mir wider die Natur, das Mordgewehr zu zücken gegen einen Mitchristen, der mir nie ein Leides getan; ich fiel ins Gras vor Schauder, wenn ein Feind nahte, dem ich hätte an seinem Leibe Schaden tun können. Denn es steht geschrieben: Liebet eure Feinde, tut wohl denen, die euch hassen! Nach solchem Gebote tat ich. Sie aber legten mir's übel aus im Rat der Gottlosen und wollten mich stäupen; ich aber entwich in die Wüste, fastete und betete; danach ging ich als Kundschafter ins Land Kanaan, und um meiner trefflichen Dienste willen erließen sie mir das Böse, das sie wider mich ersonnen hatten. Der Herr Rittmeister war der erste, der mich freisprach, denn er sagte: ›Dieser Kerl hat aus freien Stücken seine Pflicht getan; das 46 ist mehr, als hätte er in der Schlacht gekämpft wie mancher andere, allein aus Furcht vor den Spießruten.‹ So ward er mein Retter, und ich diente ihm. Nachher aber ging ich und nahm das geistliche Gewand.«

»Und der Herr Rittmeister?« fragte Hartmut, »ward seine denkende Tapferkeit und Pflichttreue nach Verdienst belohnt?«

»Erbarm dich, Mannchen, wo denken Sie hin!« rief der Küster. »Der Gottlose drohet dem Gerechten und beißet seine Zähne zusammen über ihn. Aber natürlicherweise, unser hochseliger König wollte meinen Herrn Rittmeister erhöhen um seiner Taten willen und ihm einen Orden um den Hals hängen; er aber wurde ungebärdig und wollte nichts wissen davon und machte sonderbare Redensarten, daß er seine Tugend nicht belohnt haben wollte, weil das nachher keine richtige Tugend mehr sein würde, und stellte sich so bockbeinig an, daß der hochselige König ihm zuletzt mit Ungnade seinen Abschied gegeben hat ohne Beförderung. Sehen Sie, solch ein Mensch ist mein Herr Rittmeister schon damals gewesen, und das alles einem geschriebenen Buchchen zuliebe und wegen seinem kategorischen Imperativ.«

»Das muß entweder ein großer Narr oder ein großer Weiser sein«, bemerkte Hartmut nachdenklich. »Und wie benahm er sich weiter nach dieser Zurücksetzung?«

»Er kaufte sich ein Gut in Südpreußen, was jetzt wieder Polen ist, und wirtschaftete da einige Jahre. Da hat er lauter deutsche Arbeiter ins Land gerufen und die Polen zum Teufel geschickt. ›Ich will meinem Könige dies Land erobern helfen‹, hat er gesagt. Und der Herr segnete ihn zwiefältig wie Hiob, daß er kriegte vierzehntausend Schafe und sechstausend Kamele – verstehen Sie recht, Herrchen, erbarm dich! Es ist nur so mit der Schrift geredet; es werden wohl Gänse gewesen sein, und sechshundert tun's auch. Und er war herrlicher denn alle, die gegen Morgen wohnen. Ich aber blieb der Knecht Gottes und diente ihm in der Hütte des Stifts. Und der Herr Rittmeister kam damals schon sehr oft hier in die Stadt, weil seine Freundin hier wohnt, die Frau 47 Geheimrätin Seybold, und dazumal auch noch ihr sauberer Herr Sohn –«

»Seybold?« rief Hartmut überrascht und gespannt, »also auch zu diesem Herrn Seybold steht der seltsame Mann in Beziehungen? Sehr merkwürdig –«

»Bitte sehr, mein trautstes Herrchen«, unterbrach ihn der Küster, »da hat niemand etwas merkwürdig zu finden. Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen, noch sitzet, da die Spötter sitzen. Denn der besagte junge Herr Ulrich Seybold war damals noch ein ganz anständiger Jüngling, weil er nämlich von Natur noch gewissermaßen ein reines Kind war. Nachher natürlicherweise, da ist er verlumpt und vor die Hunde gegangen, wie wir zu sagen pflegen.«

Hartmut sah ihn sehr verwundert an. »Wie wäre das möglich?« fragte er. »Nach all meiner Kenntnis lebt dieser Herr seit Jahren als wohlangesehener Mann in Frankfurt am Main –«

»Ach, guter Herr«, beschied ihn Reff gelassen, »das mag ja wohl sein, daß einer da hinten in Frankfurt, wo ja wohl die Rheinbündler wohnen, noch sehr gut angesehen ist, indessen wir ihn hier schon für einen Lumpen betrachten. Indem nämlich anzunehmen ist, daß die anderen Rheinländer alle noch größere Lumpen sind: hierüber wird Ihnen der Herr Rittmeister gerne genauere Auskunft geben, denn er weiß es und versteht sich darauf, und Sie sollen ihn mit Gottes Hilfe mal schimpfen hören auf das Gesindel. Und den Ulrich hat er doch selbst zum Tempel hinausgejagt – damals, Anno sieben, als er aus dem Feldzug zurückkam. Oder meinen Sie wirklich, ich wüßte das nicht mehr wie heute? Denn natürlich ist der Alte wieder mit in den Krieg gegangen, nämlich nach Jena, denn vorher wollten sie ihn nicht haben in ihrem Hochmut, bis dann natürlicherweise ohne ihn die Karre schief ging. Und fragen Sie mal jemand von seinen Herren Kameraden, wie er bei Eylau eingehauen hat! Geholfen hat's freilich nicht mehr, denn der Herr hat unsere Waffen nicht gesegnet um unserer Sünden willen. Nach dem Frieden aber ist 48 die alte Geschichte wieder losgegangen mit den Orden und Ehrenzeichen, und General Blücher hat ihm höchstselbst einen Hansnarren um den anderen an den Kopf geworfen, und der König hat es zu wissen gekriegt und hat geschrieben: ›Kann keine philosophischen Offiziere brauchen.‹ Und damit war er wieder abgezäunt. Was sollen wir nun hierzu sagen? sagt der Apostel Paulus. Zu seinem Troste aber hat er dann mich ins Haus genommen und hat mich erfunden als einen getreuen Knecht. Und das Fräulein Nichte natürlicherweise wohnt auch mit uns zusammen und die Frau Geheimrätin im Hause nebenan mit ihrer Jungfer, aber der Garten ist derselbe, und so hausen wir alle miteinander in christlicher Gemeinschaft und aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit. Herr, wer wird wohnen in deiner Hütte? Wer wird bleiben auf deinem heiligen Berge? Und Sie wollen mir sagen, ich wüßte nicht, ob unser lieber Ulrich verlumpt ist oder nicht? Sehen Sie zu Ihren Worten, Herr, sehen Sie zu Ihren Worten! Mein Name ist Anton Reff, und ich bin ein Küster Gottes des Allerhöchsten.«

Er schwieg und tat einen langen Zug oder deren mehrere aus seinem Glase. Der junge Philosoph wollte eben in Nachdenken versinken über die vernommenen Dinge und manche Seltsamkeit in ihnen, als unter den Offizieren am Nebentisch ein lauter und fröhlicher Lärm entstand, einem allgemeinen Willkommrufen entstammend, das sich nach der Eingangstür richtete. Von dorther trat mit einiger Eilfertigkeit ein junger Husarenleutnant herein in reisemäßigem Aufzuge, noch bestaubt und erhitzt wie ein eben Ankommender.

»Also richtig!« rief er heiter, »hier findet man die Herren Kameraden vollzählig beisammen; gelobt sei mein sicherer Spürtrieb, der einen Jagdhund beschämen könnte.«

»Oho! von Damerow!« scholl es ihm entgegen, und schon schüttelten sie einander die Hände, »woher des Wegs? Aus dem Reich? Und dieses Mal bleiben Sie doch einen Rasttag bei uns?«

Der Ankömmling zuckte die Achseln. »Ein Stündchen, wenn ein Tropfen für mich übrig ist; Pferdewechsel und für mich ein Schlummerschoppen; der Schlummer schließt sich erst in Elbing 49 an. Estafette von Berlin nach Königsberg; sonst nichts Neues zu vermelden.«

»Auch nicht von der großen Armee?«

»Da sitzen die Herren hier näher an der Quelle; möglich, daß ich auf dem Rückweg von Königsberg etwas mitbringe. Bisher wissen wir in Berlin nur Gutes, will sagen Schlimmes: die Franzosen rückten vor auf Smolensk, und die Russen weichen, weichen immerfort – rückwärts, rückwärts, Don Rodrigo –, weiß der Himmel, wann der Umschlag kommen wird, und der muß doch kommen, muß, muß! Denn sonst –«

»Sonst«, fiel ein anderer grimmig ein, »werden die Offiziere des Königs von Preußen bald Monsieur Jeromes Badewein saufen müssen. Dabei fällt mir ein: halten es die Herren Kameraden für angemessen, Kamerad von Damerow mit unserem sanftmütigen Säuerling für seine Strapazen zu stärken? Die Franzosen haben freilich alle besseren Sorten ausgezecht, aber irgendeine kluge Seele wird doch ein und das andere Fläschchen edlen Gewächses in verborgenen Kellern durchgedrückt haben, und allenfalls hat unser dicker Wirt auch inzwischen Zeit gehabt, sich neu zu verproviantieren, und Geld obendrein: denn das ist doch einer, den die Kerle reich getrunken haben, wo alle anderen ausgeplündert sind – nun, zum Donner, bei mir langt's noch gerade zu einer Bouteille guten Champagners, und die soll dem Kameraden von Damerow zu Ehren ausgestochen werden. Heda, Wirtschaft!«

»Champagner?« warf der Herr von Damerow ein, »Kamerad, muß es gerade französisches Gewächs sein?«

»Mit dem wir den Franzosen ein Pereat trinken? Warum nicht? Zudem, was gibt's für Auswahl? Von Ihrem Gesichtspunkt aus wäre Rheinwein noch schlimmer – oder gibt es etwas Verächtlicheres in der Welt als die edlen Herren vom Rheinbund?«

Der Philosoph am Nebentische zuckte schmerzhaft zusammen und suchte sein Gesicht hinter den Flaschen zu bergen, als ob ihm seine Herkunft aus dem Westen auf der Stirn geschrieben stünde: es überkam ihn ein Mitleid mit sich selbst, der sich hier hilflos unter diese hochmütigen Barbaren verschlagen 50 fand. Bei dieser Gelegenheit bemerkte er, daß sein Genosse, der gewesene Küster Reff, zu dem er jetzt wie zu einem Schützer umblickte, den Rest der neuen Flasche in stürmischer Eile ausgetrunken hatte und eben im Begriffe stand einzunicken; er vollführte mit der Stirn die sonderbarsten Stoßbewegungen gegen Hartmut hin, als ob er auch seinerseits dem patriotischen Grimm gegen den Rheinländer einen kräftigen Ausdruck verleihen wollte.

Schon gedachte der Bedrängte seine Zeche zu erledigen und sich still dem Getümmel der kriegerischen Gesellschaft zu entziehen, als ein Name an sein Ohr schlug, der ihn noch einmal aufhorchen ließ.

»Wissen Sie auch, meine Herren«, rief die Stimme des zugekommenen Reiters, der sich inzwischen gesetzt hatte, »wen ich in Berlin getroffen habe? Sie, Lobedahn, müssen sich seiner noch gut entsinnen, und du, Kleist, erst recht; Sie, Herr von Grävenitz, waren damals noch nicht hier, ich meine vor Anno sieben – niemand anders als den tollen Seybold, Ulrich Seybold, wunderlichen Angedenkens.«

»Was der Tausend«, rief der Leutnant von Kleist überrascht, »der tolle Seybold lebt noch! Dachte wahrhaftig, der wäre längst gänzlich verkommen und verschollen.«

»Nichts weniger als das nach allem Anschein«, bemerkte Herr von Damerow.

»Um so besser! Wahrhaftig, es wäre auch jammerschade gewesen um den Prachtkerl, der er war!«

»Kamerad?« fragte der Grävenitz Angeredete, »Abschied? Schulden?«

»Nein, der tolle Seybold war noch kein Kamerad, war Anno sieben noch richtiger Pennäler, obgleich wohl an die zwanzig alt, faul wie die Sünde; ließen ihn aber gern mit uns kneipen: tüchtiger Kerl, ritt wie Seydlitz, soff wie ein Litauer; wollte durchaus eintreten bei Kavallerie; schwer zu machen, weil nicht von Adel; Oberst riet ihm: erst Schule absolvieren, nachher vielleicht sehen; hat der tolle Bengel gewiß und wahrhaftig den Oberst fordern lassen; Geschichte zum Glück vertuscht durch Kartellträger; Oberst wollte sich 51 totlachen, hatte aber doch Freude an dem flotten Jungen, hätte ihn gern genommen, denk' ich, wenn nicht zuviel dumme Streiche – soll sogar ein bißchen gewilddiebt haben –«

»Steht urkundlich fest«, bemerkte Leutnant von Lobedahn, »Anno sieben auf der Nehrung.«

»Ja, denken Sie, Kamerad von Grävenitz, was der verfluchte Kerl damals angegeben hat: auf eigene Faust Krieg geführt gegen die Franzosen – der reine Schill.«

»Was Sie sagen! Und was ist daraus geworden?«

»Leider nichts. Er war ausgerissen auf die Nehrung und versuchte dort die Fischer aufzuhetzen; dachte so ein kleines Freikorps zu bilden und um Danzig zu schwärmen wie Schill bei Kolberg; fiel den Fischern aber natürlich gar nicht ein, erklärten, zum Kriegführen hätte der König seine Soldaten, und sie wären zu gut zum Kanonenfutter; prügelten den Jungen ordentlich durch, als er ihnen zu scharf zu Leibe ging, ließen ihn aber ruhig sich herumtreiben im Danziger Stadtwald auf der Nehrung und kauften ihm das Wild ab, das er schoß. Das dauerte aber nur ein paar Tage, dann wollte er ihnen einen Strich durch die Rechnung machen: versuchte einen englischen Schoner, der stranden wollte, abbringen zu helfen: das erboste die Schufte, sie nahmen ihn gefangen und brachten ihn übers Haff, nach Elbing – den Schoner ließen sie nun natürlich stranden und haben ihren Profit glatt 'reingebracht.«

»Oh, die Halunken!« rief Grävenitz. »Und was wurde mit diesem – wie hieß er doch? – ah, Seybold?«

»Kam glimpflich davon diesmal, um des guten Zweckes willen – kriegte nur Schulstrafe – acht Tage Karzer, denk' ich – kam aber nicht vors Gericht. Konnte also getrost weiter Unfug stiften.«

»Ein Hauptkerl das! Aber warum ist er nicht Offizier geworden? Warum nicht bei der Artillerie? Solche Kerls können wir denn doch brauchen in Seiner Majestät Armee.«

»Vielleicht doch nicht. Der hätte nicht getaugt zum Offizier. Konnte nicht gehorchen. Konnte schlechterdings keinen Zwang vertragen. Tat immer das Gegenteil von dem, was einer 52 von ihm verlangte. Wahrhaftig, hätte ihm einer befohlen, er sollte faul sein und die Schule schwänzen – er wäre der fleißigste und ehrbarste Schüler von der Welt geworden; so aber verlangten die dummen Kerle, die Lehrer, das Gegenteil. Wenn wir ihn zu einem Spaß anreizen wollten, brauchten wir nur zu kommandieren, daß er ihn unterwegs ließe, dann hatten wir ihn am Bändel.«

»Ganz recht; auf diese Weise kriegten wir ihn auch zu der verdammt schönen Geschichte mit dem Spritzenhause.«

»Na, ich weiß nicht, die hatte er wohl, wenn mir recht ist, ganz von selbst ausgeheckt. Ein andermal aber – und das war das Verrückteste, was ich von ihm gesehen habe –, da war die hübsche Marjell, die Franziska, im ›König von Polen‹; die hetzten wir eines Abends, als wir den Kopf hübsch voll hatten, auf, sie sollte ihn mit Gewalt küssen. Das war ein Spaß für uns, weil er vor Frauenzimmern sehr blöde war; eine Merkwürdigkeit an ihm; sie mocht ihn gern, und er sie sicher auch, denn sie war ein allerliebster Käfer. Versuchten's also, hielten ihm die Hände fest und ließen sie anrücken. Jawohl ja! Hättet ihr sehen sollen, wie der sich wehrte und um sich hieb! Ließ wahrhaftig das Mädel nicht an sich kommen – keine Möglichkeit –, und das bloß, weil ihm sein Glück mit Gewalt geschenkt werden sollte. Würde wahrscheinlich auch eine Königskrone zurückgewiesen haben, hätte sie ihm jemand aufzwingen wollen.«

»Komischer Kauz das – und wie heißt die Geschichte mit dem Spritzenhause? Der Bursche fängt an, mich zu interessieren.«

»Er hat manchen anderen auch interessiert, von dem man's nicht hätte glauben sollen; die ehrsamsten Philister hatten ihn gern, natürlich, bis er ihnen selbst einmal ans Leder ging. Also die Geschichte mit dem Spritzenhaus; war in der Tat seine beste. Wir soffen mit ihm im Hinterzimmer vom Ratskeller; den verrückten Affen, den Reff, der damals noch nicht gestohlen hatte und noch Küster war – er war ja vorhin hier sichtbar mit dem eisernen Rittmeister: nein da sitzt die Bestie noch und schläft schon wieder einen Rausch aus –, den hatten 53 wir zu unserem Spaß hineingelockt und ihn schon sachte vollgefüllt; da kam der alte Pampel, der noch im Dienst ist und säuft – dem flößten wir Champagner in seine bewährte Schnapskehle, bis er lag und schlief wie ein Nachtwächter; darauf zieht der Schlingel, der Seybold, seinen ehrwürdigen Amtsrock an, Spieß und Horn natürlich mit einbegriffen, und machte sich in diesem Aufzuge auf die Straße, nachdem wir mit einigen sinnreichen Kohlenstrichen sein Gesicht unkenntlich gemacht hatten, so gut es ging. Dort fährt er auf den ersten Bürger, der friedlich nach Hause geht, los, bezichtigt ihn des Diebstahls, Einbruchs und wer weiß, was sonst noch für scheußlicher Verbrechen, und schleppte den Betäubten, Verschüchterten ab ins Spritzenhaus, wo er ihn einschließt, ehe der sich besinnen kann, daß hier doch nicht die Polizeiwache ist. Dasselbe Spiel treibt er mit einem halben Dutzend anderer Personen, die sich allesamt gehorsam und untertan der Obrigkeit einfangen lassen. Wie die armen Lämmer sich aber erst zu sechsen oder sieben wissen, kriegen sie ein bißchen Courage, es dämmert ihnen was, und sie fangen ein schauderhaftes Jammergebrüll an, daß die ganze Nachbarschaft allmählich aufgestöbert werden muß. Na, nun wird's natürlich Zeit, ein Ende zu machen – und der Seybold macht ein Ende mit Schrecken; er putzt den betrunkenen Küster Reff als Nachtwächter aus und legt ihn unter die Laube vor dem Bürgermeisterhause. Der Pampel aber wird als Küster verkleidet zum Pfarrhause geschleift und mit der Hand an die Klingel gebunden. Im halben Erwachen reißt er da so lange am Glockenzuge, bis der Herr Pfarrer im Schlafrock erscheint, die satanische Verwandlung seines ehrsamen Küsters entdeckt und selbstverständlich an Höllenspuk und Teufelswerk glaubt. Und dann stellen Sie sich die andere Bescherung vor, als der unglückselige Reff als Nachtwächter gefunden wird und die aus dem Spritzenhause erlösten Spießbürger auf ihn losfahren mit der höchst ungerechten Beschuldigung, sie widerrechtlich inhaftiert zu haben. Daß der feige Hund, der Reff, nicht gestorben ist vor Schreck, wird immer als ein Wunder Gottes zu preisen sein; und übrigens haben sie ihn bald laufen lassen, 54 denn die verständigen Leutchen kannten ihn gut genug, um zu wissen, daß er solcher Dreistigkeit nicht fähig war und daß andere dahinterstecken mußten, denen er so gut wie sie selbst zum Opfer gefallen war. Wer aber in Wahrheit nur der Anstifter gewesen sein konnte – na, das wußten sie alle so gut wie wir selbst; und eben darum wurde die Sache vertuscht und gab keinen öffentlichen Skandal; denn damals hatte die Canaille noch Respekt vor Seiner Majestät Offizieren; und bei dem tollen Seybold hatten sie wohl eine zarte Ahnung, daß er's ihnen bei Gelegenheit bitter eintränken könnte, wenn sie ihm diesmal auf die Finger klopften. Manche hofften wohl auch, er würde bald einmal noch etwas Schlimmeres begehen, so daß er dann gänzlich würde unschädlich gemacht werden können; und diese menschenfreundliche Hoffnung hat sie im Grunde auch nicht betrogen. Nicht allzulange danach hielt er's für nötig, seinem Rektor die Fenster einzuwerfen, fiel dem rachsüchtigen Pampel in die Hände und verschwand schon am anderen Tage in höchst geheimnisvoller Weise aus der Stadt. Einige meinen, der Jageteufel, der gerade hier anwesend war, habe ihm den Marsch geblasen.«

»Ein Teufelskerl, wahrhaftig!« rief der von Grävenitz, nachdem das Gelächter aller Offiziere sich ein wenig beruhigt hatte, »muß ja ein Stückchen Karl Moor in dem Jungen gesteckt haben – nun, und, Kamerad von Damerow, Sie haben den verlorenen Sohn jetzt wiedergefunden? Kam er etwa geradeswegs aus den böhmischen Wäldern?«

»Nichts in der Welt weniger als das«, entgegnete der Angeredete, »vielmehr aus der spießbürgerlichsten, ehrsamsten und duckmäuserigsten aller geldprotzigen Reichsstädte, aus Frankfurt am Main, woselbst er in aller Sittsamkeit und Gottgefälligkeit sich einem frommen Handwerk ergeben hat – Maurer, denk' ich oder Zimmerer ist er geworden – und abends in Züchten mit den Hühnern zu Bette geht. Denken Sie, war nicht zu bewegen, ein Gläschen Champagner oder Rheinwein mit mir zu trinken, machte Ausflüchte, sei keine schweren Weine gewohnt, rege ihm das Blut auf und mache ihm böse Gedanken – und was weiß ich? Kurzum, stocksteif, 55 Philister, Waisenknabe geworden! Sic transit gloria mundi. Der versucht keinen Aufstand auf der Nehrung mehr, weder gegen Franzosen noch gegen den Nachtwächter. Übrigens werden die Herren selbst Gelegenheit haben, den gebesserten Taugenichts zu bewundern; er ist auf dem Wege hierher, um als braver Sohn seiner Mutter seine Reverenz zu machen – nun, der verrückte Rittmeister muß ja seine Freude an solchem Musterknaben finden! Wenn er uns nur alle so dressieren könnte!«

Die Offiziere lachten und fuhren noch eine Weile fort, denselben Gegenstand zu behandeln, bis die Unterhaltung sich allmählich wieder auf andere Dinge und besonders auf die politischen Umstände und Napoleons Zukunft lenkte.

Hartmut aber versank nun wieder in Betrachtungen, die an die eben vernommenen Neuigkeiten anknüpften.

›Also solch ein Mensch ist dieser Seybold gewesen?‹ dachte er, ›ei der Tausend! Welch ein verwegenes Subjekt! Und auf so einen schlimmen Gesellen hat meine Schwester Hildegard in mehr als gewöhnlicher Weise ihr Herz gewandt! Es wird nötig sein, sie dringend zu warnen; oder sollte der angeblichen Besserung Glauben zu schenken sein? Immer bleibt von solchem Temperament Gewaltsames zu fürchten, naturam expellas furca, tamen usque recurret. Wie traurig aber, wenn Hildegards reine Seele schwesterliche oder gar heißere Gefühle an einen unwürdigen und ungezogenen Menschen verschwendete!‹

Diese Befürchtungen stimmten ihn trübe, und bald begannen auch die benachbarten lärmvollen Offiziere ihm als ein gar zu verwegenes Geschlecht zu erscheinen, und er beschloß, in aller Stille seinen Rückzug zu nehmen, da auch die Gesellschaft seines schlafenden Tischgenossen durchaus nichts Fesselndes mehr für ihn hatte.

Er winkte dem Küfer, um seine Zeche zu bezahlen; der aber weigerte sich, für die erste Flasche eine andere Bezahlung als ein geringes Pfropfengeld anzunehmen, da er bestimmt bei der Behauptung blieb, der Gast müsse sie mitgebracht haben. Dieser ließ es endlich dabei bewenden; ein unklares Gefühl hielt ihn ab, von dem Mädchen etwas zu erwähnen oder zu 56 fragen; er war in diesem Augenblick nicht so recht sicher, ob nicht etwa die ganze rätselhafte Erscheinung bloß eine üppige Rheinweinphantasie gewesen sei. Daß gerade die fragliche Flasche selbst deren Leibhaftigkeit bewies, war für seinen verworrenen Zustand vorerst noch eine zu verwickelte Logik.

In dumpfsinniger Aufregung trat er hinaus auf die nächtliche Straße. Die Stunden waren vorgeschritten, kein Leben oder Licht mehr sichtbar; aus dem wolkenlosen, doch immer noch dunstumflossenen Himmel schien der halbe Mond unsicheren Glanzes in die schlafende Stadt mit den leeren Bogengängen und den dunkel aufstrebenden Giebeln; eine ausgestorbene, vergessene Stadt.

›Hier bin ich zu Hause!‹ dachte er wehmütig, ›hier mit meinem kranken Herzen! Hier wohnt die Ruhe, die ich suchte, hier werde ich von Stürmen und Kämpfen fern den Frieden finden, der mich floh!‹

Einige Male noch ging er die tote Straße auf und ab; scharf und grell hallte der Ton seiner Schritte aus den schwarzen Höhlungen drüben zurück; sein einsamer Schatten wandelte als eine überlange, verzerrte Gestalt gespenstisch unruhig über den holprigen Boden; ein Gefühl, das dem herzbeklemmenden Nachtgrauen der Kinder sehr nahe kam, bemächtigte sich seines in Unordnung geratenen Geistes.

Gegenüber der wunderhaltigen Weinschenke, an der Stelle, von der aus er das fremde Mädchen zuerst erblickt hatte, stand er still und spähte mit unklarem Suchen hinüber; und siehe, dort oben im Giebel schimmerte hinter einem weißverhangenen Fenster ein einsames Lichtlein, wie ein geheimnisvoller Gruß und Wink für ihn als einen neuen Bürger der alten versunkenen Zeit.

Ein gellender Schrei riß ihn aus seinem dämmernden Sinnen empor; schaudervoll schnitt der gräßliche Ton in das weite Schweigen und hallte stöhnend in den öden Gewölben wider.

Dem Einsamen fuhr der Schrecken tief ins Mark; zitternd lehnte er sich gegen einen Pfeiler und überlegte, was ihm die 57 Menschenpflicht bei solchem rauhen Hilferuf zu tun gebiete. Dieser ward mehrmals dringlicher wiederholt; er kam, wie nun deutlich ward, aus einer Nebengasse.

»Unzweifelhaft«, so sprach Hartmut zu sich, »ist ein Mitmensch dort in irgendwelcher Not, wahrscheinlich aber von Bösewichten in feindlicher Absicht angefallen. Folglich ist es Pflicht, ihm zu Hilfe zu eilen. Hinwiederum aber ist zu bedenken, daß der Angreifer sicherlich mehrere sind, und zwar bewaffnet, bis an die Zähne bewaffnet. Folglich kann die Hilfe eines unbewehrten Mannes jenem nichts nützen, sondern vielmehr erst recht schaden, indem sie die Räuber zur Wut entflammt und veranlaßt, ihn umzubringen (dazu auch mich), da sie zuvor vielleicht ihm nicht nach dem Leben, sondern einzig nach dem Eigentum trachteten. Folglich scheint es ein weiserer Entschluß, vorher einen starken Beistand aufzusuchen, sei es nun ein Krieger, sei es ein Nachtwächter. Freilich ist einzuwenden, daß darüber einige Zeit vergehen dürfte, die unter einem Zusammenwirken ungünstiger Umstände dem Überfallenen so verhängnisvoll werden könnte, daß auch die beste Hilfe bereits zu spät käme. Andererseits jedoch, wenn ich sogleich dem Rufe nachgehe, die Unmöglichkeit meines Einschreitens erkenne und mich dann erst nach der Polizei umsehe, so vergeht selbst im glücklichsten Falle noch weit mehr Zeit – im unglücklicheren aber werde ich selbst erschlagen, und die Verbrecher vermögen, durch mich gewarnt, sogar zu entfliehen, ohne der strafenden Gerechtigkeit auch nur ein Anzeichen der Persönlichkeit zu hinterlassen. Folglich müßte, vorausgesetzt, daß nicht andererseits, was nicht ausgeschlossen sein dürfte . . .«

Soweit kam er mit seinen ernst zergliedernden Betrachtungen, und die Räuber mochten unterdessen die erwünschte Frist gewinnen, ganze Geschlechter schweigend abzutun; indem er sich aber dabei unwillkürlich immer tiefer in den Schatten der Wölbung zurückzog, stolperte er plötzlich über einen querliegenden, länglich runden Gegenstand und fand dadurch den Faden seines Gedankengespinstes jäh abgerissen.

Sich bückend, erkannte er schnell eine menschliche Gestalt, 58 die auf den rauhen Steinen gebettet ruhte, nur mit dem Kopfe bequemlicher gegen eine Holzstufe gelehnt. Ein schwarzer, weiter Mantel umhüllte die Glieder, die Rechte hielt eine altertümliche Waffe von der Gestalt einer Hellebarde fest umklammert; ein gewaltiges Jägerhorn schien an seiner Seite zu hängen.

›Ein Bürger des alten Jahrhunderts!‹ dachte Hartmut erschauernd; und dann wieder: ›Ein erstes Opfer jener mordenden Unmenschen!‹

Doch indem er sich mitleidsvoll tiefer beugte, vernahm er von dem Munde des Hingestreckten her ein so beträchtliches Schnaufen, daß er an seinem vollkommenen Leben durchaus nicht mehr zweifeln konnte. Er begann ihn vorsichtig ein wenig zu rütteln, erzielte dadurch jedoch nichts weiter, als daß sich das unbestimmte Schnaufen in ein deutliches und wohlgegliedertes Schnarchen verwandelte. Er arbeitete nun etwas kräftiger an dem Schläfer herum, zupfte, rückte, knetete, zwickte, stieß und wälzte ihn, alles jedoch in tiefem Schweigen, um nicht die Mörder herbeizulocken, bis der unbewegliche Mensch sich endlich rührte und mit einem dumpfen Grunzen oder Fluchen die Augen auftat. Diese Augen aber verrieten trotz der geringen Helle eine so grenzenlose Verschlafenheit, daß Hartmut nicht länger zweifeln konnte, er habe es mit einem Nachtwächter zu tun.

Eben wollte er sich deshalb, verzweifelnd an der Möglichkeit, ihn zu erwecken, nach einem anderen Beistande umsehen, als jener schreckliche Hilferuf von neuem ertönte und den müden Beamten mit staunenswürdiger Schnelligkeit nicht nur zum Erwachen, sondern auch zum Aufstehen brachte, obgleich er auch jetzt noch nicht unerheblich hin und wider taumelte.

Jetzt trat aus dem Schatten einer Seitengasse ein barhäuptiger Mann hervor, dessen Haare gleich kurzen Silberborsten im Mondschein schimmerten, blickte sich lebhaft nach allen Seiten um, entdeckte den Nachtwächter, der eben in die Helle hinaustrat, während Hartmut sich noch hinter ihm im Schatten hielt und eilte sogleich mit lautem Ruf auf jenen zu:

59 »Hallo, mein Herr Wächter!« schrie er ihn an, »also das ist wieder Sein Amtseifer, Seine Pflichttreue? Seit elf und einer halben Minute habe ich unausgesetzt Mordio geschrien, und wenn der Fall ein realer wäre und nicht bloß eine auf Seine schimpfliche Trägheit gemünzte Probe, was würde aus mir geworden sein in dieser schlafenden Stadt? Ausgeraubt wäre ich oder totgemacht, hier unter den Augen des Gesetzes! Und Er angebliches Auge des Gesetzes wüßte von meinen Mördern soviel wie vom Kant-Laplaceschen Weltsystem! Weiß Er denn, was Er getan hat in dieser langen Zeit, statt über unserer Sicherheit zu wachen? Geschlafen hat Er über unserer Sicherheit! Und nun gestehe Er: In welcher verruchten Schnapshöhle hat Er sich wieder um den kleinen Rest seines Verstandes getrunken, Er nichtsnutziger Pampel Er? Oder, was hat Er sonst zu Seiner Rechtfertigung anzuführen?«

Hartmut wich während dieser schroffen Ansprache immer tiefer ins Dunkel zurück, beschämt und ängstlich, gerade als ob er für die Sicherheit der Stadt verantwortlich sei; der Beamte aber senkte die Hellebarde demütig zur Erde und stotterte mit dumpfer und fast weinerlicher Stimme:

»Alle guten Geister – nu ist es wieder der Herr Rittmeister! Verzeihen Sie nur den grausamen Schreck, den ich kriege, Herr Rittmeister, aber ich dachte wahrhaftig, das letztemal, wo Sie mich abfaßten, sollte das letztemal gewesen sein! Und so wahrhaftig, es wäre auch das letztemal gewesen, und diesmal dürfen Sie einen armen Familienvater wirklich nicht ins Unglück bringen, lieber, guter Herr Rittmeister, denn es ist diesmal so gewiß nicht meine Schuld, daß ich einen Abzug geschlafen habe: ich nehme es nämlich auf meinen Amtseid, daß es nicht von dem bißchen Schnaps gewesen ist – du mein Gottchen, was tun denn zwei, drei solche Gläschen, wie sie jetzt ausschenken, einem Manne in Amt und Würden und noch dazu bei Nacht und Nebel? Nichts! Sondern es war ganz für sich allein von den grausamen Zahnschmerzen, die ich hatte.«

»Mensch, sehe Er zu seinen Worten!« schrie der Rittmeister, »vor Zahnschmerzen will Er eingeschlafen sein? Da muß Er 60 ja mehr als dreifach betrunken gewesen sein! Und das will Er eine Rechtfertigung nennen?«

»Jammernüchtern war ich, lieber, guter Herr Rittmeister, so wahr ich hier stehe und wache über der Sicherheit unserer Stadt; nämlich das kam so. Also ich gehe mit samt meinen Zahnschmerzen zum Herrn Stadtphysikus Gugelmann, weil ich's zuletzt, bei Gott, nicht mehr aushalten konnt; und der hat mir ja darauf auch ein Mittel gegeben, und das half auch; aber es half wieder viel mehr, als es helfen sollte. Es ist nämlich ein ganz richtiger Schlaftrunk gewesen oder Opium oder wie sie das nennen, und kaum bin ich wieder auf der Straße, da kommt's über mich mit einer solchen Molligkeit und Bewußtlosigkeit, daß ich allsogleich der Länge nach eingeschlafen bin und nicht mehr mucksen konnte. Und das müssen Sie nun selbst sagen, Herr Rittmeister, das war also nicht meine, sondern dem Herrn Doktor seine Schuld. Habe ich denn von ihm eine Bewußtlosigkeit verlangt? Gar nicht, sondern bloß die Zahnschmerzen wollte ich los sein. Für die Bewußtlosigkeit hätte ich einfach Schnaps genommen, das wäre billiger und schöner gewesen. Und denn ist so'n Schlaftrunk auch gleich so, das schmeißt einen um, man weiß nicht wie, und hilft kein Sträuben dagegen und auch kein katholischer Imperativus, wie Sie sagen, Herr Rittmeister, oder Vokativus, wie wir sagen –«

»Kategorisch! Kategorisch! Kategorisch!« verbesserte der Alte grimmig, »bin ich katholisch oder ist Er katholisch? Von Ihm sollte man's zwar fast glauben, denn die Hauptsache beim Protestanten, der Gehorsam von innen heraus, das freie Wollen des Gesollten, das fehlt Ihm! Der feste Blick auf den kategorischen Imperativ, der fehlt Ihm!«

»Ach, lieber, guter Herr Rittmeister, was glauben Sie wohl, daß alle diese protestantischen Geschichten gegen so 'nen Schlaftrunk helfen? Nicht mal gegen Schnaps, sag' ich Ihnen, nämlich wenn man die richtige Menge kriegt.«

»Da sitzt eben der Irrtum, Er elender Schwächling! Gegen alles kann man gewappnet sein mit dem Schwerte des Willens und dem Schilde der Pflicht, auch gegen starke Getränke 61 und narkotische Gifte. Wer nicht unterliegen will, der unterliegt nicht. Ich sage Ihm, mich soll kein Wein und kein Schnaps und kein Opium unterwerfen, wenn ich im Dienst einer Pflicht stehe. Töten kann mich das Gift, aber nicht vom Wege meines Willens ablenken. Das verbürge ich Ihm. Mag er mich auf die Probe stellen, wenn Er zweifelt.«

»Ach, na, lassen Sie man gut sein, Herr Rittmeister; ich will's ja gern glauben, von Ihnen nämlich, weil Sie nun mal so'n Imperativus sind, aber von keinem anderen Menschen auf der Welt, höchstens noch von dem Teufel selbst und dem Kaiser Napoleon, und ich bin doch am Ende auch bloß ein anderer Mensch.«

»Und wenn Er diese Seine klägliche Schwäche kennt, was braucht er dann solch nichtsnutziges Zeug zu schlucken, statt wie ein Mann Seine Schmerzen zu tragen? Ein Segen Gottes, wenn ein Nachtwächter Zahnschmerzen hat bis zum Brüllen, daß ihm das Einschlafen an jeder Straßenecke verleidet wird! Mit diesem Herrn Physikus freilich werde ich auch gelegentlich ein Wörtchen reden! Ist das eine Wirtschaft, einem Nachtwächter einen Schlaftrunk zu geben! Uns das Volk zu verweichlichen, statt es durch Schmerzen zu stählen! Verdammter Epikureer! Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte! sagt Kant. Himmeldonnerwetter, wie soll die Welt und Preußen bestehen, wenn das Schlafen der Nachtwächter allgemeines Naturgesetz wird? Warten Sie, mein Herr Physikus, das soll Ihnen nicht so hingehen, wir sprechen uns noch! – Er aber, Freund Pampel, stehe Er nicht so hundserbärmlich da! Kopf in die Höhe! Hacken zusammen! Und dann tue Er Seine Pflicht! – Versteht Er mich? Tue Er Seine Pflicht!«

Der gemaßregelte Beamte murmelte einige betrübte Worte, versuchte sich stramm in die Höhe zu richten und wollte sich entfernen. Der alte Rittmeister aber faßte ihn hart beim Kragen, drehte ihn wieder herum und herrschte ihn an:

»Hört Er denn nicht, daß Er Seine Pflicht tun soll? Ist er noch immer im Opiumdusel? Oder weiß Er nicht, was 62 jetzt Seine erste und nächste Amtspflicht ist. Er Schlafmütze, Er Siebenschläfer?«

»Aber ich gehe ja schon, Herr Rittmeister«, stammelte der Erschrockene, »und ich will ja so wahrhaftig jetzt alle meine kategorische und protestantische Pflicht tun; aber erst müssen Sie mich doch gehen lassen.«

»Ich ihn gehen lassen? Ich denke gar nicht daran. Hier hat Er Seine nächste Pflicht zu erfüllen, hier, gerade hier auf dem Fleck, auf welchem Er mit Seinen Glotzaugen mich stehen sieht, mich den Rittmeister a. D. August von Jageteufel, der Persönlichkeit nach bekannt – besinnt Er sich nun endlich auf Seine Instruktion?«

Der Wächter starrte dem also Redenden verdutzt und verständnislos ins Gesicht, bis dieser grimmig fortfuhr:

»So höre Er es denn, Er Spatzenhirn, daß Seine nächste verdammte Pflicht und Schuldigkeit ist, mich hier auf dem Fleck zu verhaften, mich der Polizeiwache zuzuführen, mich zu denunzieren: erstens wegen nächtlicher Ruhestörung. Zweitens wegen gemeinschädlichen Unfuges. Drittens wegen Beleidigung eines Beamten im Dienst. Merkt Er was, Er Jammermann? Ist Er ein Beamter im Dienst oder nicht? Ist Jammermann eine Beleidigung oder nicht? Sind Spatzenhirn, Schwächling, Schlafmütze Beleidigungen für ihn oder nicht? Wenn aber nicht, dann ist Nachtwächter eine Beleidigung, und ich sage Ihm gerade ins Gesicht: Er ist ein Nachtwächter! – Nachtwächter, tue Er Seine Pflicht und verhafte Er mich!«

»Bitte schönstens, Herr Rittmeister«, sagte der Beamte mit rasch verändertem Tone mutig und fast triumphierend, »dieses Mal sind Sie aber auf dem Holzwege. Diese sogenannte Pflicht habe ich nun aber gar nicht nötig. Wenn Sie doch selbst sagen, daß Sie der Herr Rittmeister von Jageteufel sind und ich das auch ganz von selbst weiß von wegen Ihrer Persönlichkeit, wozu brauche ich Sie zu verhaften? Vermelden muß ich Sie, ja, und denunzieren auch, das ist meine Christenpflicht; aber verhaften, wozu? Wären Sie etwa fluchtverdächtig? Mir nicht im mindesten. Nein, Herr Rittmeister, 63 glauben Sie mir, wegen der Fluchtverdächtigkeit nehme ich Sie noch ganz und gar von Kopf bis zu Fuß auf meinen reinlichsten Diensteid.«

Der Rittmeister schien durch diese Berichtigung ernstlich betroffen, versank im Nachdenken und murmelte halblaut vor sich hin:

»Hat recht, der Mensch. Und Opium – hm – bedarf der Probe. Macht des sittlichen Willens über Narkose festzustellen. Zweifle nicht, werde siegen. Werde es erproben. Werde ein Beispiel geben. Der verdammte Physikus soll mir morgen die Dosis bemessen.«

Dieses vertiefte Selbstgespräch benutzte der Nachtwächter, um mit einer Leichtfüßigkeit, die bei einem Manne seines Amtes weit die Grenzen des Hergebrachten und fast des Glaublichen überschritt, sich aus dem Staube zu machen.

Hartmut aber hütete sich wohl, von seiner Anwesenheit etwas merken zu lassen, schlich vielmehr sachte im Dunkel weiter und sprach zu sich selbst:

»Dieser preußische Rittmeister ist der vollkommenste Narr, der je in dem narrenreichsten Volke der Erde, dem deutschen, geboren wurde. Aber es mag sich lohnen, den Sinn seines Unsinns näher zu studieren.« 64

 


 


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